"Das Phänomen Pilz und unsere Geschichte"
Jede Beziehung hat eine Geschichte. Sie hat irgendwann und irgendwie angefangen. So ist es auch bei den Pilzen. Unsere Beziehung zu ihnen begann vor hunderttausenden, ja, wohl schon vor Millionen von Jahren, als unsere Vorfahren noch viel affenähnlicher waren. Bären und andere Wildtiere in unseren Wäldern lieben Pilze - warum hätten es unsere Vorfahren nicht tun sollen?
Bei Menschen kam im Gegensatz zu den Tieren ein entscheidender Faktor hinzu: Die aufkeimende Spiritualität mit den bekannten Fragen, die uns bis heute beschäftigen: "Woher kommen wir?", "Wohin gehen wir?" und "Was können wir gegen die Angst vor dem Tod tun?". Ein Aspekt dieser spirituellen Entwicklung war der Schamanismus. Die Frage nach Essbarkeit und Verwertbarkeit der Pilze stand zwar seit Urzeiten an vorderster Stelle, doch nun kam die Frage hinzu, wie man sich mit Hilfe von Pilzen in spirituell entrückte Zustände versetzen kann. Die magic mushrooms sind wahrlich keine Erfindung der Hippie-Generation...
Der Frühmensch hat seine religiösen Vorstellungen auf Felsen- und Höhlenmalereien auch künstlerisch ausgedrückt, wobei Pilze schon seit langem ihren Platz auf diesen Darstellungen fanden. Irgendwann haben unsere Vorfahren auch die bewusstseinserweiternde Wirksamkeit von Pilzen entdeckt, um bei spirituellen Sitzungen, bei Befragungen der Geister und Toten, beim Rätselraten über das Schicksal eines Kranken im Sinn eines Orakels effektiver agieren zu können.
Greifbare Beweise für die Nutzung der Pilze durch Menschen werden allerdings erst für die letzten 20.000 Jahre sichtbar. In der El Mirón-Höhle in Kantabrien (Spanien) fanden Wissenschafter einen Schädel mit einem Gebiss, das spannende Geschichten über Pilze zu erzählen hat. Er lieferte den Beweis: Bereits im sogenannten Magdalenian, einer Epoche der Steinzeit zwischen 18.000 und 12.000 v. Chr., nutzten Menschen die Pilze intensiv auf diese und jene Weise. Mikroskopische Untersuchungen von Ablagerungen auf den Zähnen dieser Schädel verraten viel über die Ernährungsgewohnheiten der Menschen jener Zeit. Die unter dem Hochleistungsmikroskop gefundenen Sporen deuten in Richtung von Dickfußröhrlingen der Gattung Boletus - das ist jene Verwandtschaft mit bis zu 50 Arten, Varietäten und Formen in Europa, zu der auch der Steinpilz gehört.
Und auch die berauschenden Wirkungen des Fliegenpilzes (Amanita muscaria) waren den Steinzeitmenschen bekannt, wie die Funde beweisen. Ihre Spuren fanden sich ebenso auf den Ablagerungen der Zähne. Viele Wissenschafter sehen im Fliegenpilz überhaupt das älteste bewusstseinsverändernde Mittel in unserer Geschichte, die älteste Droge, die schon lange vor der Erfindung des Gärproduktes Bier verwendet wurde.
Apropos Bier: Auch die Bierproduktion bedeutet die Nutzung eines Pilzes. Vor grob gerechnet 12.000 Jahren, als der Mensch als Nomade durch die Lande zog, nutzte er gelegentlich die Körner von Wildgetreide, die er mit harten Gegenständen auf flachen Steinen zertrümmerte oder zermalmte, um sie leichter verwerten zu können. Etwas von diesen Wildgetreideresten blieb unbeachtet liegen, bis der nächste Regen einige Tropfen Wasser auf sie fallen ließ. Eine Zeit lang gärte es: Das Bier war geboren!
Die Menschen konnten von der neu entdeckten gelblichen Flüssigkeit gar nicht genug kriegen. Um den Durst danach effektiver stillen zu können, geschah etwas Bahnbrechendes: Man rodete ein Stück Wald und begann Getreide anzubauen. Man wurde sesshaft, um auf die neuen Felder aufzupassen - und um mehr Bier herstellen zu können. Erst danach, sozusagen als Nebenprodukt dieser ganzen Entwicklung, folgte das Brot.
