"Die Renaissance der Genetik"
Wir leben in der Renaissance der Genetik und der biologischen Forschung. Unser Wissen über fundamentale Vorgänge des Lebens und der molekularen Grundlagen von Krankheiten ist in den letzten Jahren förmlich explodiert. Diese Explosion des Wissens ging und geht Hand in Hand mit neuen Technologien, die es uns erlaubt haben, etwa Gene gezielt zu schneiden, diese in Minuten millionenfach zu vermehren, Proteine in Bakterien und Zellkulturen zu produzieren, oder etwa die Sequenz unseres Genoms innerhalb kürzester Zeit zu lesen.
Genetik wurde ja im alten Österreich von Gregor Mendel entdeckt, wohl eine der Monumentalleistungen der Wissenschaftsgeschichte. Mendel wurde nachher lange vergessen und ignoriert, da man die Basis dieser Vererbungslehre nicht finden konnte. In den 1920/30/40er-Jahren des letzten Jahrhunderts wurde man aber fündig: DNA wurde als das lang gesuchte Erbmaterial identifiziert. Watson und Crick lösten schließlich vor genau 60 Jahren die DNA-Struktur und die Idee wurde geboren, dass zwei DNA-Stränge mit komplementärer Struktur sich teilen und einer der Stränge die Information für neue komplementäre DNA-Stränge trägt. Damit wurde die molekulare Basis für identische Vererbung von DNA bei Zellteilung gelegt.
Obwohl man vor etwa 50 Jahren die Struktur der DNA kannte und wusste, dass diese die Erbinformation trägt, wusste man noch immer nicht, wie der genetische Code zu lesen sei. Dieser universale Code, welcher die Basis jeglichen Lebens auf der Erde von Viren, Bakterien, Pflanzen, Tieren, und Menschen ist, wurde später von Marshall Warren Nirenberg entdeckt. Dabei codieren immer drei DNA-Buchstaben, die Codons, für eine bestimmte Aminosäure, den Bausteinen der Proteine. Wenig später entwickelte Frederick Sanger eine "Sequenzieren" genannte Technologie, mit deren Hilfe man die Abfolge der insgesamt vier Ribonuklein-Buchstaben der DNA lesen kann, und für die Sanger auch den Nobelpreis bekam.
Als junger Student in Innsbruck und als Postdoctoral Fellow am Ontario Cancer Institute in Toronto Anfang der Neunzigerjahre habe ich noch selber diese Technologie mühsamst verwendet, um die Sequenz von Genen zu lesen. Das Sequenzieren eines einzigen Genes von etwa zwei- bis dreitausend DNA-Bausteinen war eine erstaunliche Leistung und mehr oder weniger eine ganze PhD-Doktorarbeit wert. Ich kann mich noch an ein Curriculum Vitae eines berühmten französischen Wissenschaftlers erinnern: Sein Ruhm war die Anzahl der von ihm gelesenen DNA-Buchstaben, insgesamt etwa 200.000 - sein Lebenswerk.
Um 1985 schlug Jim Watson, der Entdecker der DNA Struktur und die graue und oftmals nicht so graue Eminenz der Forschung, vor, das gesamte Genom eines Menschen zu sequenzieren. Der Vorschlag wurde oft belächelt und auf seine Sinnhaftigkeit hinterfragt. Ein internationales Konsortium fand sich dann doch zusammen, insbesonders da auch Craig Venter eine Firma gegründet hatte, die sich anschickte, es schneller und besser als alle anderen zu machen. Die Aktien dieser Firma mit Namen Celera erreichten damals auch erstaunliche Höhen. Da konnten die internationalen Institutionen und Elite-Universitäten nicht in der zweiten Reihe stehen bleiben. 2003 war es dann so weit: Bill Clinton gab bekannt, dass man den ersten „Draft“ des menschlichen Genomes, also der Sequenz der gesamten DNA Erbinformation, hatte. Dieser erste Draft dauerte 13 Jahre, involvierte 18 Länder, Hunderte von Laboren, Tausende von Wissenschaftern, und kostete etwa zwei Milliarden Dollar. Um diese enorme Arbeit zu veranschaulichen: Die menschliche DNA hat etwa drei Milliarden Bausteine, die man lesen und ordnen musste. Und als kleines Bonmot: die komplette aneinandergereihte DNA eines Menschen reicht 10.000 Mal zum Mond.
Heute kann man ein menschliches Genom in weniger als einer Woche für etwas weniger als 5.000 Euro sequenzieren und Forscher und Firmen arbeiten bereits am „1.000 Dollar Genom“ - einer Vision die sehr bald Wirklichkeit werden wird. Während noch vor 20 Jahren ein Student etwa ein Jahr Arbeitszeit brauchte, um etwa 3.000 DNA-Bausteine zu sequenzieren, kann nun eine Maschine 3 Milliarden Bausteine in einer Woche lesen, etwa 300.000 Bausteine pro Minute - das Lebenswerk eines Forschers.
