"Das Experiment geht weiter..."
In einem Buchkapitel [1] hat der damalige Leiter der Forschung am Chelsea College of Art and Design, Stephen A. R. Scrivener, die Einführung der künstlerischen Forschung an Hochschulen als 'Experiment' bezeichnet. Ich habe mich in der Zwischenzeit unter anderem durch ein Fellowship am Orpheus Institut in Gent [2] und meiner Arbeit im ERC-geförderten Forschungsprojekt 'Experimentation versus Interpretation: Exploring New Paths in Music Performance in the Twenty-First Century' (PI: Dr. Paulo de Assis) [3] mit der Frage des Experimentierens und insbesondere mit Hans-Jörg Rheinbergers Theorie der Experimentalsysteme beschäftigt. [4] Demnach kann man davon ausgehen, dass Experimentatoren zwar den Aufbau ihrer Experimente genau kennen, nicht aber das zu entstehende neue Wissen erahnen können. Gleiches gilt meiner Meinung nach auch für die künstlerische Forschung: Wir haben sie vielleicht initiiert und institutionell ins Leben gerufen, im engen Sinne wissen, was sie ist und leisten kann, tun wir aber nicht.
In diesem Sinne stellen die bestehenden Prozesse und Rahmenbedingungen Versuche dar, durch begriffliche Unterscheidung, finanzielle Unterstützung, Interdisziplinarität, erweiterte Publikationsformen usw. etwas, das 'künstlerische Forschung' heißen kann, zu begründen, auszugestalten und kennenzulernen. So kann man trotz ihrer vergleichsweise kurzen Geschichte schon feststellen, dass sich bestimmte Ansätze diesbezüglich als unproduktiv herausgestellt haben. Ein paar Beispiele:
- Die Debatte, ob Kunst Forschung sei oder ob Kunstwerke Forschung verkörpern, ist im Sand verlaufen und hat lediglich zu ontologischen Spekulationen geführt.
- Die Vermischung der Grundlegung der künstlerischen Forschung als 'third cycle' im sog. 'Bologna Prozess' hat zu einer unnötigen Verwirrung geführt, da aus künstlerischer Sicht eine Unterscheidung in Kunstproduktion (BA und MA) und Forschung (PhD) unsinnig ist.
- Die Verwendung von Standards und Verfahren aus den Geisteswissenschaften haben sich durch ihre Textlastigkeit und ihrem fehlenden Bezug zur schaffenden Praxis als unzureichend herausgestellt.
Es gibt aber auch jede Menge positive Dynamik. Bevor ich hier Beispiele nenne, schlage ich vor, sich zuerst zu vergegenwärtigen, warum das Experiment 'künstlerische Forschung' überhaupt ins Leben gerufen wurde. Radikal vereinfacht kann man nämlich auch argumentieren, dass es sich lediglich um ein Abfallprodukt der Vereinheitlichung der wissenschaftlichen Rahmenbedingungen handeln könnte (Abschaffung der Fachhochschulen in Großbritannien in den frühen 90er Jahren; Bologna Prozess seit dem Beginn des neuen Jahrhunderts). Man kann aber auch längere historische Prozesse betrachten und würde dann zu dem Schluss kommen, dass die künstlerische Forschung, indem sie sich auf materiale, lokale und oft nicht beweisbare Fakten bezieht, das radikale Extrem einer Entwicklung symbolisiert, die, um es mit Edmund Husserl zu sagen, 'zu den Sachen selbst' wissend gelangen will.
Auf diesem Hintergrund wären folgende Entwicklungen als produktiv zu verstehen:
- Die angewandte Forschung gewinnt Grundlagencharakter, denn beide sind in der Kunst nicht zu trennen; künstlerische Forschung arbeitet an Wegen wie Forschung zwischen akademischer und professioneller Praxis situiert werden kann, wie dies z.B. im Kontext der 'mode 2 knowledge production' [5] geschieht.
- Durch künstlerische Forschung wird nicht-textualen Medien mehr Gewicht bei der Wissenskommunikation verliehen; die sog. 'enhanced journals', die sich in allen Bereichen der Wissenschaft an deren Rand etablieren, sind in der künstlerischen Forschung zentral und erfahren durch sie eine besondere Dynamik.
