Hefen - kleine Pilze als große Helden der Forschung
Es sind nur ganz kleine, mit dem bloßen Auge nicht sichtbare Pilze, doch ihnen verdanken Nobelpreisträger ihre Erkenntnisse und Ehrungen, Krebspatienten Hoffnung auf Heilung, und Diabetiker das Leben: Hefepilze, wie die "gewöhnlichen" Bäcker- und Bierhefen, an denen Forscher die grundlegenden Prozesse des Lebens aufdeckten, zum Beispiel die Zellteilung, und Industriehefen, die für Kost und Quartier wertvolle pharmazeutische und industrielle Wirkstoffe herstellen.
Hefepilze sind Einzeller, die in der Regel schnell wachsen und anspruchslos bezüglich ihrer Nahrung und Umweltbedingungen sind. Dabei handelt es sich um echte Eukaryonten, also Lebewesen, deren Zellen einen Zellkern und viele Organellen wie Zellkraftwerke (Mitochondrien) und "Mülleimer" (Vakuolen, beziehungsweise Lysosomen) besitzen. Sie sind also nahezu gleich ausgestattet wie Säugetierzellen von Maus bis Mensch. Alle grundlegenden zellulären Prozesse laufen bei Hefezellen auch fast genau so ab wie bei menschlichen. Wenn man also bei Hefezellen geklärt hat, wie ein Prozess funktioniert, ist das ein bedeutender Schritt dazu, ihn auch bei Menschen zu verstehen und irgendwann medizinisch einzugreifen, wenn er gestört ist.
Das erste bekannte Erbgut von "höheren Organismen"
Das Erbgut (Genom) der Bäcker- und Bierhefe Saccharomyces cerevisiae war 1996 das erste eukaryotische Genom, das je ausgelesen (sequenziert) wurde. Seither kennen die Forscher jeden einzelnen Buchstaben ihrer "Bauanleitung". Sie haben verschiedenste Methoden entwickelt, das Erbgut von Hefezellen gezielt zu verändern, können Gene beliebig ausschalten und überaktivieren. Sie können Gene von fremden Organismen einbringen und die Hefezellen sogar den Stoffwechsel von Pflanzen nachahmen lassen. Sie können einzelne Bauteile mit leuchtenden (fluoreszierenden) Farbstoffen markieren und beobachten, was mit ihnen passiert.
Es gibt kein anderes eukaryotisches Lebewesen, das im Labor so einfach handhabbar, untersuchbar ist, und wo es quasi keine ethischen Bedenken gibt, dies tagtäglich zu tun. Die Menschen haben schon jahrtausendelange Erfahrung mit ihr, zum Beispiel vom Brotbacken, Bierbrauen und Weinkeltern.
Grundlegende Erkenntnisse über die Zellteilung und Krebsentstehung
In den Grundlagenforschungs-Labors sind vor allem ebenjene Bäcker- und Bierhefe Saccharomyces cerevisiae, sowie die Spalthefe Schizosaccharomyces pombe die "Stars". "Mit ihnen haben zum Beispiel Lee Hartwell und Paul Nurse die Regulationsprinzipien der Zellteilung entdeckt, die in den meisten Tumoren außer Kraft gesetzt sind", erklärte Karl Kuchler von der Medizinischen Universität Wien und den Max Perutz Labs. Die Zellen teilen sich, wenn diese Regulatoren nicht funktionieren, obwohl sie es nicht sollten.
Lee Hartwell hatte Anfang der 1970er Jahre erstmals S. cerevisiae Hefestämme isoliert, in denen Gene defekt waren, die die Zellteilung regulieren. Bis heute haben er und viele andere Forscher weit über hundert solcher Gene identifiziert. Verwandte dieser Gene leisten auch in den Zellen von Pflanzen, Tieren und Menschen ihren Dienst. Fallen sie aus, droht Krebs. Paul Nurse klärte in S. pombe Hefezellen die genauer Funktion einiger der von Hartwell gefundenen Gene auf, insbesondere von sogenannten "cyklinabhängigen Kinasen" (CDKs). Das sind Eiweißstoffe, die über den Anfang, die Dauer und das Ende der unterschiedlichen Phasen im Leben und Wachstum einer Zelle wachen. Nurse fand heraus, dass sie normalerweise in einem Ruhezustand verharren, aber zu bestimmten Zeiten aktiviert werden und dann eine lange Abfolge von penibel kontrollierten Signalwegen in Gang setzen.