Die Konsequenzen dieser Technologien betreffen etwa in der Medizin „vorbeugende genetische Diagnose“ und „persönliche Medizin“. Die DNA-Sequenz hat zum Beispiel gezeigt, dass wir Menschen zu ungefähr 99,9 Prozent die identische Sequenz haben. Das heißt also, dass in den restlichen 0,1 Prozent eventuell Anfälligkeiten für Erkrankungen wie Krebs, Arthritis, Asthma, oder Herzversagen gefunden werden könnten. Dies wird etwa in Island bei Tausenden von Leuten mit seit der Besiedlung bekannten Familienstammbäumen gemacht. Eine andere Population für diese Studien sind Südtiroler, welche manchmal Stammbäume und geografische Isolationen bis zurück zur Völkerwanderung aufweisen. Bei einer von Google-Gründer Sergey Brin finanzierten Firma kann man sich diese genetischen Anfälligkeiten innerhalb kürzester Zeit analysieren lassen. Im Übrigen gibt die menschliche DNA keinen einzigen Anhaltspunkt für Rassen - das heißt, genetische Forschung hat diesen Lehren den finalen Todesstoß gegeben.
Diese Techniken haben auch die Wissenschaften fundamental geändert. Man kann nun Fragen zum Verständnis der menschlichen Evolution stellen. Dabei findet man, dass 70 Prozent der Fliegengene auch bei Menschen bekannt sind. Je ähnlicher eine Spezies ist, desto größer werden diese genetischen Ähnlichkeiten. Dies ermöglicht es, in anderen Organismen nach menschlichen Krankheitsgenen funktionell zu suchen, etwas was in unserem Institut IMBA, dem nun größten Institut der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, gemacht wird. Es wird auch gerade ein „Cancer genome atlas“ entwickelt, in welchem man versucht, alle Mutationen verschiedener Krebsarten bei Menschen zu identifizieren, um damit die genetische Basis für Krebs besser zu verstehen.
Zuletzt werfen diese Technologien und diese Wissensexplosion natürlich auch ethische und gesundheitspolitische Fragestellungen auf. Was ist eigentlich ein Mensch, wenn wir zu 70 Prozent Fliegen ähnlich sind und aus virtuell jeder Menschenzelle nun eine Stammzelle und damit einen – identischen Menschen - „machen“ könnten? Kann es sich eine Gesellschaft und das Gesundheitswesen überhaupt leisten, dass wir 10.000 Krankheitsgene kennen und jeder seine individuelle Medizin haben will? Sollen Gensequenzen wie die des Spanischen Grippevirus öffentlich via Internet zugänglich sein? Eines ist jedenfalls gewiss: Die letzten Jahre haben die vielleicht größte Revolution in unserer Forschungsgeschichte gebracht, die Möglichkeit, Leben genetisch zu verstehen und damit auch genetisch zu verändern.
Wir stehen aber erst am Anfang dieser Entwicklungen, die auch uns es erlauben werden, Erkrankungen besser zu verstehen und völlig neue Medikamente biotechnologisch zu entwickeln. Die letzten 50 Jahre haben uns unerhörte Erkenntnisse in der Biologie gebracht, die nächsten 50 Jahre werden noch viel spannender: etwa wie Epigenetik unser Leben bestimmt, welche wunderbare Symbiosen wir täglich mit den Milliarden von Bakterien in unserem Darm eingehen, oder wie wir Stammzellen und Körperzellen programmieren können, um etwa die defekte Haut von Schmetterlingskindern oder Herzen nach dem Herzinfarkt zu reparieren.
An unserem Institut IMBA wurden in den letzten Jahren zwei Stammzelltechnologien entwickelt, die radikale neue Wege in der Forschung erlauben. Dies ist die Entwicklung von haploiden Stammzellen - Stammzellen mit einem Chromosomensatz, die es uns ermöglichen, innerhalb kürzester Zeit die molekulare Nadel im gesamten genetischen Universum zu finden. Was ganze Firmen in Jahren gemacht haben, können wir nun in Wochen - viel genauer und billiger - in unseren Zellen erforschen. Jürgen Knoblichs Gruppe am IMBA gelang es vor kurzen, die ersten menschlichen Mini-Brains, komplexe 3D-Hirn-Organoide, aus einer Stammzelle zu ziehen. Diese Methode erlaubt es erstmals, die Entwicklung des menschlichen Gehirns in Zellkulturen zu studieren, und ermöglicht es eventuell, Erkrankungen wie Parkinson oder Epilepsie besser verstehen zu lernen. Diese beiden transformativen Technologien wären die perfekte Grundlage, auch in Österreich ein Stammzellzentrum zu entwickeln.
Wir haben gezeigt, dass wir in der Champions League der Forschung mitspielen können. Nun ist es an der Regierung, die Strukturen zu schaffen, dass aus unserer Topforschung Exzellenzzentren des Wissens und aus diesem Wissen neue Firmen und biotechnologisch entwickelte Medikamente entstehen. Wissenschaft schreibt die schönsten Geschichten, unsere Entdeckungen wecken Hoffnung, wir forschen für die Menschen - man muss uns endlich nur die finanziellen und langfristigen Grundlagen geben, dass wir diese Erwartungen auch erfüllen können.