Kunststoff, Wunderwuzzi mit Schattenseiten
Das Thema Kunststoff wird äußerst kontrovers diskutiert. Dass Plastik die Welt in den vergangenen Jahrzehnten nachhaltig verändert hat, ist unwidersprochen, ob positiv oder negativ dagegen nicht. Den Stab über die vielfältige Welt der Kunststoffe zu brechen, wäre zu einfach. Dass es einen sorgsamen Umgang damit braucht, darüber herrscht aber breiter Konsens von Herstellern über Konsumenten bis hin zu Recyclern und Entsorgern. Das ist auch der gemeinsame Nenner der im Rahmen des Dossiers zum komplexen Feld der Kunststoffe befragten Expertinnen und Experten. Die Themenpalette spannt sich auf zwischen neuen Ansätzen der Kunststoffforschung, Bioplastik, der Abfallproblematik, Recycling bis hin zu gesundheitlichen Aspekten des Einsatzes des multitalentierten Werkstoffs.
Kunststoff hat eine lange Geschichte, oder eine kurze, je nachdem, wo man den Beginn sehen möchte. Einen genauen Anfangspunkt gibt es nicht. Soll man schon die Nutzung von Harzen zum Verbinden von Holz in der Steinzeit, die Vulkanisation von Kautschuk durch Charles Goodyear oder den ersten vollsynthetisch, industriell produzierten Kunststoff Bakelit durch den belgischen Chemiker Leo Hendrik Baekeland als den Startpunkt der Kunststoffgeschichte ansetzen? Darüber kann gestritten werden, wenn man will. Zu den Pionieren der industriellen Kunststoffproduktion zählten auch Österreicher (siehe Gastkommentar: "Kunststoffe gehören gesammelt. Konservierungswissenschaft erforscht Materialgeschichte").
Die Erfolgsgeschichte des Materials begann jedenfalls erst nach dem 2. Weltkrieg so richtig. War die Produktion in den 1920er- und 1930er-Jahren noch fast ausschließlich auf Qualität ausgelegt, ging es ab den 1950ern so richtig in die Masse. Die Produkte wurden erschwinglicher und nur wenige Jahre später waren Kunststoffe schon nicht mehr aus dem Alltag wegzudenken. In den 1970ern kam es dann zu einem ersten Stimmungswandel, befeuert durch die Erdölkrise und das Erstarken der Umweltbewegungen in den wirtschaftlich führenden Ländern.
Ersatz gesucht
Jetzt scheint sich zu wiederholen, was Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts zu Kunststoffprodukten führte. Damals war man auf der Suche nach Ersatzmaterialien für teure oder knappe Rohstoffe (Elfenbein, Schildpatt, Perlen, Korallen etc.). Derzeit forscht man am Ersatz für Kunststoff aus fossilen Ressourcen, um die Folgen des Massengebrauchs abzufedern. Die Forschung ist gefordert und sie steckt schon geraume Zeit einiges an Energie in die Suche nach Alternativen und neuen Strategien (siehe: "Die Alternative, Biokunststoff", Gastkommentare "Neue Rohstoffe für Kunststoffprodukte durch die industrielle Mikrobiologie", "UpCycling-Strategien für eine kreislauforientierte Gesellschaft").
Ebenso steigt das Interesse daran, was Plastik so mit unserer Umwelt macht. Das Problem in den Ozeanen wurde bereits mehrmals erzählt (siehe: "Forscher nähern sich Plastik-Strudel und Kunststoff-Natur an"). Wie schaut es aber mit der Kontamination unserer Fließgewässer und Co. aus? Dem wird mittlerweile in Österreich verstärkt nachgegangen (siehe Gastkommentar "Plastik in unseren Fließgewässern - Aktuelle Forschung zum Thema Mikro- und Makroplastik"). Die Untersuchung weiterer Naturräume wie zum Beispiel der Alpen ist in Planung.
