Biotech - Leben als Technik
Gerade bei der Bewältigung großer technologisch-gesellschaftlicher Fragen suchen Wissenschafter sozusagen auf der Ebene des Allerkleinsten nach Lösungen. Auf den Erkenntnissen, in nahezu allen Bereichen der Lebenswissenschaften, fußen immer mehr Ideen, die zu biotechnologischen und in weiterer Folge wirtschaftlich relevanten Anwendungen führen können.
In Österreich kristallisierte sich neben einem bemerkenswerten Aufholprozess in der molekularbiologischen angewandten- und vor allem Grundlagenforschung auf dem wirtschaftlichen Sektor die sogenannte "Rote" oder medizinische Biotechnologie als Stärkefeld heraus. Der "Life Science Austria Report 2013" weist für alle 288 im Bereich Biotechnologie und Pharma in Österreich tätigen Unternehmen für das Jahr 2012 einen Umsatz von 10,3 Mrd. Euro aus. Mehr als 25.000 Menschen sind demnach in der Branche beschäftigt.
Diese Zahl setzt sich aus den Aktivitäten von 157 primär auf dem Gebiet tätigen Firmen und 131 in der Sparte spezialisiert tätigen Service-, Vertriebs und Zulieferbetrieben zusammen. Die im Auftrag des Wirtschaftsministeriums (BMWFJ) und des Austria Wirtschaftsservice (aws) erstellte Studie weist für die primär dort operierenden Unternehmen einen Umsatz von mehr als 5,1 Mrd. Euro und etwas über 18.000 Beschäftigte aus. Die größten Umsätze erzielen in dieser Gruppe die drei großen in Österreich operierenden Konzerne Baxter, Boehringer Ingelheim und Sandoz (Novartis), die Produktionsstandorte mit jeweils mehr als eintausend Mitarbeitern unterhalten.
Dynamische "dedizierte Biotechnologie-Unternehmen"
Besonders interessant, weil sehr dynamisch und forschungsaffin, ist die Gruppe der 95 sogenannten "dedizierten Biotechnologie-Unternehmen". Dahinter verbergen sich nach Definition der OECD Firmen, deren wesentliches Ziel in der Anwendung biotechnologischer Verfahren zur Herstellung von Produkten oder in der Bereitstellung von Dienstleistungen oder in der Durchführung biotechnologischer Forschung und Entwicklung (F&E) liegt. Hier dominieren Start-ups, die teilweise im Sog von international auf hohem Niveau agierenden heimischen außeruniversitären Grundlagenforschungsinstitutionen oder aus dem Umfeld von Universitäten und Fachhochschulen entstanden sind.
Auch hier dominiert die "Rote Biotechnologie", der 68 Firmen zuzuordnen sind. Lediglich acht Unternehmen haben industrielle Anwendungen ("Weiße Biotechnologie") und nur zwei Innovationen im Bereich Pflanzen ("Grüne Biotechnologie") im Fokus. 17 dedizierte Unternehmen passen in keinen dieser klassischen Biotech-Bereiche - es handelt sich laut der Studie um spezialisierte Zulieferer.
Gefüllte Pipelines
Gemeinsam ist den Firmen, dass sie sehr jung sind. Im Schnitt blicken sie nämlich auf lediglich acht Jahre Firmenhistorie zurück. Alleine 2011 wurden zehn und 2012 sieben einschlägige Unternehmen neu gegründet. Im Vergleich zu den Gesamtumsatzzahlen der Branche wirkt ihr Anteil mit 187,2 Mio. Euro (Stand 2012) auf den ersten Blick zwar bescheiden. Aufgrund der Tatsache, dass ihr finanzieller Erfolg oft auch eng damit zusammenhängt, wie gut sich etwa ein Wirkstoff in der klinischen Erprobung bewährt, könnte sich diese Zahl mittelfristig stark erhöhen. Bemerkenswert auch die Tatsache, dass diese Unternehmen etwa 70 Prozent ihres Umsatzes (131,8 Mio. Euro) wieder direkt in F&E investieren.
Allein 50 solcher Firmen listet der ebenfalls kürzlich veröffentlichte "Vienna Life Science Report" der Clusterinitiative "Life Sciences Austria Vienna" (LISAVienna) in Wien auf. Diese Unternehmen haben demnach momentan 22 potenzielle Arzneimittel in klinischen Studien (Anm.: Phase I-III zusammengenommen) und 33 Substanzen in der präklinischen Entwicklung. Beweisen sich diese Innovationen in den Studien, würden Lizenzgeschäfte im Umfang von 2,67 Mrd. Euro (Anm.: Stand ab dem Jahr 2008) automatisch schlagend. Über alle 68 österreichweit einschlägigen Firmen hinweg befinden sich aktuell 92 Substanzen in der Pipeline.
