Wenn Angehörige pflegen: Verwandte Verantwortung
Rund vier Fünftel aller pflegebedürftigen Österreicher werden laut Sozialministerium zu Hause betreut, in circa 40 Prozent der Fälle sind das Angehörige. Viele davon kümmern sich um Menschen mit einer Demenzdiagnose. Eine Herausforderung, die die meisten unvorbereitet trifft.
"Pflege? Damit habe ich nicht gerechnet", das hat Birgit Meinhard-Schiebel, Präsidentin der Interessensgemeinschaft pflegender Angehöriger, schon oft gehört. Plötzlich stehen sich zwei Personen gegenüber, die beide überrascht sind - die eine von der Diagnose, die andere von der potenziellen Zukunft als Pfleger. Die bedrückende Frage lautet: "Wie geht es jetzt weiter? Autonomieverlust droht." Das muss nicht sein, meinen Meinhard-Schiebel und Monika Kripp, Vize-Präsidentin der Selbsthilfegruppe Alzheimer Austria, und verweisen auf die 2014/15 angestoßene österreichische Demenzstrategie (siehe: "Wie lebt man gut mit Demenz? Es fehlt an Forschung"), die das Thema strukturiert in Österreich verankern und Antworten auf anfänglich kaum lösbare Fragen anbieten soll.
Einiges ist im Zuge der Demenzstrategie bereits passiert, doch noch ist "sie nicht so dicht, wie man sich das vorstellen würde", erklärt Meinhard-Schiebel. Luft nach oben gibt es genügend, berichten die beiden NPO-Vertreterinnen. Österreichs Demenzstrategie sei eine gute, das werde auch international anerkannt. Nur fehle es an der passenden finanziellen Ausstattung und sie sei fast ausschließlich auf die Pflege ausgerichtet.
Das Thema Demenz sei in der Gesellschaft angekommen, doch es müsse weiteres, tiefergehendes Bewusstsein geschaffen werden. "In den ersten Stufen der Demenz kann gut gelebt werden - eine rechtzeitige Diagnose vorausgesetzt, damit eine schnelle, effektive Behandlung eingesetzt werden kann. Vergesslichkeit darf nicht zur Katastrophe werden", so Meinhard-Schiebel. Es müssen zudem die Möglichkeiten aufgezeigt werden, wie mit Assistenz gut gelebt werden kann. "Da geht es schon auch um Entstigmatisierung", meint sie. Ein Beispiel, wie es funktionieren könnte, ist für die Interessensvertreterin der Verein Promenz, der Demenz mit verschiedenen Angeboten und Aktionen in der Öffentlichkeit verstärkt sichtbar machen möchte.
Bewusstseinsarbeit hört nicht auf
"Es muss auch noch tiefer in das Bewusstsein, dass Demenz ein allgemeines, weitreichendes Problem ist, das sich nicht einfach auflösen wird", ergänzt Kripp. Es gebe jede Menge zivilgesellschaftliches Engagement; demenzfreundliche Bezirke, Gemeinden, Städte, betreutes Wohnen, Buddy-Dienste usw. würden im Zuge der Demenzstrategie ausgerollt. Das sei löblich und soll weiter intensiviert werden, komme aber noch zu wenig bei den Menschen an, macht Kripp noch einen Mangel an tiefergehender Aufklärung aus. Das Thema sei wohl medial breit angekommen, trotzdem würden die Services, Dienstleistungen und Angebote von den Menschen mit Demenz und deren Angehörigen noch zu wenig angenommen.
"Das gilt besonders für die ländlichen Regionen", ortet Kripp ein Stadt-Land-Gefälle. In den Städten würden die Möglichkeiten besser und stärker angenommen als am Land. "Natürlich ist das Angebot in ländlichen Regionen kleiner, gleichzeitig herrscht noch stark das Gefühl der Scham. Demenz ist noch immer tabu und wird 'privatisiert'", so Kripp. Das zögerliche Eingestehen, dass ein Angehöriger kognitiv eingeschränkt sei, mache es nicht einfacher, Hilfe adäquat und rechtzeitig anzunehmen. Das sei dahin gehend gefährlich, da "wir als Selbsthilfegruppe wahrgenommen haben, dass Angehörige, die nicht unterstützt werden, durch die Überlastung vermehrt erkranken oder psychische Störungen entwickeln. Sie nehmen schneller die Opferhaltung ein und beantworten die Sinnfrage häufiger negativ". Kripp wünscht sich, dass die Zahl der Angebote für pflegende Angehörige in den ländlichen Regionen zunimmt. Es zeigt sich nämlich laut den beiden Expertinnen wenig überraschend, dass die permanent überlasteten "Alleinkämpfer" in der Pflege schneller in den "Gewaltmodus" kommen: "Das ist ein gefährlicher Strudel, wenn die Signale ignoriert oder nicht rechtzeitig wahrgenommen werden."
