Die Rollen des Spiels
Mensch und Spielen gehören einfach zusammen. In kaum einem Bereich ist der Erfindungsreichtum so wenig eingeschränkt wie beim Spielen. Das Spiel und Spielen entzieht sich einer exakten Definition. Trotzdem verbinden die verschiedenen Spiele ähnliche Merkmale. Das "Spielfeld" ist jedenfalls breit, und die Motivationen, sich darauf herumzutreiben, sind vielfältig. Außerdem werden Brettspiele und elektronische Spiele allen Unkenrufen zum Trotz nebeneinander überleben können und "Gamification" ist eigentlich ein alter Hut.
Schon der antike Philosoph Plotin hat 244 n. Chr. das Spiel als die Vorbereitung auf den Ernst des Lebens beschrieben. "Spiel ist eine elementare Kulturtechnik. Wir können uns keine menschliche Gesellschaft vorstellen, die nicht weiß, was Spielen ist. Es gibt nur wenige derart kulturelle Universalien für die Menschheit, eine weitere ist zum Beispiel die des Erzählens", erläutert der Autor Ernst Strouhal, Kulturwissenschafter an der Universität für angewandte Kunst in Wien, gegenüber APA-Science.
Wenn man sich mit dem Spiel und Spielen beschäftigt, kommt man natürlich nicht um den niederländischen Kulturhistoriker Johan Huizinga herum, der mit dem Buch "Homo ludens" (1939/38) eine der wichtigsten, modernen theoretischen Schriften zu dem Thema schuf. Verkürzt gesagt erklärt er das Spiel mit einer im Kern zweckfreien, freiwilligen, aber vorher festgesetzten Regeln folgenden Beschäftigung.
Rainer Buland, Leiter des Instituts für Spielforschung an der Universität Mozarteum in Salzburg, meint dazu: Der Zweck liege im Spiel selbst. Jede über das Spiel hinausgehende Zweckvereinbarung sei nicht eigentlicher Teil des Spiels. Die Freiwilligkeit wiederum sei aber keine wissenschaftlich brauchbare Kategorie. Der Begriff Spiel bezeichne keine einheitliche Kategorie von Tätigkeiten, sondern sei ein Überbegriff für Tätigkeiten, die im englischen play (das freie Spiel - Gestaltungs-, Rollenspiele), game (Zug-um-Zug-, Karten-, Brett- aber auch viele elektronische Spiele), gambling (Wettspiele) und sports (Bewegungsspiele) genannt werden.
Oft hört man auch, ein Spiel müsse ein Ziel - ein messbares Ergebnis - haben. Doch auch das relativiert sich beim Nachfragen schnell. "Das Ziel muss ... nicht von der Spielumgebung vorgegeben sein, es kann auch ein informelles sein, vom Spieler gewählt, wie einfach die Welt zu erkunden, Spaß zu haben, etwas Neues zu erleben, etwas auszuprobieren und so weiter", fasst Alexander Pfeiffer, Leiter des Zentrums für Angewandte Spielforschung an der Donau-Universität Krems, zusammen.
"Das Problem an vielen Definitionen ist, dass sie meist etwas amputieren. Bei Huizinga etwa wäre das Glücksspiel korrumpiert, da es nicht zweckfrei ist", merkt Strouhal an.
Wittgenstein und Familienbande
Das Spiel entzieht sich also einer eindeutigen Definition. Worauf sich die von APA-Science befragten Wissenschafter neben dem "so-tun-als-ob" im Spiel einigen können, ist die Herangehensweise des österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein. In seinen Philosophischen Untersuchungen (§66 und 67) schreibt er: "Gibt es überall eine Konkurrenz der Spielenden? Denk an Patiencen. Gibt es Gewinner und Verlierer? Wenn ein Kind einen Ball an die Wand wirft und wieder auffängt, ist dieser Zug verschwunden. Schau, welche Rolle Geschick oder Glück spielen... Denk nun an Reigenspiele... Was ist noch ein Spiel und was keines mehr? Kannst du eine Grenze angeben? Nein." Demzufolge gibt es also keinen konkreten Rahmen, in dem man das Spiel fassen könnte.
