Wozu Pilze fungieren
Nach zwei oder drei Minuten nahm die Raupe die Huhka aus dem Munde, gähnte ein bis zwei Mal und schüttelte sich. Dann kam sie von dem Pilze herunter, kroch ins Gras hinein und bemerkte bloß beim Weggehen: "Die eine Seite macht dich größer, die andere Seite macht dich kleiner."
"Eine Seite wovon? Die andere Seite wovon?" dachte Alice bei sich.
"Von dem Pilz," sagte die Raupe, gerade als wenn sie laut gefragt hätte; und den nächsten Augenblick war sie nicht mehr zu sehen.
Menschen schrumpfen oder wachsen lassen, so wie in "Alice im Wunderland", diese Fähigkeit haben Pilze zwar nach aktuellem Stand der Wissenschaft nicht. Aber auch abseits der literarischen Fiktion sind sie absolute Tausendsassas. Ganz abgesehen von den Speisepilzen, die den Weg auf unsere Teller und in unsere Mägen finden, spielen sie bei der Herstellung von Brot, Käse, Bier (siehe auch "Schwammerlgulasch, Bier, Käse und Aromenrohstoff" und "Die Bierhefe - der Geist des Bieres") eine Rolle. Und ihr relativ offensichtlicher Nutzen in der Ernährung stellt dabei nur die sichtbare Spitze des Eisberges dar, denn kaum ein Einsatzgebiet ist den Pilzen fremd: Von der Produktion von Farbstoffen (siehe "Die farbenfrohe Welt der Pilze") bis hin zum Einsatz als Baumaterial (mehr dazu erzählt Architektin Petra Gruber im Beitrag "'Lebendige Architektur' baut auf Pilze") wachsen sie in sämtliche Bereiche unseres Lebens hinein.
Alles Steinpilze und Eierschwammerl?
Dabei war lange Zeit nicht klar, was Pilze eigentlich sind, und wo sie neben Tieren und Pflanzen einzuordnen sind. Carl von Linné, der Vater der binären Nomenklatur (mit der jede Art einen Gattungs- und einen Artnamen erhält), ordnete die Pilze im 18. Jahrhundert noch der Gruppe der Pflanzen zu. Damals war die Photosynthese noch kein ausschlaggebendes Kriterium für diese Gruppe. Erst 1969 unterteilte Robert Hardin Whittaker Organismen in fünf Reiche, eines davon endlich das der Pilze (Anm.: Mittlerweile wird nicht mehr zwischen fünf, sondern zwischen sieben Reichen unterschieden, die neben den Fungi auch die Tiere, Pflanzen, Chromista, Protista, Archaea und Bacteria umfassen).
Von den Pflanzen unterscheidet die Pilze die Tatsache, dass sie keine Photosynthese betreiben, sondern sich wie Tiere heterotroph, also von organischem Material, ernähren. Vom mehrzelligen Steinpilz hin zur einzelligen Hefe (siehe "Hefen - kleine Pilze als große Helden der Forschung") umfasst das Reich der Pilze 100.000 bekannte Arten. Schätzungen gehen davon aus, dass es zwei bis fünf Millionen Arten gibt. "Die wissenschaftliche Dokumentation der Funga weist für viele Gebiete noch große Lücken auf. Im europäischen Naturschutz werden die Pilze nicht selten sogar als 'forgotten species' bezeichnet", erklärt Irmgard Krisai-Greilhuber, Präsidentin der Österreichischen Mykologischen Gesellschaft, im Gastkommentar "Pilze des Böhmerwaldes".
Was von den mehrzelligen Pilzen über der Erde zu sehen ist, macht nur einen kleinen Teil aus: der Fruchtkörper, also das Fortpflanzungsorgan der Pilze, in dem die für die Vermehrung notwendigen Sporen gebildet werden. Der eigentliche Pilz ist das Myzel, die unterirdische Gesamtheit aller fadenförmigen Hyphe-Zellen, über die der Organismus Nährstoffe aufnimmt.
Vom Weltall in die Wüste, vom Toten Meer in die Tropen
So sind die Pilze zwar mit Ende des 20. Jahrhunderts endlich biologisch einzuordnen, geografisch lassen sie sich aber nicht so leicht eingrenzen. Man findet sie in der Wüste, im All (zumindest auf der ISS in Form von Schimmelpilzen - anscheinend entkommt man dem Wohnungsputz nicht mal in den Weiten des Weltalls) und im Toten Meer (348 Gramm Salz pro Liter? Kein Problem für Eurotium rubrum).