- Künstlerische Forschung stellt ein Gefäß dar, mit Hilfe dessen künstlerische Arbeit auch außerhalb des Kunstmarktes und der sog. 'commodity culture' relevant sein kann; kritische künstlerische Praxis erhält ein weiteres Publikum, einen weiteren 'income stream' und kann dadurch insgesamt mehr Bedeutung erhalten.
Im Journal for Artistic Research (JAR) [6] arbeiten wir an solchen Themen insbesondere durch den Begriff der 'exposition' [7], den wir federführend geprägt haben. Ziel ist, 'expositions of practice as research' zu veröffentlichen, d.h. Beiträge, in denen Künstler und Forscher die epistemische Bedeutung ihrer Praxis ohne Vorgaben oder Kriterien entfalten. Dies kann dann z.B. konventionell textbasiert oder rein medial geschehen, je nachdem welche Ausdrucksform am meisten leistet. Unsere Peer-reviewer sind dann nicht aufgefordert, einen Beitrag nach Kriterien zu benoten, sondern vielmehr einzuschätzen helfen, ob eine 'exposition of practice as research' stattgefunden hat, welche Bausteine möglicherweise fehlen und ob das künstlerische Potenzial im Beitrag epistemisch verwirklicht wurde. JAR veröffentlicht neben den Beiträgen auch abschließende Kommentare der Gutachter, der von der überwiegenden Mehrheit namentlich verfasst wird, was ich als Angebot verstehe, weiterhin zu verhandeln, wie sich in Einzelfall Kunst als Forschung dargestellt hat.
Das Experiment, von dem ich eingangs gesprochen habe, ist damit nicht beendet, denn wir stehen wirklich nur am Beginn eines Prozesses, in dem nicht nur versucht wird, den Gegenstand 'künstlerische Forschung' ins Leben zu rufen, sondern auch die Bedingungen radikal zu verändern, unter denen 'Forschung' überhaupt betrachtet und durchgeführt werden kann. Gesellschaftspolitisch besteht das Problem weniger in der Abgrenzung oder Zusammenführung künstlerischer oder wissenschaftlicher Forschungsbegriffe, sondern darin, wie ein traditionell humanistisch besetzter Raum von Forschung in einer globalisierten Welt zu definieren sei, der nicht auf Research & Development reduziert werden kann. Auch und gerade hier kann die entstehende künstlerische Forschung wesentliche Beiträge leisten, aber eben immer nur nah an der konkreten künstlerischen Arbeit. Deshalb freut es mich besonders, dass ich ab diesem Jahr in einer Kollaboration zwischen der Angewandten in Wien und der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz im FWF-geförderten Projekt 'Transpositionen [TP]. Künstlerische Datenverarbeitung' zusammen mit Dr. Gerhard Eckel nach neuen künstlerischen Klang- und Bildformen als Resultat der Analyse und der mathematischen Transformation von wissenschaftlichem Datenmaterial suchen kann.
[1] Scrivener, Stephen A. R. "Visual Art Practice Reconsidered: Transformational Practice and the Academy." In The Art of Research: Research Practices in Art and Design, edited by Maarit Mäkelä and Sara Routarinne, 156-179. Helsinki: University of Art and Design Helsinki, 2006.
[2] http://www.orpheusinstituut.be/en/intro
[3] http://musicexperiment21.wordpress.com/
[4] Schwab, Michael, ed. Experimental Systems: Future Knowledge in Artistic Research. Leuven: Leuven University Press, 2013.
[5] Gibbons, Michael, Camille Limoges, Helga Nowotny, Simon Schwartzman, Peter Scott, and Martin Trow. The New Production of Knowledge: The Dynamics of Science and Research in Contemporary Societies. London, Thousand Oaks, New Delhi: Sage, 1994.
[6] http://www.jar-online.net/ JAR nutzt den den sog. Research Catalogue http://www.researchcatalogue.net/ welcher nicht-textliche, nicht-lineare Forschungsbeiträge ermöglicht.
[7] Vgl. neben den Editorials in JAR auch Schwab, Michael, and Henk Borgdorff, eds. The Exposition of Artistic Research: Publishing Art in Academia. Leiden: Leiden University Press, 2014.