Je näher wir uns in Richtung Gegenwart bewegen, desto klarer werden die Hinweise. Die Mensch-Pilz-Beziehung wird wahrscheinlich gar nicht intensiver. Wir wissen nur mehr darüber.
So hat beispielsweise der Ötzi, der Gletschermann aus dem Ötztal und die bestuntersuchte Mumie der Welt, oder genauer seine Reiseapotheke, viel über Pilze zu erzählen. Der etwa 5.300 Jahre alte "Mann im Eis" trug zwei Birkenporlinge (Piptoporus betulinus) bei sich, die er möglicherweise wie eine Art "Teebeutel" und als Desinfektionsmittel verwendete.
Zu den ältesten Kulturzeugnissen der Beschäftigung der Menschen mit Pilzen zählen Felsenmalereien von Tschukotka im äußersten Nordosten Russlands, die Menschen darstellen, über denen schematisierte Pilze schweben. Sowohl Datierung als auch Interpretation fallen schwer. Manche Ethnologen sind der Meinung, dass es sich um Zeugnisse eines Fliegenpilz-Kultes handelt, der in dieser Gegend uralte Wurzeln hat.
Vielleicht noch älter sind ähnliche Felsenmalereien aus der Zentralsahara im südlichen Algerien. Neben Elefanten, Giraffen und Krokodilen finden sich hier allerhand Pilzmotive, die aufs engste mit menschlichen Körpern verwoben sind, als ob ihre Körperteile die Form von Pilzen hätten oder diese aus ihren Köpfen wachsen würden. Man geht von einem Zusammenhang mit dem berauschenden Einsatz von Pilzen aus.
Ausflug in die chthonische Welt des Untergrundes
Als der italienische Maler Paolo Porpora im Jahr 1655 sein "Unterholz mit Pilzen, Eidechsen und Schlangen" malte, drücke er etwas aus, was fast einer Definition gleichkommt. Man muss nicht einmal nach dem Begriff "Chthonismus" oder "chthonische Welt" in einem Lexikon nachschlagen, die Betrachtung des Bildes reicht aus, um die Antwort zu erahnen. Auf dunklem, düsteren Hintergrund sieht man den Erdboden, Falllaub, Pilze (in diesem Fall Morcheln) und verschiedenes Getier. Das Bild ist schwarz wie die Nacht selbst. Bereits die Auswahl der Tiere deutet auf eine chthonische, mythische Weltanschauung hin, in deren Mitte die Erde als Gegenstand der Verehrung steht.
So wie die Kröten, die im Frühjahr auf geheimnisvolle Weise aus der Erde erscheinen, sind auch die Pilze die allerbesten Repräsentanten einer unterirdischen Welt. Der Ausflug in die chthonische Welt war entscheidend. Denn nur er konnte uns andeutungsweise vermitteln, in welch mystischen Bildern die Menschen über die Pilze seit Urzeiten dachten und was sie alles in Zusammenhang mit ihnen empfanden.
So gerne würde ich weitere spannende Pilzgeschichten erzählen, doch müssen wir an dieser Stelle aufhören, denn die fantastischen Erzählungen nehmen kein Ende. Aber einen Fungus erwähne ich noch, denn einige Pilzkandidaten hatten vermeintlich besonders viel auf dem Kerbholz, und oft nur dank ihres außergewöhnlichen Aussehens. Von der Stinkmorchel glaubte man, dass der übel gelaunte Teufel eine alte Frau gepackt, sie in Stücke gerissen und überall in der Gegend verstreut habe. Wo immer eines dieser Stücke den Boden berührte, soll eine Morchel gewachsen sein, die der alten Frau mit ihrer verrunzelten Haut ähnlich sah. Aber so könnten wir noch endlos weiter fortsetzen...
Zumindest müsste es nach den bisherigen Ausführungen klar geworden sein: Eine wohlriechende, knusprige Pizza funghi ist nur ein vernachlässigbar kleiner, moderner Teilaspekt einer sehr alten, sehr langen und sehr vielfältigen Kulturbeziehung.