Wittgenstein verweist darauf, dass man mehr auf die Familienähnlichkeiten, die die unterschiedlichsten Spiele verbinden, achten sollte. Verschiedene Spiele zeichnen sich durch ähnliche Elemente aus. Doch keines weist alle Elemente auf.
"Es wird viel - speziell in der Geisteswissenschaft - Zeit dafür verbraucht, zu erklären, was Spiel eigentlich ist. Da geht meiner Meinung nach sehr viel Elan verloren, bis man zur eigentlichen Analyse kommt", erklärt Eugen Pfister von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), der seinen wissenschaftlichen Fokus vor allem auf das Gebiet der Videospiele gelegt hat, im Gespräch mit APA-Science. Er nähert sich der Frage pragmatisch an, indem er darauf achtet, "was im Alltag von der Mehrheit als Spiel bezeichnet wird. Trifft das zu, kann ich es in die Analyse mit einbeziehen."
Für Strouhal als Wissenschafter ist es wiederum fruchtbarer, zu schauen, welche Spannungen entstehen in der Tätigkeit des Spielens, als lange über Definitionen zu brüten.
Arten des Spiels
Er meint, es sollten - ähnlich play, game, gambling, sports - verschiedene Spielarten differenziert werden, "die unterschiedlich Erzählungen hervorbringen". Er orientiert sich dabei an der Einteilung des französischen Soziologen und Huizinga-Schülers Roger Cailloise.
Dabei handelt es sich um das agonale Spiel (Wettspiele wie Schach, Fußball usw.), die von der Konkurrenz und dem Bedürfnis nach Fairness erzählen. "Um das Ringen mit dem Schicksal" geht es bei den aleatorischen Spielen (Glücksspiele). Bei den Verkleidungsspielen oder Mimikry (vom Kindesalter bis zum Burgtheater) steht das Spiel mit der eigenen Identität im Vordergrund. Die rauschhaften Spiele (illinx) umfassen das verrückte Kreiseln von Kindern bis zum Bungee-Jumping oder auch den Darkroom in einem S/M-Studio. Das "außer-sich-sein" und der Umgang mit dem Kontrollverlust werden thematisiert.
Der österreichische Mathematiker und Spieltheoretiker Karl Sigmund schreibt zu den Punkten Definition und Einteilung in einem Blog: "Selbst angeborenes Spielverhalten ist ... frei von Zwang, ist programmierte Offenheit. Diese Offenheit macht es so schwer zu umschreiben, wie keine andere biologische Funktion. Psychologen unterscheiden Funktionsspiele, Fiktionsspiele, Konstruktionsspiele, Rollenspiele und so fort, aber die Grenzen sind fließend."
Zur Entstehung des Spiels und Spielens wiederum haben sich mehrere Theorien entwickelt, darunter zum Beispiel die Kraftüberschuss-Theorie (Abbau und Umgestaltung überschüssiger psychischer und physischer Energie), die Einübungstheorie (Trainieren von elementaren Überlebenstechniken), die Trieb-Theorie (Trieb als treibende Kraft des Spiels bei Säugetieren), Huizingas Kulturschaffungs-Theorie oder auch die Kognitions-Theorie (Spiel spiegelt die Intelligenzentwicklung verschiedener Lebensphasen wider) usw.. Mittlerweile verfolgt die Wissenschaft einen pluralistischen Ansatz, der sich aus Elementen der verschiedenen Theorien zusammensetzt.