Ökonomisch erfolgreich
Wirtschaftlich ist Kunststoff ungebrochen erfolgreich. Im vergangenen Jahr wurden weltweit 348 Mio. Tonnen Kunststoffprodukte hergestellt, was einem Plus von 3,8 Prozent gegenüber 2016 entspricht. (Quelle: PlasticsEurope, siehe Factbox). In der EU (plus Schweiz und Norwegen) lag dieser Wert bei 61,74 Mio. Tonnen (2016: 60 Mio. Tonnen).
Österreich ist im Kunststoffbereich durch aus erfolgreich, wie auch Harald Bleier vom Kunststoff-Cluster NÖ gegenüber APA-Science erklärt. Laut Zahlen des Fachverbands der Chemischen Industrie Österreichs (FCIO) setzt Österreichs Kunststoffindustrie Produkte um rund 5,5 Mrd. Euro ab. Der Großteil der hergestellten Waren geht in den Export (siehe ebenfalls Factbox). "Österreichs Kunststoffunternehmen brauchen sich im internationalen Vergleich nicht zu verstecken", ergänzt Bleier, der im Cluster der niederösterreichischen Wirtschaftsagentur ecoplus unternehmensübergreifend innovative Projekte entlang der gesamten Wertschöpfungskette initiiert.
Kunststoff steigerte die Lebensqualität
"Vorteil des Kunststoffs ist, dass er ein sehr günstiger Werkstoff ist und die Lebensqualität der Menschen rasch verbessert hat", erklärt der Clustermanager weiter. Ob Kunststoff kurzfristig komplett ersetzbar wäre, beantwortet er wie sämtliche von APA-Science befragten Experten mit einem klaren "Nein". "Eine Herausnahme des Werkstoffes Kunststoff aus den derzeitigen Produkten unserer Gesellschaft würde vieles unmöglich machen sowie eine enorme Steigerung der Umweltbelastung nach sich ziehen", meint dazu Kunststofftechniker Walter Friesenbichler von der Montanuniversität Leoben, Department Kunststofftechnik. Ebenso wäre es für die Energiebilanz verheerend. Würde man nämlich in der EU alle Kunststoffe durch andere geeignete Materialien ersetzen, würde der Gesamtenergiebedarf um 57 Prozent steigen, hat eine Studie aus dem Jahr 2010 gezeigt.
Dass es derzeit einen "Wandel zu einer kunststoffreien Ära" gebe, verneint auch der Chemiker Frank Wiesbrock vom Polymer Competence Center Leoben (siehe Gastkommentar "Et tu, Kunststoff: Quo vadis? - Eine Zukunftsprognose für Kunststoffe"): "Kunststoffe sind weit mehr als nur bequemes (günstiges) Verpackungsmaterial; ohne Kunststoffe gäbe es zum Beispiel keinen Computer und kein Smartphone, welche aber ohnehin obsolet wären, da auch die großflächige Stromversorgung nur mittels des Einsatzes von Kunststoffen möglich ist."
Außerdem müsse "zwischen den Massenkunststoffen - Verpackungen - und den Funktionskunststoffen bzw. Hochleistungskunststoffen unterschieden werden". Das sei zu wenig in den Köpfen. "In der Gruppe der Massenkunststoffe stehen sich die Entsorgungsproblematik und der Aspekt der leichten und kostengünstigen Zugänglichkeit von Verpackungsmaterialien diametral gegenüber. Hierbei können kompostierbare Verpackungen als Kompromiss verstanden werden, die aber im Vergleich zu erdöl-basierenden Kunststoff-Verpackungen höherpreisig sind und sich bisher nicht flächendeckend durchsetzen konnten. Funktionskunststoffe sind hochentwickelte Materialien, die stetig weiter optimiert werden, und dem Hochpreis-Sektor zuzuordnen sind. Es handelt sich dabei um Kunststoffe, die nicht hinreichend durch andere Materialklassen ersetzt werden können", schreibt Wiesbrock in seinem Kommentar. Verkürzt gesagt, in der Diskussion um Verpackungsmaterialien wird meist auf die "intelligenten" Kunststoffe vergessen, die wohl mehr Wertschätzung verdient hätten.
