Experte: Hochbegabte sollen auch das Nicht-Verstehen lernen
Bei aller Unterstützung, die hochbegabte Menschen benötigen, um ihr Potenzial auszuschöpfen, sei es ebenso wichtig, sie auch an einen Punkt zu führen, an dem sie einmal etwas "nicht verstehen". Das erklärte der Theologe und Philosophieprofessor Clemens Sedmak anlässlich eines Vortrages in Wien. Gerade weil extrem talentierte Menschen oft dazu neigen, sich zu isolieren oder isoliert zu werden, müssten sie auch außerhalb ihrer Komfortzone Erfahrungen sammeln. Im besten Fall lerne man auf diesem Weg Bodenhaftung und sein Talent nicht nur für sich selbst einzusetzen, so der Forscher.
Aus Sicht der christlichen Soziallehre seien persönliches Eigentum und die Begabungen einer Person in gewisser Weise vergleichbar - denn mit beidem gehe eine Verpflichtung zum Teilen einher. "Es ist nicht der Fall, dass was du besitzt, nur dein Eigentum ist", wie der Leiter des Zentrums für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg und Professor für Sozialethik am King's College London ausführte. In Bezug auf Hochbegabung heiße das, "meine persönlichen Talente sind nicht nur meine, ich muss auch diese teilen".
Soziale Kompetenzen statt hochtalentierter Gewinnmaximierer
Es reiche demnach nicht aus, dass Hochbegabte "nur" ihre herausragenden Fähigkeiten in bestimmten Gebieten entwickeln, es brauche auch eine damit einhergehende (Weiter-)Entwicklung sozialer Fähigkeiten. Ist das nicht der Fall, laufe man Gefahr, es zunehmend mit hochtalentierten "Monstern", die nur ihre Eigeninteressen vorantreiben, zu tun zu haben. Daher müsse die soziale Komponente in Hochbegabten-Programmen zwingend mitbedacht werden, so Sedmak bei der Tagung "Talents in Motion" des European Council for High Ability (ECHA), die Anfang März in Wien über die Bühne ging.
Wenn talentierte Menschen ihre Begabungen falsch einsetzen, etwa weil ihnen der Zugang zu aus gesellschaftlicher Sicht sinnvollen Betätigungsfeldern versperrt ist oder sie sich aktiv dagegen entscheiden, sei das nicht nur eine bedauernswerte Verschwendung von Potenzial, sondern könne auch gefährlich werden. Das lasse sich an vielen Beispielen ablesen: In Österreich etwa am in gewisser Weise hochbegabten Briefbomber Franz Fuchs.
Nicht nur offensichtliche Stärken erkennen
Es gehe also darum, Menschen die Möglichkeiten zu geben, sich ihrer Talente entsprechend sinnvoll zu beteiligen. Dazu sollte eine Gesellschaft in Lage sein, auch Talente von Menschen zu erkennen, die eher am Rande der Gemeinschaft stehen. Gerade Menschen, die in Österreich nicht gut Deutsch sprechen, würden oft Fähigkeiten zu Unrecht abgesprochen.
Man dürfe nämlich nicht vergessen, welch großen Einfluss der soziale Hintergrund auf die Entwicklung habe. "Hat man sicheren sozialen Rückhalt, werden die Talente durchkommen", sagte Sedmak. Menschen, die nicht in Armut aufwachsen, kämen quasi automatisch in viele verschiedene Situationen, in denen sie ihre Begabungen entdecken können - für ärmere Menschen gelte das folglich nicht in gleichem Maße.
Das Nicht-Hineinpassen verhindern
Mit dem simplen Erkennen einer wie auch immer gearteten Hochbegabung ist es aber natürlich nicht getan: Diese Menschen würden nämlich oft Gefahr laufen, isoliert zu werden, "weil sie nicht wirklich hineinpassen". Das treffe noch stärker auf Menschen mit Migrationshintergrund zu, sagte Sedmak. Diesen Personen müsse man einen Ort bieten, der ihnen ein Gefühl von Geborgenheit gibt und sie gleichzeitig herausfordert. "Das ist bei Hochbegabten oft gar nicht so einfach", erklärte der Wissenschafter, der sich an der University of Notre Dame (US-Bundesstaat Indiana) unter anderem am dortigen Center for Social Concerns genau darum bemüht.
Dazu brauche es vor allem eine Bezugsperson - eine Art "Mentor" -, der eine besondere, stabile Beziehung aufbauen kann, den Hochbegabten motiviert, herausfordert und ein guter Zuhörer ist. Sedmak: "Aber ein solcher 'Ort' ist nicht genug. Es braucht auch ein gewisses Ausmaß an 'Entfremdung' davon."
Lernen abseits der Komfortzone
Als Hochbegabter laufe man nämlich Gefahr, in einer Art Blase zu leben. Das sei auch der Grund, warum an der University of Notre Dame der Anspruch verfolgt werde, Studenten aus ihrer Komfortzone herauszuführen, indem sie etwa mehrere Wochen in einer Einrichtung für Waisen in oder außerhalb der USA arbeiten. "Wenn man eine hochmusikalische Studentin acht Wochen lang in einem Obdachlosenheim arbeiten lässt, dann macht das etwas mit der Institution und mit ihr."
Eine weitere wichtige Entfremdungs-Erfahrung sei für viele Hochbegabte, etwas einmal nicht zu verstehen. "Die Fähigkeit, etwas aktiv nicht zu begreifen", erklärte Sedmak zu einem wichtigen Lernziel, "gerade weil sie so oft so vieles verstehen".