Gemeinsam mit Tim Hunt, der bei Seeigeln über die Zellzyklus-Kontrolle forschte, bekamen Hartwell und Nurse 2001 für ihre Entdeckungen den Medizin-Nobelpreis, denn ihre Erkenntnisse sind die Grundlage für die moderne Krebsforschung und -medizin. Bei fast allen Tumoren sind jene Zellzyklus-Steuerelemente, die Hartwell und Nurse in Hefezellen erstmals entdeckt haben, verändert und treiben das Zellwachstum an. Kann man sie hemmen, kann man den Krebs besiegen.
Die Grundlagen der Logistik in den Zellen
Auch der Hefe-Forscher Randy Schekman "kassierte" einen Medizin-Nobelpreis ein, und zwar im Jahre 2013. Er entschlüsselte bei Hefezellen die wichtigsten Transport-Mechanismen der Zellen, und zwar die Maschinerie, die den Vesikel-Verkehr steuert. Das sind kleine Bläschen, in die Botenstoffe, Baumaterialien und andere wichtige Zellprodukte verpackt sind. Sie liefern ihre Fracht genau dort hin, wo sie benötigt wird, und entsorgen auch Abfälle. Ohne ihre raffinierte Verpackungs- und Transportlogistik wäre kein funktionierender Zellstoffwechsel möglich. Schekman suchte bei Hefen nach Genen, die den Vesikel-Transport steuern. Er züchtete dafür verschiedene Hefestämme, bei denen ein Gen oder mehrere davon ausgeschaltet waren. Dabei entdeckte er 23 Gene, die unumgänglich für die intrazelluläre Logistik waren, mittlerweile sind viele weitere bekannt.
Er entschlüsselte schließlich den kompletten Signalweg sowie die komplexe Mechanik, die den Export aus Zellen steuert. Störungen beim Heraustransportieren können zu Krankheiten führen: Bei Diabetes ist etwa die Ausschüttung des Hormons Insulin gestört. Auch Nervenbotenstoffe werden durch Vesikel transportiert, sie spielen deshalb auch eine zentrale Rolle bei Schizophrenie und Depressionen, und auch für die Alzheimer- und Parkinson Forschung sind die Erkenntnisse zum Vesikeltransport sehr wichtig.
Grundlagen der Müllabfuhr aller Zellen
Der Japaner Yoshinori Ohsumi bekam im Jahr 2016 ebenfalls den Nobelpreis für Medizin für seine Forschung in gewöhnlicher Bäckerhefe. Er hat die genetischen Grundlagen der "Müllabfuhr" (Autophagie) in Hefezellen aufgeklärt. Sie sorgt dafür, dass Stoffe, die in der Zelle nicht mehr benötigt werden, die fehlerhaft und somit schädlich sein können, recycelt und entsorgt werden. "Genetische Veränderungen bei der Autophagie können Krankheiten verursachen", begründete das Nobelpreis-Komitee seine Entscheidung: Sie spielt bei Krebs eine Rolle, ebenso bei neurologischen Krankheiten wie Parkinson und Alzheimer.
Grundlagen der Erbgut-Reparatur
Der US-Forscher James (Jim) Haber wurde zwar nicht mit einem Nobelpreis geehrt, seine Arbeit an Hefezellen über die Reparatur beschädigten Erbguts ist aber dennoch von enormer medizinischer Relevanz, sagte Kuchler: "Wenn sie nicht funktioniert, führt das zum Entarten normaler Körperzellen und somit zur Entstehung von Krebs."