Betroffene beraten Betroffene
In Österreich dagegen gebe es erfreulicherweise ein großes, ständig wachendes Angebot für Angehörige. Die Person mit der frischen Diagnose Demenz selbst ist dagegen keine Zielgruppe. Die Service- und Beratungssituation ist laut Kripp noch unzureichend.
Daher sollten die Angebote für solche Personen künftig verstärkt in den Fokus genommen werden. "Mit Demenz kann man noch einige Jahre gut leben. Man muss nur wissen, wie. Da braucht es eine gute Beratung - besonders von Personen, die die Situation aus eigener Erfahrung kennen", verweist Kripp auf das österreichisches Pilotprojekt "Peer-to-Peer, Betroffene beraten Betroffene" von Alzheimer Austria. "Im Bereich Demenz gibt es das kaum, das ist europaweit noch einzigartig", sieht Kripp eine Lücke. Im Besonderen gehe es darum, aus einer Innensicht Mut zu machen, nicht zu verzweifeln, Hilfe anzunehmen, offen mit der Diagnose umzugehen und zu vermitteln, weiter aktiv zu leben: "Isolation muss nicht sein."
Überhaupt wollen Menschen mit Demenz in die gesellschaftlichen Entscheidungsprozesse eingebunden werden. "Unter dem Motto 'Nicht über uns, nicht ohne uns' haben wir das auch in der Österreichischen Demenzstrategie eingefordert und durchgesetzt. Sie sind jetzt in den Arbeitsgruppen, die sie selbst betreffen, vertreten", erklärt Kripp. Dabei gehe es wieder einmal um die viel strapazierte soziale Teilhabe, aber "besser einmal zu viel als zu wenig" erwähnt.
Außerdem plädiert die Expertin für postdiagnostische Maßnahmen und führt das Beispiel Schottland an. Rund eine Woche nach der Diagnose Alzheimer besucht dort ein Experte die betroffene Person und schaut sich an, welche Angebote in welchem Umfang gebraucht werden.
Ein vermehrt zu bearbeitendes Betätigungsfeld macht wiederum Meinhard-Schiebel dahin gehend aus, dass die Fälle der Demenzdiagnosen in jungen Jahren zunehmen: "Diese Menschen fallen plötzlich aus dem System Arbeit und stehen hilflos und schuldlos vor den Scherben ihres Lebens. Die brauchen Hilfe."
Geld für die Pflege
Das Pflegegeld ist ein Dauerthema und wird es wohl auch bleiben. Zuletzt (Stand September 2019) erhielten 464.648 Personen die Geldleistung. Das Pflegegeld, das seit seiner Einführung 1993 rund 35 Prozent an Wert verloren hatte, soll laut einem Nationalratsbeschluss vom Juli ab dem Jahr 2020 jährlich valorisiert werden. Die Geldleistung wurde bisher erst fünf Mal erhöht, zuletzt 2016.
Kripp ist der Meinung, dass ein Deckel auf der Zahl der Pflegegeldempfänger ist, der oft verhindert, dass die Betroffenen objektiv richtig eingestuft werden. Das ergebe sich aus der Frage nach dem finanziellen Rahmen der öffentlichen Hand: "Will man noch einmal zusätzliche 100.000 Pflegegeldbezieher zulassen?" Daher seien ja die Zugangskriterien sukzessive erschwert worden. Derzeit würden die Pflegegelder wieder Zug um Zug leicht erhöht. Trotzdem würden die Betroffenen und ihre verwandten Pfleger kaum etwas davon haben, da das "Plus nicht annähernd kostendeckend ist", erklärt Kripp.
Demenz habe auch die Problematik, "welche zusätzliche Assistenz kann ich mir überhaupt leisten". Außerdem moniert sie, dass manche Angebote für die betroffenen Familien wenig flexibel und bedürfnisorientiert seien. "Angehörige sowie die Menschen mit Demenz selbst wünschen sie in der Regel eine Bezugspflege. Das wird noch zu selten angeboten." Letztlich sei das wieder eine Geldfrage. Um die finanzielle Frage wird man punkto Pflege angesichts der seit bereits langen Jahren thematisierten weiter zunehmenden Zahl an älteren Personen - und somit mehr Demenzfällen - nicht herumkommen. Da brauche es langfristiges gesellschaftliches wie politisches Commitment.