Das Spiel als Komplexitätsreduktion
Das Spiel/Spielen erfüllt laut Strouhal anthropologisch zwei Funktionen (siehe auch "Die Entwicklung des Spiels, ein Abriss"). Einerseits simplifiziert jedes Spiel die Welt, es dient zu deren Erklärung. Der Spielende unterwirft sich einem Ensemble von Regeln und kann darin die Welt erklären. Der Vorteil des Spiels ist, dass es relativ einfache Regeln und recht klare Ziele hat, was für das Leben nur sehr bedingt gilt.
Andererseits entlastet das Spiel. Es erlaubt im Rahmen der Spielregeln sogar ein gewisses "amoralisches Verhalten", da die Regeln des Lebens nicht gelten. Es sind Dinge erlaubt, die außerhalb des Spiels - in der Gesellschaft - schwer verpönt wären. Huizinga spricht in diesem Zusammenhang vom "Zauberzirkel des Spiels, wo der Mensch von seinem Über-Ich suspendiert". Als Beispiel führt Strouhal den Karneval an: "Er entlastet den Menschen von den sonst üblichen gesellschaftlichen Konventionen. Er ist aber keineswegs Regeln enthoben, sondern unterliegt ganz eigenen. Er (der Karneval, Anm.) dient als Entlastung von den Regeln der Gesellschaft, spiegelt diese aber gleichzeitig. Spielregeln sind historisch betrachtet Wunsch und Zerrspiegel der jeweiligen Gesellschaft."
Beitrag zur Identitätsfindung
"Im Grunde wird der Mensch bereits im Kindesalter spielend sozialisiert", erläutert Pfister. Die Welt werde durch das Spiel begreifbar gemacht. Dabei lerne man in einem sicheren Rahmen, "in dem man sich ausprobieren kann", grundlegende Werte, Normen, Tabus und Regeln des menschlichen Zusammenlebens kennen. Im Kindesalter trägt es laut dem Spielhistoriker zur Identitätsfindung bei.
Der Mensch lernt in Spielen die Welt Schritt für Schritt kennen, das gilt auch noch als Erwachsener. Spielelemente werden seit jeher auch außerhalb der Spielumgebung im Alltag gezielt eingesetzt (siehe auch "Gamification - Neuer Name für altes Kind").
"Wir begegnen in Spielen andauernd politischen und kulturellen Motiven, das gilt auch für Videospiele. Man sollte aufhören, fast ausschließlich die Gefahr derartiger Motive zu thematisieren. Man lernt die Welt bekanntlich nicht nur durch Familie, Freunde und Schule kennen, Massenmedien mit all ihren Für und Wider spielen ebenso eine Rolle. Das ist eben Teil unserer Kultur", plädiert Pfister für einen weniger aufgeregten und mehr analytischen Umgang mit elektronischen Spielen. Er attestiert aber bereits eine gewisse Normalisierung im Umgang mit Videospielen. Er vergleicht ihn mit Filmen, die rezensiert werden. Dann gebe es halt gute, weniger gute und eben auch schlechte Spiele. Das habe auch eine bereinigende Funktion - wie bei Filmen. "Schlechte Filme sind kein Geschäft."
Der Markt und die Chancen
Überhaupt stellen die elektronischen Spiele eine weniger große Gefahr für Brett- und Kartenspiele dar, als lange vermutet. In den 1990ern war bereits die Rede davon, dass die Brettspiele komplett verschwinden werden. Besonders der Spielwarenhandel war besorgt. Mittlerweile zeigt sich, dass Brett- und Kartenspiele sehr wohl weiter bestehen können. Sogar von einer Renaissance der Brettspielekultur wird gesprochen. "Die traditionellen Spiele feiern ein Revival", bestätigt Johannes Schüssler, Vorsitzender des Fachausschusses Spielwarenhandel der Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ). Gefragt seien vor allem von den Regeln her leicht zu spielende Gesellschaftsspiele, bei denen Geselligkeit und Spaß im Vordergrund stehen und die nicht so lange dauern.