Obwohl Hefezellen also schlichte Einzeller sind, kann man bei ihnen viele grundlegende Prozesse studieren, die für die Krankheitsentstehung in komplexen Organismen wie beim Menschen bedeutend sind. Sie haben kein Bewusstsein und keine "grauen" Zellen, können auch keine Tumore entwickeln, und trotzdem sind die Erkenntnisse aus der Hefegenetik die Grundlagen von der Krebs- bis zur Hirnforschung. "Leider ist es in Österreich aktuell trotzdem nicht sehr 'in', an Hefe zu forschen", so Kuchler: "Alle wollen Krebs in höchster Instanz heilen oder an Stammzellen forschen, und vernachlässigen dabei ein wenig die Grundlagen."
Heferenaissance in der synthetische Biologie
Eine Renaissance erfahren die Hefen aber in der synthetischen Biologie, erklärte er: Man nimmt Hefezellen, fügt bei einem ihrer vielen Stoffwechselwege das eine oder andere Enzym ein, und schafft so einen Produzenten von industriell oder pharmazeutisch wichtigen Stoffen. "Eines der ersten Beispiele dafür war die Alkohol-Produktion in Kuba und vielen anderen Ländern, wo spätestens in den 1970er Jahren in 100.000 Liter Tanks aus Melasse, einem Abfallprodukt der Zuckerherstellung, Bioethanol produziert wurde", berichtete Kuchler.
Heute funktioniert das Ganze freilich ein bisschen moderner in großen High-Tech Bioreaktoren (Fermentern), wo Hefestämme wie S. cerevisiae, Komagataella phaffii (auch als Pichia pastoris bekannt), Kluyveromyces lactis und Yarrowia lipolytica viel teurere und wichtigere Produkte produzieren, als schnöden Alkohol. "Man hat gemerkt, dass die Zellstruktur- und Funktion bei Hefepilzen und Säugetieren wie dem Menschen gar nicht so unterschiedlich ist, und nutzt dies in der synthetischen Biologie nun aus", so der Forscher.
Hepatitis-Impfstoff aus Hefezellen
Der Wiener Biochemiker Gustav Ammerer brachte in den frühen 1980er Jahren mit Kollegen zum Beispiel Hefezellen (S. cerevisiae) dazu, die vom Immunsystem erkannte Oberflächenstruktur (Antigen) von Hepatitis B Viren zu produzieren. "Daraus ist der Hepatitis B Impfstoff gemacht worden - es war eine riesige Entdeckung, dass man so etwas in einem einfachen Organismus wie einer Hefezelle produzieren kann", sagte Kuchler. Eine Krankheit, die zuvor geschätzt 300 Millionen Menschen getötet hat, konnte damit faktisch ausgerottet werden.
Insulin aus Hefezellen
Auch für Zuckerkranke lebenswichtige Insulin-Präparate werden heutzutage in Einzellern hergestellt, wie Hefepilzen oder Bakterien (Escherichia coli). Früher stammten sie aus den Bauchspeicheldrüsen von Kälbern. Solche Präparate sind nicht so sicher wie von Hefe produziertes Insulin, außerdem könnte man weltweit gar nicht so viele Kälber züchten und töten, um den Bedarf für die Patienten zu decken. Hefezellen sind hingegen potenzielle "Zellfabriken für Insulin", die fast unbegrenzt von dem lebenswichtigen Hormon herstellen können.
Malaria-Wirkstoff aus Hefe
Neuerdings wird auch der Malaria-Wirkstoff Artemisinin in Hefezellen hergestellt. Die chinesische Forscherin Tu Youyou isolierte ihn zunächst aus Beifuß und identifizierte ihn als Malaria-Therapeutikum, wofür sie 2015 mit dem Nobelpreis für Medizin geehrt wurde. Man kann Beifuß zwar auf großen Feldern anbauen und den Wirkstoff aus seinen Blättern extrahieren, die Ausbeute ist aber äußerst gering. Man kann Artemisinin auch chemisch synthetisieren, aber weil es eine hochkomplexe pflanzliche Verbindung ist, ist dies sehr kompliziert und aufwendig, erklärte Kuchler: Man kann sie aber nun auch in großen Mengen biologisch in Hefe produzieren, das ist leichter, als es chemisch zu synthetisieren, und die Aufbereitung ist einfacher als bei Beifußpflanzen.
