"Bildung trotz Schule. Wie Potenziale verkannt werden"
Migration und migrationsbedingte Entwicklungen wurden in Österreich lange Zeit als Abweichung von einer Normalität der Sesshaftigkeit betrachtet und daher überwiegend als Konfliktpotenzial wahrgenommen. Die Rede von der Zerrissenheit zwischen zwei Welten ist hinlänglich bekannt. Dass Migration auch Mobilitätserfahrung bedeutet, die in der globalisierten Welt als unverzichtbare Ressource gilt, wurde bisher weitgehend ignoriert. Auch die Schulen gingen lange Zeit davon aus, dass Kinder, deren Eltern oder Großeltern nach Österreich eingewandert waren, nicht in die hiesige Bildungsnormalität passen würden. Ihre spezifischen familiären Ressourcen wurden und werden dabei weitgehend außer Acht gelassen.
Nicht ohne Grund haben international vergleichende PISA-Studien auf die mangelnde Chancengleichheit des österreichischen Bildungssystems hingewiesen. Mehrgliedrigkeit und strenge Selektion sorgen für die Exklusion eines Teils der Schülerschaft von qualifizierten Bildungskarrieren. Schülerinnen und Schüler aus sogenannten bildungsfernen Milieus und solche mit Migrationshintergrund sind von diesen Ausschlussmechanismen besonders betroffen. Das Schulsystem wird langfristig nicht in der Lage sein, dem gesellschaftlichen Auftrag Bildung für alle gerecht zu werden, so lange es spezifischen Normalitätserwartungen verhaftet bleibt: Der ideale Schüler ist einheimisch, einsprachig sozialisiert, entstammt einer Mittelschichtsfamilie, die den passenden bildungsbürgerlichen Habitus gleich mitliefert - zu dem natürlich auch Fremdsprachen gehören, aber nur die richtigen. Jede andere Mehrsprachigkeit oder doppelte Erstsprachigkeit wird als störend empfunden. In dieser Hinsicht bleibt das Schulsystem strukturkonservativ, mittelschichtorientiert und monolingual.
In krassem Gegensatz dazu stehen allerdings die Lebenswirklichkeiten - eine Diversität, die im Kontext von Migration und Pluralisierung in den letzten Jahrzehnten zugenommen hat und durch globale Vernetzung weiterhin zunehmen wird. Dadurch steht das Schulsystem zu Beginn des 21. Jahrhunderts mehr denn je vor dem Erfordernis struktureller Reformen. Unerlässlich ist es dabei, die alltagsweltliche Vielfalt in ihren verschiedenen Dimensionen als Normalität anzuerkennen und zur Basis schulischer Bildungspraxis zu machen. Mobilitätserfahrungen, migrationsbedingte Fähigkeiten und Kompetenzen sollten als Lernpotenziale in einer globalisierten Welt entdeckt und genutzt werden. Mehrsprachigkeit, grenzüberschreitende Netzwerke und transkulturelle Lebensentwürfe sind Ressourcen, auf die Migrationsfamilien zurückgreifen können. Ihre Anerkennung in Schule und Ausbildung würde sich motivierend auf die betreffenden Kinder und Jugendlichen auswirken und erfolgreiche Bildungskarrieren fördern. Wirkliche Bildungsprozesse kann es nur geben, wenn Schulen transkulturelle Kompetenzen, mehrheimische Zugehörigkeiten und hybride Lebensentwürfe von Kindern und Jugendlichen als Normalität anerkennen und in ihre Bildungsziele und -inhalte einfließen lassen.
Wir brauchen eine diversitätsbewusste Bildungswirklichkeit, ein neues Bildungsverständnis, das offen und sensibel für Wandlungsprozesse ist. Wir leben mit Vielfalt und wir leben gut damit.