Das sieht auch Pfeiffer so: "Die soziale Komponente ist nach wie vor sehr wichtig. Bei Brettspielen ist es das bewusst nicht vor dem PC, der Konsole oder dem Smartphone sitzen, das reizt, oder auch Zeit mit Familie und Freunden zu verbringen. Das sind Punkte die dem klassischen Spiel auch zukünftig seine Berechtigung geben."
Die Geschichte hat gezeigt, dass das Aufkommen eines neuen Mediums dazu führt, alte Medien für tot zu erklären. In Wirklichkeit ist das nur ganz selten der Fall. So werden auch Brettspiele weiter bestehen, allein aufgrund ganz anderer Dynamiken als bei Video- und Onlinespielen, sind sich die Experten einig. "Alle Spielsysteme wie Brett-, Karten-, Bildschirm- aber auch Hybrid-Spiele (Kombination von virtuell und nicht-virtuell) werden parallel existieren und sich den Markt gut aufteilen", glaubt Pfister.
"Wenn wir die Verkaufszahlen bei Ravensburger und Co. ansehen, dann stellen wir Zuwächse fest. Der Brettspielmarkt konnte sich in Abgrenzung von den Computerspielen behaupten", meint auch Buland: "Auf der anderen Seite kämpfen die Entwickler von Ego-Shooter-Spielen mit gravierenden Umsatzeinbußen. Die Zeit, da alle Jugendlichen ballerten, ist vorbei." Wachstumschancen verortet er eher im Bereich der sozialen und ästhetisch anspruchsvollen Computerspiele. Ein ganz eigener Sektor, der gerade boomt, ist der eSport-Bereich - die Diskussion, ob und warum Sport, ist noch nicht abschließend geklärt. Hier erfolgt gemäß Buland eine massentaugliche Inszenierung.
Videospiele, modern und trotzdem konservativ
Trotz der Renaissance der traditionellen Spiele "ballert", "jumped" und "adventured" sich bereits die nächste Generation der "digital natives" bevorzugt durch die elektronische Spielewelt. Dort haben die vergangenen 30, 40 Jahre auch die aufregendsten Veränderungen - technisch wie auch inhaltlich - stattgefunden.
"Videospiele sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen", das hört Pfister nicht gerne: "Die waren schon immer in der Mitte. Gewisse Videogames sind schon lange im Wohnzimmer präsent." Das Medium lasse mehr zu, als bisher angenommen wurde. Man gehe weg von dem Konsens, nur Gewalt verkauft sich. Pfister nennt hier die "Indieszene", wo Sachen ausprobiert werden. Die großen Konzerne tun sich wie alte Schlachtschiffe schwer bei alternativen Ansätzen. Sie bevorzugen den "konservativen" Weg, reproduzieren mehr oder weniger, was bisher wirtschaftlichen Erfolg gebracht hat.
Unabhängige Entwickler seien da mutiger und würden neue Zugänge wählen. Pfister sieht hier aber eine Wandlung hin zu mehr kooperationsbetonenden Ausgangsszenarien, wie er anhand zweier neuer "Indiegames" aus Österreich (Lion's Song, Path out) unterstreicht. Dabei geht es zum Beispiel um die Aufarbeitung eines Kriegstrauma, Tod des eigenen Kindes, die Tätigkeit eines Grenzbeamten, der über Einreisevisa entscheiden muss usw.. Der Konflikt werde also nicht unbedingt nur durch den Einsatz von Gewalt gelöst. "Das Portfolio von Videospielen werde sich in den nächsten Jahren stark erweitern", glaubt Pfister.
"Spiel gilt als ein Treiber von Technologie und Technologie wiederum ist wichtig für den aktuellen state-of-the-art der elektronischen Spiele", beschreibt Pfeiffer den sich befruchtenden Kreislauf. Die Zukunftstrends sind laut dem Wissenschafter Augmented Reality (AR) und Virtual Reality (VR). "Da wird sich in den nächsten Jahren viel tun. Pokemon go hat bereits gezeigt, wo es hingehen wird."
Von Hermann Mörwald / APA-Science