Kritik wird auch immer wieder an der Pflegegeldeinstufung von Menschen mit Demenz geäußert. "Die Diagnose Demenz wird gerne umschifft, um die Pflegegeldstufe zu drücken", erzählt ein pflegender Angehöriger aus eigener Erfahrung.
"Pflegegeldbegutachtung geht nie über die Diagnose, sondern nur darum, was braucht der Pflegebedürftige an Leistungsunterstützung - also um den Aufwand", erläutert Meinhard-Schiebel. Die IG pflegender Angehöriger spricht sich dafür aus, dass im Falle einer Demenz ein Facharzt beigezogen wird. "Die Pflegegeldbegutachtung muss bei Demenz anders ausschauen", so Meinhard-Schiebel. Das ist nicht vergleichbar mit anderen Pflegebedürftigkeiten, besonders was den Aufwand betrifft. Liege eine demenzielle Erkrankung vor, müssen auch die Angehörigen, die sich um den Betroffenen kümmern, bei der Begutachtung befragt werden.
Wo die Wissenschaft bleibt
Spielen wissenschaftliche Erkenntnisse bei der Pflege von Menschen mit Demenz eine Rolle? Nicht wenige Experten beantworten das mit "Nein oder zu wenig" (siehe: "Wie lebt man gut mit Demenz? Es fehlt an Forschung"). Monika Kripp sieht das nicht so dramatisch. Es fehlen nicht die evidenzbasierten Guidelines, verweist sie wiederum auf den österreichischen Demenzbericht und die Demenzstrategie: "Das Wissen ist da", es mangele noch an der politischen Umsetzung der Erkenntnisse und Ziele. "Hier gibt es den wirklichen Bedarf", meint Kripp.
Kritisch sieht Kripp, dass es in Österreich keine validen Daten gibt, um wie viele Menschen "es eigentlich wirklich geht". Will man Menschen mit Demenz in Zahlen gießen, findet man in Österreich ein Bandbreite von 100.000 bis 140.000 Personen (siehe: "Von A wie Alter bis V wie Vergesslich - ein Glossar der Demenz"). Kripp selbst glaubt, dass die Zahl noch höher liegt. Es mache wohl keinen Sinn, jede ältere "verwirrte" Person einer klassischen Demenzdiagnostik zu unterziehen. Doch in der Praxis zeige sich, dass rund 80 Prozent der Personen in Pflegeeinrichtungen eine demenzielle Erkrankung aufweisen.
"Wissenschaftliche Evidenz ist ein wichtiger Bestandteil, um Menschen mit einer Demenzdiagnose in der Pflege und Betreuung gut begleiten zu können. Sie muss allerdings so heruntergebrochen werden, dass sie nicht nur die Diagnose in den Vordergrund stellt, sondern auch den Umgang und die Begleitung durch den oft langdauernden Prozess. Viele pflegende Angehörige, aber auch Betroffene selbst erkennen erst sehr spät, dass es sich um eine demenzielle Erkrankung handeln könnte und welche Möglichkeiten vorhanden sind, um gut zu begleiten", erklärt Meinhard-Schiebel. Eine zu kleine Rolle würden die pflegenden Angehörigen noch in der wissenschaftlichen Aufarbeitung von Demenzen spielen. Gerade bei alleine gelassenen "Einzelkämpfern" sei die Gefahr groß, rasch in eine herausfordernde Situation zu kommen - bis hin zum Burn-out und zu "Gewalt in der Pflege".
Forschungsergebnisse müssten zudem sprachlich barrierefrei aufbereitet werden, so die Präsidentin der IG pflegende Angehörige. Es gebe bereits mehrere Kinderbücher, die sich verständlich mit dem Thema Demenz auseinandersetzen. Aber auch Erwachsene brauchen oft einen leicht verständlichen Zugang, um den neuesten Stand der Forschung überhaupt verstehen zu können. Ein gelungenes Beispiel ist für Meinhard-Schiebel das EU-Projekt SIDEcar, bei dem wissenschaftliche Erkenntnisse in einfacher Sprache vermittelt werden sollen.
Von Hermann Mörwald / APA-Science