Auch in Gegenden, die für uns absolut lebensfeindlich sind, florieren diverse Pilze - zum Beispiel in den verstrahlten Ruinen von Tschernobyl, wo die Radioaktivität die Stoffwechseltätigkeit von Cryptococcus neoformans und Wangiella dermatitidis erst so richtig anzukurbeln scheint.
Urgroß in der Urzeit
Ihre Hochzeit hatten die Pilze schon vor einigen Milliarden Jahren, als am Ende der Kreidezeit ein Meteoriteneinschlag das Ende für einen Großteil der Tiere und Pflanzen bedeutete. Für die Pilze brach hier eine wahre Blütezeit an. Einerseits machte ihnen dank ihrer Unfähigkeit, Photosynthese zu betreiben, die Dunkelheit nichts, in die die Erde für einige Zeit nach dem Einschlag gehüllt war. Andererseits freuten sie sich als Destruenten, also Zersetzer organischen Materials, über die vielen Pflanzen- und Tierkadaver, die es damals zuhauf gegeben hat.
Noch ein paar hundert Millionen Jahre früher, im Devon, war ein Pilz (zumindest vermutlich - die systematische Zugehörigkeit ist nicht vollständig geklärt) sogar der größte, landlebende Organismus: Prototaxites konnte bis zu neun Meter groß werden. Klingt nach viel - im Vergleich zu Armillaria ostoyae ist das aber gar nichts. Eine Pilzkolonie dieser Gattung im US-amerikanischen Bundesstaat Oregon ist über das Myzel verbunden über eine Fläche von ungefähr neun Quadratkilometer ausgebreitet. Wenn man diese Kolonie als einen Organismus wertet, ist Armillaria ostoyae damit der flächenmäßig größte Organismus der Welt. Das Gewicht der über 2.000 Jahre alten Kolonie wird auf über 600 Tonnen geschätzt.
Über die vielen Fähigkeiten von Pilzen wussten schon unsere steinzeitlichen Vorfahren Bescheid: Bereits 3.200 v. Chr. lief der Ötzi durch die Alpen, bepackt nicht nur mit einem Zunderschwamm, das damalige Pendant zum heutigen Feuerzeug, sondern auch mit einem Birkenporling in seiner Reiseapotheke. Der Pilz, der heute hohe Preise erzielt, hat eine antibiotische, entzündungshemmende Wirkung und soll sogar gegen Krebs helfen. Zu Urzeiten wurde er bereits als Bandage verwendet - das hat dem Ötzi jedoch nichts genutzt.
Mörderisches Potenzial
Pilze sind in der Medizin jedoch nicht immer Segen, manchmal sind sie ein Fluch, wie Hubertus Haas, Leiter des Instituts für Molekularbiologie an der Medizinischen Universität Innsbruck, in "Die Geister, die wir riefen" erklärt. Sie können in Form von Antibiotika Leben retten (siehe auch "Neues aus dem Internet der Pilze") oder durch Pilzinfektionen Leben kosten.
Viele Vertreter der Fungi sind auch hochgradig giftig. Der Fliegenpilz, der den meisten Menschen vermutlich bei dem Gedanken an Giftpilze als erstes einfällt, schafft es dabei nicht einmal unter die Top Ten. Sehr viel gefährlicher sind beispielsweise der Grellrote Schlauchpilz, bei dem Giftstoffe schon bei einer Berührung durch die Haut aufgenommen werden können, oder der harmlos aussehende Runzelige Glockenschüppling. Als weltweit giftigster Pilz gilt jedoch der grüne Knollenblätterpilz, der auf Englisch aussagekräftig als "death cap mushroom" bezeichnet wird: Schon ein einziger Pilz der Gattung Amanita Phalloides enthält genug toxische Amanitine, was nach dem Genuss langsam und schmerzhaft durch Leberschädigung zum Tod führt.
"Wenn irgendwo Pilze schmoren, wird der Kriminalist unwillkürlich hellhörig", wusste Krimiautorin Agatha Christie - zu Recht, denn der Knollenblätterpilz hat schon viele Opfer gefordert, darunter zum Beispiel der römische Kaiser Claudius (ob sein Tod ein Unfall oder doch Mord war, konnte bis heute nicht eindeutig geklärt werden) oder der römisch-deutsche Kaiser und Erzherzog von Österreich, Karl VI. Essbar sind im Endeffekt also alle Pilze - manche sogar öfter.
Horror mit Hut
Das mörderische Potenzial wurde 2007 in einer Kino-Produktion verarbeitet (Pilze können in Filmen schließlich nicht immer nur süßen Feen und Schlümpfen als Behausung dienen): In 'Shrooms - Im Rausch des Todes' wird eine Studentin im Pilzrausch zur Killermaschine. Zugegeben, Blockbuster wurde daraus keiner.
