Auch Hochbegabte müssen ihr Gehirn trainieren
Ist es sinnvoll, Hochbegabte noch zusätzlich zu fördern? Die klare Antwort lautet: Ja. Zu diesem Ergebnis kam unter anderem eine Langzeitstudie aus den USA, welche die daran beteiligte US-Bildungsforscherin Camilla Persson Benbow bei einer Konferenz Anfang März in Wien vorstellte.
Die Ausgangsfrage zur 1971 mit Teenagern gestarteten Studie war: Kann man künftige "Leader", die in ihrem späteren Leben also Aufgaben zum Wohle der Gesellschaft übernehmen, bereits früh identifizieren? Ja, sind sich die Studienautoren vier Jahrzehnte später einig.
Im Zuge von Leistungstests wurden 1.650 mathematisch hochbegabte (aus dem obersten Prozent der Bevölkerung) 13-Jährige in die Studie aufgenommen, davon 1.037 Buben und 613 Mädchen. Über vierzig Jahre hinweg wurden Daten über ihren Werdegang, ihre Leistungen, psychische Befindlichkeit, Familie, Lebenspläne und Prioritäten gesammelt. Es zeigte sich: Ihre Leistungen lagen in allen Bereichen weit über den Erwartungen. Zugleich waren sie mit ihrem bisherigen beruflichen und privaten Leben sehr zufrieden. Überdurchschnittlich hoch lagen sie bei der Höhe des Einkommens, der Zahl der Patente, Publikationen und absolvierten Doktoratsstudien.
Karriere, Geld, Zufriedenheit
4,1 Prozent hatten eine Lebenszeitprofessur (Tenure Position) an einer größeren Forschungsuniversität inne, 2,3 Prozent waren als Top-Führungskräfte in Fortune 500- bzw. vergleichbaren Unternehmen tätig. 2,4 Prozent waren Juristen bei größeren Unternehmen bzw. Organisationen. Im Schnitt hatten die Studienteilnehmer bis zu dem Zeitpunkt 85 Bücher und 7.572 von unabhängigen Experten begutachtete (peer-reviewed) Artikel publiziert. Sie waren Inhaber von 681 Patenten und hatten Drittmittel (Grants) in der Höhe von 358 Millionen Dollar eingeworben.
Etwas mehr Männer (82 Prozent) als Frauen (76 Prozent) waren verheiratet. Die Einkommen der Männer lagen im Durchschnitt weit über denen ihrer Ehefrauen. Die Einkommen der teilnehmenden Frauen hingegen lag marginal unter jenen ihrer Ehemänner. Unverheiratete Frauen verdienten mehr als verheiratete. 89 Prozent der Männer und 69 Prozent der Frauen waren Vollzeit berufstätig. Männer wiesen ein Jahreseinkommen von 150.000 USD, Frauen von 101.000 USD auf.
Zielstrebige Männer, breiter interessierte Frauen
Die unterschiedlichen Karriereverläufe von Männern und Frauen ließen sich durch Lifestyle-Präferenzen, Prioritätensetzung und der Zeit, die man dem Beruf widmete, erklären. Die Frauen zeigten sich deutlich weniger gewillt, ihr Privatleben dem Beruf gänzlich unterzuordnen.
Während die männlichen Studienteilnehmer individualistischer dachten, lag den Frauen mehr an der Teilhabe am sozialen und gesellschaftlichen Leben. Die diesbezüglichen Einstellungen hatten sich offenbar mit rund 30 Jahren gefestigt - sie waren ident mit den Angaben, die die Menschen in ihren 50ern machten. Die Ziele der Männer: mehr Geld, einen Beitrag zur Gesellschaft leisten, beruflicher Erfolg - mit dieser Fokussierung gelang es den Männern, auf der Karriereleiter rasch voranzukommen.
Bei den weiblichen Teilnehmerinnen stand die Familie als Priorität ganz oben - gefolgt von unterschiedlichsten Tätigkeiten und Interessen. "Der Tag hat nur 24 Stunden, und wir könnten noch so viele andere Dinge tun", brachte es Benbow auf den Punkt. Dennoch zeigte sich, dass beide - Männer wie Frauen - mit ihrem bisherigen beruflichen Leben genau gleich zufrieden waren. "Das ist eine wichtige Erkenntnis: Wir müssen akzeptieren, dass die Geschlechter unterschiedliche Lebensentwürfe anstreben", so die Forscherin.
Mathe, Sprache, räumliches Vorstellungsvermögen
"Welche Begabung braucht ein Individuum, um ein Innovator von morgen zu werden?", fragte Benbow. Werden alle Top-Talente später zu Leistungsträgern? Engagement sei wichtig, aber Begabung spiele auf jeden Fall eine große Rolle - je mehr davon, desto besser. "Und es kommt nie der Punkt, an dem man sagen könnte, ab jetzt ist sie egal", betonte Benbow. Das Niveau der Begabung sei höchst entscheidend. Auf welche Bereich sich ein Jugendlicher letztlich spezialisieren würde, sei allerdings so früh noch überhaupt nicht festgelegt.
Erwiesen sei, dass das räumliche Vorstellungsvermögen sehr oft Hand in Hand mit mathematischer Begabung gehe. Wem diese Eigenschaft fehle, der wende sich eher den Geisteswissenschaften zu. "Es gehen unzählige potenzielle Mathematik-Studenten verloren, weil man diesen Aspekt zu wenig fördert", meinte die Forscherin. Mathematik, Sprache und räumliches Vorstellungsvermögen sind für die Forscherin die wesentlichen Bereiche, an denen sich Hochbegabung zeige.
Gehirn muss sich anstrengen
Abgefragt wurde in der Studie auch Maßnahmen zur Begabungsförderung während der Schulzeit - "wie oft musstest du dein Gehirn anstrengen?" Während viele der Effekte von vorschulischer Förderung später verpufften, sei Begabungsförderung nachweislich niemals überflüssig. "Wer stark gefördert wurde, hatte auch im späteren Leben mehr Erfolg." Schüler, die ein Jahr übersprungen hatten, wiesen deutlich mehr Ph.D-Abschlüsse, naturwissenschaftlich-technische Universitätsabschlüsse und Publikationen auf als die anderen Teilnehmer.
Der Nutzen einer "pädagogischen Intervention" bleibe ein Leben lang - es sei sogar ganz wesentlich, in den Teenager-Jahren fördernd einzugreifen, meinte die Forscherin. "Das Internet, Google - das alles wurde von Menschen erfunden, die damit die Gesellschaft positiv verändert haben", sagte sei.
Die Angst, Kinder würden beim Überspringen einer Klasse Defizite in anderen Fächern nicht aufholen, hält sie für völlig unbegründet. "Hochbegabte lernen anders. Es macht sie wahnsinnig, wenn man ihnen etwas Schritt für Schritt beibringen will. Sie haben ihre eigene Herangehensweise und holen Lücken irrsinnig rasch auf", betonte sie und wies darauf hin, wie wichtig für hochbegabte Kinder Herausforderungen seien. "Auch sie müssen lernen, sich anzustrengen - weil ihnen alles so leicht fällt, lernen sie das Lernen sonst nicht."
Service: Studie "Life Paths and Accomplishments of Mathematically Precocious Males and Females Four Decades Later" - David Lubinski, Camilla P. Benbow, and Harrison J. Kell