Begabungsforscher für Entmystifizierung von Hochbegabung
Mit Aussagen wie "jedes Kind ist hochbegabt" kann der Begabungsforscher Roland Grabner von der Universität Graz ebenso wenig anfangen wie mit der hartnäckigen Tendenz, hochbegabte Menschen in irgendeiner Form mystisch zu verklären. Weder sei es sinnvoll, den Begriff inflationär zu verwenden, noch Menschen, die in bestimmten Bereichen Herausragendes leisten, auf ein zu hohes Podest zu stellen und damit vom Rest der Bevölkerung ein Stück wegzurücken. Die Wissenschaft könne zum Aufräumen mit solchen Mythen einiges beitragen, erklärte Österreichs einziger Professor für Begabungsforschung APA-Science.
"98 Prozent der Kinder kommen hochbegabt zur Welt. Nach der Schule sind es nur noch 2 Prozent" - mit dieser Aussage wurde etwa die Film-Dokumentation "Alphabet" des österreichischen Regisseurs Erwin Wagenhofer aus dem Jahr 2013 quasi untertitelt. So eindrücklich dieses Zitat auch ist, wisse eigentlich niemand genau, woher es kommt bzw. auf welchem wissenschaftlichen Unterbau es fußt. Sein Ursprung dürfte in einer US-Studie aus den 1960er oder 1970er Jahren mit einem Kreativitätstest der NASA liegen. Diese Arbeit würde zwar gerne in Medien zitiert, in Wirklichkeit sei die Studie "als wissenschaftliche Arbeit gar nicht auffindbar", so Grabner.
Schule macht im Schnitt nicht unkreativer
Der oft indirekt auf Basis dieser ominösen Studie gezogene Schluss, dass das Bildungssystem Kreativität oder Hochbegabung zerstöre, gehöre zudem eher in den Bereich "Bildungsmythen". Denn wissenschaftliche Untersuchungen zur Kreativitätsentwicklung über die gesamte Kindheit hinweg würden großteils in die andere Richtung weisen. Die Kreativität nimmt demnach über die Schulzeit hinweg eher zu. "Das ist auch sehr plausibel. Denn um kreativ zu sein, braucht man Wissen, das man in neuartiger Weise kombinieren kann. Das heißt aber natürlich nicht, dass es keinen Unterricht gibt, der kreativitätshinderlich sein kann", sagte der Wissenschafter.
Die ebenfalls oft geäußerte Aussage "jedes Kind ist hochbegabt" sei aus wissenschaftlicher Sicht genauso "unsinnig", wie die Aussage "jedes Kind ist gleich". Grabner: "Tatsächlich ist es so, dass es verschiedene Begabungsfacetten - wie die intellektuelle, kreative oder musikalische usw. - gibt, und sich die Menschen in all diesen Begabungsfacetten unterscheiden. Ein Großteil ist in diesen Facetten durchschnittlich begabt und ein kleinerer Teil hat eine überdurchschnittliche Begabung oder vielleicht sogar eine Hochbegabung." Natürlich verfüge jedes Kind über ein einmaliges individuelles Potenzial, das entwickelt werden muss, aber eine Omnipräsenz von Hochbegabung lasse sich daraus nicht ableiten.
"Begabung" und "Talent" ist nicht das gleiche
Manchen Verirrungen in Bezug auf Hochbegabung liegen auch begriffliche Unschärfen zugrunde. Aus wissenschaftlicher Sicht ist mit "Begabung" das grundsätzliche Leistungspotenzial eines Menschen gemeint, das erst durch Lernen und Training umgesetzt werden kann. Von "Talent" sprechen Experten hingegen wiederum, wenn in einem bestimmten Bereich schon gewisse Leistungen gezeigt werden. Messen lassen sich Potenziale in verschiedenen Domänen unterschiedlich gut. Im intellektuellen Bereich funktioniere das mit Intelligenztests relativ gut. Hier habe man sich darauf geeinigt, von "Hochbegabung" zu sprechen, wenn Menschen in Test-Teilen Ergebnisse erzielen, die nur zwei oder drei Prozent der Bevölkerung erreichen - eine gewissermaßen willkürliche Definition, wie auch Grabner einräumte.
"Personen mit einem IQ von 130 denken jedoch nicht qualitativ anders als Personen mit einem IQ von 110. Sie denken effizienter und schneller", betonte der Forscher. Deshalb sei es sinnvoller, von "Begabung" als Dimension zu sprechen, von der es unterschiedliche Ausprägungen gibt. Fixe IQ-Grenzen als Voraussetzung für den Besuch einer bestimmten Schule oder den Zugang zu Förderungen seien eher ökonomischen Überlegungen geschuldet als psychologischen Gründen.
Lange Forschungsgeschichte
Mit dieser Thematik beschäftigen sich die Psychologie und die Erziehungswissenschaften schon seit mehr als 100 Jahren. Er selbst habe zwar den einzigen Lehrstuhl in Österreich zur Begabungsforschung inne, sei allerdings bei weitem nicht der einzige heimische Wissenschafter, der in dem Bereich forscht, erklärte Grabner. Das Spezielle am vom Wissenschaftsministerium unterstützten Forschungsbereich in Graz sei, dass neue Methoden der Neurowissenschaften und die Übertragung von Erkenntnissen aus der Grundlagenforschung in die (schulische) Praxis stark im Vordergrund stehen.