So skurril der Plot auch klingt, die Natur kann selbst die blühendste Fantasie übertrumpfen - und zwar mit dem Ophiocordyceps unilateralis. Der parasitische "Zombie-Pilz" dringt in die Gehirne von Ameisen und einige andere Insekten ein und beeinflusst ihr Verhalten so, dass sie sich an einen hochgelegenen Platz begeben, der für den Pilz optimale Lebensbedingungen bietet, und dort sterben. Der Pilz bildet auf den toten Tieren neue, schwere Sporen aus, die zu Boden fallen und dort vorbeilaufende Insekten infizieren. Für sein Bild von einem infizierten Rüsselkäfer war der Fotograf Frank Deschandol für die Auszeichnung des "Wildlife Photographer of the Year" 2019 nominiert.
Magic Mushrooms und die Medizin
"Zauberpilze oder Magic Mushrooms sind schon lange Zeit bekannt", bestätigen Harald Sitte und Matthäus Willeit von der Medizinischen Universität Wien in ihrem Gastkommentar. Ihr Konsum hat eine lange Tradition. In Mexiko berauschten sich bereits vor 2.000 Jahren die Azteken an Psilocybe mexicana, dem "Gott-Pilz". Die Wikinger aßen vom Fliegenpilz und feierten so ausgelassene Feste. In Nepal öffnen Schamanen seit Generationen durch Pilze das 'Tor zum Göttlichen' - und der Baum der Erkenntnis, von dem Eva naschte und in Folge aus dem Paradies verstoßen wurde, ähnelt auf einem Fresko aus dem 13. Jahrhundert in der französischen Kirche Plaincourault mehr einem Pilz als einem Baum.
Höhlenzeichnungen legen aber nahe, dass Magic Mushrooms schon vor mehreren tausend Jahren in der Steinzeit konsumiert wurden - wie Zoologe und Buchautor Robert Hofrichter im Gastkommentar "Das Phänomen Pilz und unsere Geschichte" näher beleuchtet. Der US-amerikanische Bewusstseinsforscher Terence McKenna begründete sogar die Evolution vom Homo Erectus zum Homo Sapiens dadurch, dass unsere Vorfahren narrische Schwammerl in ihren Speiseplan aufgenommen haben. Die sogenannte Stoned Ape Theory wird jedoch in Fachkreisen nicht anerkannt.
Lange nach urzeitlichen Höhlenmalereien spielten die Pilze in der Kunst immer noch eine Rolle - einmal als Muse oder Objekt des Künstlers, einmal als Vandale, wie Katja Sterflinger, Gutachterin und Mikrobiologin, im Artikel "Der Pilz als Künstler und Vandale" betont: "Pilze sind insofern zerstörerisch, als dass sie überall da wachsen können, wo organisches Material vorhanden ist, das sie abbauen können - und das ist in der Kunst sehr häufig der Fall."
Nicht nur in Medizin und Museen, auch in der Landwirtschaft tritt der Pilz, der viele Pflanzen durch Symbiose mit Phosphaten versorgt, mit zwei Gesichtern auf (siehe "Pilzgifte - Schrecken der Landwirtschaft").
Der Wert des Pfifferlings
Obwohl Schwammerl und Pilze unter ziemlich allen Bedingungen gedeihen und an jedem Ort der Erde vorkommen, können sie ganz schön teuer werden. Ein Kilo weißer Trüffel kostet mehrere tausend Euro - 2007 wurde ein eineinhalb Kilo schweres Exemplar sogar für 330.000 Euro erworben. Sein entfernter Verwandter, der chinesische Raupenpilz, der ein häufiger Bestandteil der Traditionellen Chinesischen Medizin ist, erzielt für ein Kilo immerhin 30.000 Euro.
Der beliebteste Pilz der Österreicher ist da etwas bodenständiger: das Eierschwammerl. In unseren Wäldern und Wiesen war es früher so oft anzutreffen, dass daraus die Redewendung "keinen Pfifferling wert sein" entstand.
Ganz so häufig findet man Pilze heutzutage nicht mehr - entgehen kann man ihnen aber auch nicht. In den entlegensten, lebensfeindlichsten Gegenden, im Essen, in unseren eigenen Körpern sind Pilze allgegenwärtig. Sie waren lange vor uns auf der Erde und sie werden noch da sein, wenn es uns nicht mehr gibt.
Von Anna Riedler / APA-Science
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