Geschmacks-, Geruchs- und -farbstoffe aus Hefe
Weitere Beispiele sind Carotinoide und Terpenoide. Carotinoide sind nicht nur eine wichtige Vorstufe von Vitamin A, sie werden auch in der Lebensmittelindustrie als Antioxidantien und Farbstoffe sowie als Futtermittelzusatz eingesetzt. Speziell darauf trainierte Hefezellen können sie praktischerweise im großen Maßstab aus Abfällen der landwirtschaftlichen Industrie herstellen. Terpenoide sind als Pharmazeutika, Geschmacks- und Geruchsstoffe wichtig. Auch sie können in "Hefefabriken" produziert werden.
"Hefepflänzchen"
Jüngst haben Wiener Forscher Hefezellen (Pichia pastoris) sogar so weit gebracht, wie Pflanzen zu funktionieren. Ein Team um Diethard Mattanovich vom Institut für Biotechnologie der Universität für Bodenkultur (BOKU) und dem Austrian Centre of Industrial Biotechnology (ACIB) in Wien veränderte die industriellen Hefezellen, so dass sie CO2 aus der Luft fixieren (siehe "Forscher lassen Hefezellen Treibhausgas CO2 aufnehmen wie Pflanzen") und ohne anderen Kohlenstoffquellen (wie etwa Zucker) wachsen können. Hefe braucht zum Leben normalerweise Nahrung wie andere Pilze, Tiere und Menschen. Die von den Forschern veränderten Hefezellen können aber ihren Hunger wie Pflanzen mit Kohlendioxid (CO2) aus der Luft zu stillen. Das macht sie unabhängig von anderen Futterstoffen (Kohlenstoffquellen) und zu potenten Treibhausgas-Verzehrern.
Solche Hefezellen könnten nicht nur alle möglichen Dinge herstellen, ohne dass man sie dazu mit Zucker oder Ähnlichem füttern muss, sie nehmen auch ernstzunehmende Mengen des Treibhausgases CO2 aus der Luft auf. "Ein einzelner, industriell üblicher Großfermenter von 500 Kubikmetern könnte mindestens 2.000 Tonnen CO2 pro Jahr binden - so viel wie zirka 1.000 Autos pro Jahr ausstoßen", so der Forscher. Man könnte die Hefezellen zum Beispiel Bioplastik (Polylactat - PLA) herstellen lassen, sie würden dann für eine Tonne PLA eineinhalb Tonnen CO2 "aufbrauchen", rechnete Mattanovich vor.
Fazit: Was Hefe so erfolgreich macht
Was macht die Forschung mit Hefe also so erfolgreich? Sie ist viel leichter zu handhaben als menschliche Zellen, aber dennoch funktioniert ihre Zellbiologie so ähnlich, dass Erkenntnisse aus der Hefeforschung sehr oft medizinische Relevanz haben. Zum Beispiel Pharmazeutika in Hefezellen zu produzieren ist viel unproblematischer, als wenn man das in Bakterien macht, erläutert Kuchler: "Selbst wenn man ein gewöhnliches Darmbakterium wie E. coli dafür hernimmt, sind die daraus gewonnenen Substanzen nicht frei von Pyrogenen, also Entzündungen auslösenden Stoffen", sagte er.
Hefe produziert auch keine für Menschen giftige Stoffe - außer Alkohol, was in der Bier- und Weinherstellung ja durchaus erwünscht ist. Man könnte viele Dinge auch in Pflanzen produzieren, aber das sehen die Menschen nicht so gerne, die Akzeptanz für zum Beispiel in Bananen im Gewächshaus hergestellte Impfstoffe wäre viel geringer, als wenn man diese von Hefe in Fermentern produzieren lässt. Schließlich ist die Produktion in Hefe im Vergleich zu Säugetierzellen und Pflanzen äußerst billig. Sie ist unempfindlich gegen Verunreinigungen mit Bakterien und anderen Pilzen, und anspruchslos, was ihr Futter betrifft. Ihre Verwendung ist ethisch unbedenklich. Und die Menschen haben, nachdem sie schon vor 4.000 Jahren in Mesopotamien und Ägypten mit ihrer Hilfe Bier brauten, einen Jahrtausende alten Erfahrungsschatz, was den sicheren Umgang mit Hefen betrifft.
Von Jochen Stadler / APA-Science
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