Gleiche Lösung, andere Muster
Mit dem Blick ins Gehirn, gepaart mit klassischen Ansätzen der Verhaltensbeobachtung, wollen Grabner und Kollegen mehr über die Grundlagen von Begabungsunterschieden und schulrelevanten Lernprozessen herausfinden. Gerade die neuen neurowissenschaftlichen Methoden eröffneten in den vergangenen Jahren völlig neue Möglichkeiten. So können etwa zwei Personen eine Aufgabe gleich gut lösen, wie unterschiedlich ihre beiden Gehirne bei der Lösung des Problems arbeiten, lag vor dem Zeitalter von EEG, MRT und Co. aber weitgehend im Dunkeln. Grabner: "Das ist der Wert der zusätzlichen Analyseebene, die man jetzt hat". Eine wiederkehrende Erkenntnis daraus ist etwa, dass Hochbegabte offenbar effizienter denken.
In Graz widmen sich die Wissenschafter vor allem den mathematischen Begabungsunterschieden und Lernprozessen, "weil das ein Bereich ist, der für den Erfolg im Leben sehr zentral ist, bisher in der Forschung aber zu wenig beachtet wurde". Das Spektrum reicht von Lernstörungen in dem Bereich (Dyskalkulie) bis zur Hochbegabung.
Was bedeutet eigentlich "fünf"?
Eine Leitfrage dabei: Worin unterscheiden sich Personengruppen mit niedriger, normaler und überdurchschnittlicher mathematischer Kompetenz? In dieser Hinsicht kompetentere Personen könnten etwa weit effizienter mit Symbolen, also mit Zahlen selbst oder auch Rechensymbolen, umgehen. "Kinder mit Dyskalkulie haben in der Regel weniger Probleme damit, Mengen zu verarbeiten, wenn diese etwa als Punkte dargestellt sind. Schwieriger wird es für sie, wenn es darum geht, zu verstehen, was die Ziffer fünf bedeutet - also dass das Symbol für die Menge 'fünf' steht", sagte Grabner. Das Erlernen von Symbolen und des effektiven Umgangs damit dürfte folglich ein ganz wichtiger Schritt in der mathematischen Entwicklung sein. Das ist eine wichtige grundlegende Erkenntnis, denn "letztendlich wollen wir dazu beitragen, dass der Mathematikunterricht verbessert werden kann".
Mathematisch Hochbegabten fällt wiederum nicht nur der Umgang mit Symbolen leicht, sie können auch sehr gut logisch schlussfolgern oder Muster in Informationen erkennen. Obwohl man hier noch vieles nicht wisse, scheint es auch hier so, dass Hochbegabte nicht komplett anders denken oder lernen, sondern "aufgrund ihrer Hochbegabung mehr Kapazität zur Verfügung haben, komplexere Sachverhalte verarbeiten zu können - was auch generell für Hochintelligente im Vergleich zu durchschnittlich intelligenten Personen gilt".
Der hochbegabte Sonderling ist eher eine Legende
Dem Wissenschafter ist es wichtig festzuhalten, dass Hochbegabte zwar in einer bestimmten Leistungsfacette ein höheres Potenzial haben, sich sonst aber kaum von Nicht-Hochbegabten unterscheiden. Grabner: "Sie haben ähnliche Interessen und sie haben vergleichbare Persönlichkeitsstrukturen. Es hat sich nicht bestätigt, dass sie irgendwie abweichende Persönlichkeiten hätten, wie man früher angenommen hatte. Aber sie brauchen auch spezielle Unterstützung, damit sie ihr Potenzial umsetzen können."
Potenzial ohne Entwicklungsmöglichkeit kann sich negativ auswirken
In einem Schulsystem, das etwa ein Fünftel der Schüler lediglich mit Grundkenntnissen in wichtigen Bildungsbereichen wie dem Lesen verlassen, könnte man argumentieren, dass ein Fokus auf Begabtenförderung reiner Luxus ist. "Aus der Sicht der Psychologie ist aber klar, dass Hochbegabte von regulären Schulangeboten relativ rasch unterfordert und frustriert werden. Das kann viele negative Konsequenzen bis hin zu psychischen Störungen, Depression und sozialen Rückzug nach sich ziehen."
Helfen könne eine Beschleunigung - oder "Akzeleration" - des Durchlaufens des Schulsystems, also etwa das Überspringen einer Klasse oder eine frühere Einschulung. Unter die Kategorie "Enrichment" fallen zusätzliche Angebote über die "normalen" schulischen hinaus. Eine dritte Kategorie lässt sich unter dem Begriff "Fähigkeitsgruppierungen" zusammenfassen: Hierunter fallen etwa eigene Hochbegabten-Klassen oder eigene Schulen. Alle drei Maßnahmen haben sich laut dem Begabungsforscher als effektiv herausgestellt.
Glücklicherweise würden Förderprogramme zunehmend wissenschaftlich begleitet oder sich an wissenschaftlichen Erkenntnissen orientieren. "Das ist meiner Ansicht nach nicht immer so gewesen", erklärte Grabner, denn gerade in der Bildung gebe noch sehr viele Mythen, denen man nur wissenschaftlich fundiert gegenübertreten könne.
Daten gegen Klischee der sozialen und emotionalen Defizite
So wirke etwa das alte Klischee, "dass alle Hochbegabten im sozialen oder emotionalen Bereich irgendein Defizit haben müssen, weil es sonst quasi nicht fair wäre", auch heute noch bei Lehrpersonen nach, sagte Grabner. In Längsschnittstudien habe sich das aber fast durchwegs nicht bestätigt: "Insgesamt kann man sagen, dass sie sich mindestens genau so gut entwickeln wie Nicht-Hochbegabte, und in dem Zusammenhang auch nicht mehr Probleme haben."
Von Nikolaus Täuber / APA-Science
Service: Homepage des Forschungsschwerpunktes "Begabungsforschung" an der Uni Graz: https://psychologie.uni-graz.at/de/begabungsforschung