Verpacken neu gedacht
Wenn von Kunststoff gesprochen wird, geht es also fast ausschließlich um Verpackungen. Wenig überraschend, ist es doch das, was der Konsument am unmittelbarsten mitbekommt. Aber auch bei den Verpackungsmaterialien bewegt sich etwas (siehe: "Weniger Plastik im Regal: Neue Trends bei Lebensmittelverpackungen"). "Im Mittelpunkt steht der Schutz des Produkts vor dem Verderben oder einem Qualitätsverlust, vor dem Einfluss von Strahlung, bestimmten Temperaturen, Keimen oder Transportschäden", erklärte Katrin Bach vom Management Center Innsbruck (MCI) im Gespräch mit APA-Science.
Noch dominieren bei den Lebensmittelverpackungen fossil basierte Kunststoffe. Sie sind gut erforscht und über lange Jahre auf spezifische Eigenschaften weiterentwickelt worden. Als Alternative gelten biobasierte Kunststoffe. "Damit können aber noch nicht alle diese speziellen Eigenschaften abgedeckt werden. Nichtsdestotrotz fangen sie an, etwa bei Gebrauchsgegenständen wie Müllsackerln, Flaschen oder Geschirr, Fuß zu fassen", so die Expertin. Die Forschung sei hier sehr aktiv, neue biobasierte Polymere zu identifizieren, die ganz bestimmte Eigenschaften aufweisen.
Abfall, Müll - Vermeidung, Wiederverwertung
Bleibt noch das Abfallproblem. Österreich ist darin ein Vorzeigeland, global gesehen droht es aber aus dem Ruder zu laufen. "Es muss es etwas passieren", wird zusehends zu einem gesellschaftlichen Konsens. Auf der regulativen Ebene hat die EU heuer mit der "Plastikstrategie" einen weiteren Schritt gesetzt. Ebenso wird die Forschung an kompostierbaren und/oder biobasierten Kunststoffen forciert vorangetrieben, die Industrie signalisiert zunehmende Bereitschaft zu "Bio-Lösungen". Das wird aber nur ein Teil der Lösung sein.
"Die höchste Wertschöpfung kann nur durch kaskadische Nutzung (...) erzielt werden. So lange sich Kunststoff recyceln lässt, sollte dies gemacht werden. Erst wenn es technisch nicht mehr möglich ist, das Produkt wiederzuverwerten, sollte es für die Energiegewinnung genutzt werden", hat Hubert Culik, Obmann des Fachverbandes der Chemischen Industrie (FCIO), Ende 2017 bei einer Veranstaltung zum Thema Biokunststoffe, den optimierten Umgang mit Plastik und Co. umrissen.
Dem schließt sich auch Walter Friesenbichler von der Montanuni Leoben an: "Recycling von Kunststoffabfällen sehen wir als unumgänglich an, wobei in der Abfall-Hierarchie zuerst die Vermeidung unnötigen Werkstoffverbrauchs, danach die Wiederverwendung von Produkten zum Beispiel durch Mehrweggebinde und erst dann das stoffliche Recycling kommen - die Technologien dafür sind verfügbar. Daran schließt sich das energetische Recycling im Sinne der Wiedergewinnung der im Kunststoff gespeicherten Energie an und erst ganz am Schluss sollte an das Deponieren gedacht werden."
Angesprochen auf die internationale Müllproblematik meint er außerdem: "Es wäre höchste Zeit, dass unsere Abfallwirtschaftskonzepte - Sammelsysteme, Recyclingsysteme, Pfandsysteme etc. - mit Unterstützung der EU und der nationalen Regierungen Mitteleuropas rasch in die Problemländer transferiert werden, aus denen die Meeresverschmutzung zum Großteil über die großen Flüsse erfolgt. Wir sind der Meinung, dass zum sorgsamen Umgang mit Kunststoffabfällen eine Vielzahl von gebündelten Maßnahmen erforderlich ist und Einzelaktionen meist nur kurzfristige Publicity bringen."
Von Hermann Mörwald / APA-Science