Etwa jeweils ein Drittel der Entwickler gaben an, biopharmazeutische Arzneimittel-Kandidaten und kleine Moleküle, die im Körper ihre Wirkung entfalten sollen, zu entwickeln, die auf Tumore oder Infektionskrankheiten abzielen. Acht Unternehmen arbeiten an Innovationen, die beim Bekämpfen von Erkrankungen der Atemwege eingesetzt werden sollen.
Wien als Wasserkopf
Wien ist mit 13.300 Beschäftigten und einem Umsatz von fast 6,1 Mrd. Euro im gesamten Bereich Biotechnologie und Pharma gewissermaßen ein Wasserkopf. Aber auch für Tirol (3.481 Beschäftigte, 1.132 Mrd. Umsatz), die Steiermark (2.300 Beschäftigte, 623 Mio. Umsatz), Ober- (3.960 Beschäftigte, 2.037 Mrd. Umsatz) und Niederösterreich (1.637 Beschäftigte, 192 Mio. Umsatz) weist der "Life Science Austria Report 2013" durchaus bemerkenswerte Zahlen aus.
Neben dem unternehmerischen Sektor wuchs vor allem in Wien ab den 1980er-Jahren der mittlerweile sehr forschungsaktive akademischen Sektor stark. Insgesamt 25 größere Forschungseinrichtungen zählt der "Vienna Life Science Report". An diesen fünf Universitäten, zwei Fachhochschulen und 18 außeruniversitären Institutionen arbeiten wiederum fast 14.300 Menschen - etwas mehr als die Hälfte davon sind direkt in der Forschung tätig. Im vergangenen Jahr entstanden dort 5.733 wissenschaftliche Publikationen.
Vor allem in der Grundlagenforschung wurden Einrichtungen wie das Forschungsinstitut für Molekulare Pathologie (IMP), das Institut für molekulare Biotechnologie (IMBA), das Gregor Mendel Institut für Molekulare Pflanzenbiologie (GMI) oder die Max F. Perutz Laboratories zu internationalen Aushängeschildern. Das hohe Niveau äußere sich unter anderem darin, dass 33 von 38 nach Österreich vergebenen hoch dotierten Förderungen des Europäischen Forschungsrats (ERC) in diesem Sektor an Wiener Forschungsinstitutionen gingen, wie LISAVienna anlässlich der Präsentation des Reports mitteilte. Ein Blick auf den Rest Österreichs zeigt, dass sich auch abseits der Bundeshauptstadt im akademischen Bereich sehr viel tut - sind doch fast alle forschenden Universitäten und mehrere Fachhochschulen in irgendeiner Form im lebenswissenschaftlichen Bereich engagiert.
Wien wieder Schauplatz von "BIO-Europe"
Als Hinweis darauf, dass sich in Österreich eine kritische Masse entwickelt hat, kann auch gewertet werden, dass Anfang November die größte europäische Biotechnologiemesse "BIO-Europe" zum zweiten Mal nach 2009 in der Bundeshauptstadt stattfindet. Dieses Branchentreffen "richtet nicht jede Stadt aus", erklärte der LISAVienna Co-Geschäftsführer Johannes Sarx, der die Messe kürzlich als "größte Leistungsschau der Biotechnologie in Österreich" bezeichnete.
Bereits im Vorfeld war klar, dass mit fast 1.800 Firmen und etwa 3.200 Teilnehmern aus über 50 Ländern ein Teilnehmerrekord verbucht wird, wie der Mitorganisator von LISAVienna, Jürgen Fuchs, gegenüber APA-Science erklärte. Ein starker Beweggrund für die neuerliche Austragung der Veranstaltung in der Bundeshauptstadt sei es, "Leute aus verschiedenen Erdteilen nach Wien zu holen und zu zeigen, dass hier vor Ort auch Biotech passiert", so Fuchs. Es biete sich die Möglichkeit, Wien und ganz Österreich als Hightech-Standort, an dem "hochgradige, wichtige Forschung" in dem Bereich durchgeführt wird, zu präsentieren.
"Bewusstsein" für die Branche
Insgesamt nehmen 117 heimische Biotech- und Pharmaunternehmen, einschlägig aktive Forschungseinrichtungen, regionale Clusterinitiativen oder Förderungsinstitutionen unter der Dachmarke "Life Science Austria - LISA" zu vergünstigten Bedingungen diese Chance wahr. Alleine aus Wien kommen mehr als 80 teilnehmende Institutionen, das liege auch daran, dass die Veranstaltung von der Stadt Wien "massiv unterstützt" wurde, so Fuchs. Die "BIO-Europe" sei ein Indiz dafür, dass die Politik hinter den Unternehmen steht und sich ein "Bewusstsein" für die Branche entwickelt habe.
Erstmals sind auch universitäre und außeruniversitäre Forschungsinstitutionen beteiligt. Die Universität Wien, das Forschungszentrum für Molekulare Medizin (CeMM) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), die Medizinische Universität Wien und internationale Institutionen präsentieren sich etwa im Rahmen des sogenannten "Academic Innovators"-Showcase. Zudem stellen sich insgesamt elf Wiener Grundlagenforschungsinstitutionen an einem eigenen Stand vor. Aus den Bundesländern sind beispielsweise die Biobank Graz und die Medizinische Universität Graz vertreten.
Gute Entwicklung mit Problemzonen
In Hinblick darauf, dass es durch die Finanzkrise wesentlich schlechter stehen könnte, zeigt sich Franz Latzko, Geschäftsführer des Verbandes Austrian Biotech Industry (ABI), mit der Gesamtentwicklung der heimischen Biotechnologie im Gespräch mit APA-Science einigermaßen zufrieden. Nach eigenen Angaben repräsentiert die ABI rund 95 Prozent der österreichischen Biotechnologie-Wertschöpfung. Der Experte streicht hervor, dass in Österreich die pharmazeutische Forschung und Überleitung in die Produktion gut laufe, hier spiele man global mit.
Allerdings gilt die Zufriedenheit nicht allen Bereichen gleichermaßen: "Der Enzymsektor im Bereich der weißen Biotechnologie entwickelt sich nicht so gut, wie wir uns das erwartet und gewünscht hätten. Der Bereich hinkt den Prognosen hinten nach - das hängt auch damit zusammen, dass der Ölpreis zwar steigt, aber nicht genug, damit das wirklich ins Rollen kommt", spielt Latzko auf den Preiswettbewerb zwischen nachwachsenden und fossilen Rohstoffen an. Nach Meinung von Experten könnte die weiße Biotechnologie, die mit Hilfe von Enzymen oder Mikroben aus Pflanzen Biosprit, Medikamente oder Grundstoffe herstellt, die Zukunft der chemischen Produktion darstellen.
Grüne Biotechnologie im Abseits
Die Grüne Biotechnologie spielt in Österreich praktisch keine Rolle. Zu negativ ist in der Bevölkerung der Begriff "Gentechnik" behaftet, als dass es hier ein Wachstum geben könnte, ist sich Latzko sicher. Dass es aus politischen und wirtschaftlichen Gründen darum keine Investitionen in den Bereich gibt, sei noch nachzuvollziehen. "Nahezu skurril" sei dagegen der akademische Rückzug von dem Thema. "Wie soll man über Sachverhalte diskutieren können, wenn sich niemand mehr im Land eingehend damit beschäftigt?", wundert sich Latzko: "Rein vom Forschungsstandpunkt in Hinblick auf die Thematik der nachwachsenden Rohstoffe her ist es, höflich gesagt, eine verpasste Chance."
Start-ups bräuchten noch mehr Unterstützung
Auch wenn sich auf den ersten Blick vor allem die Lage in der Roten Biotechnologie als weitgehend zufriedenstellend einschätzen ließe, könne dies nach Meinung Latzkos nicht über bekannte strukturelle Probleme wie kaum vorhandenes Risikokapital für Start-ups und Hürden beim Marktzugang hinwegtäuschen: "International gesehen könnte sich Österreich viel mehr vom Biotech-Kuchen abschneiden."
Die Forschungsförderung sei sehr gut aufgestellt, aber nur bis zu einem gewissen Punkt. "Gut gefördert werden Start-ups mit bis zu ein, zwei Mio. Euro. Damit ein Start-up es aber bis in die Nähe der Marktreife schafft, braucht es mindestens fünf Mio. Euro." Erst ab diesem Punkt der Unternehmensentwicklung würden aber Investoren einsteigen: "Das heißt, die Leute kommen in Österreich von der akademischen Seite mit aussichtsreichen Projekten, können noch eine Firma gründen und bleiben dann aber auf halber Strecke liegen. Das ist bedauerlich."
Die Forschungsförderung laufe derzeit auch Gefahr, "durch die Sparzwänge der Regierung einen Schaden zu nehmen“. In diesem Bereich müsse es signifikante Steigerungen bei der Dotierung der Fördertöpfe geben, sonst könnten wichtige Ziele nicht erreicht werden.
Neue Firmen gehen meist in Konzernen auf
Die Alternative für Start-ups, die weit genug kommen, ist für den Experten für Forschungsangelegenheiten der Chemischen Industrie in der Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ) vorgezeichnet. Latzko: "Man wird von finanzstarken Pharmaunternehmen gekauft und füllt dort die Pipelines. Das ist neben der Knüpfung von Kooperationen derzeit das überwiegende Geschäftsmodell in Österreich." Er will das nicht nur negativ verstanden wissen, denn es komme so ja auch viel Geld nach Österreich. Allerdings lasse das nur einen Verwertungskanal offen.
Für den Aufstieg eines Start-ups zum globalen Player fehle es in Österreich an Finanzierungsmöglichkeiten und an Mut. Man müsse sich darum kümmern, dass mehr Wertschöpfung im Land bleibe: "Wenn hier Firmen gegründet werden, dann muss man ihnen auch die Möglichkeit geben, groß zu werden, sonst erlangen sie im internationalen Konzert keine Bedeutung."
Von Nikolaus Täuber und Mario Wasserfaller / APA-Science