Begabte fördern: Wenn die Ausnahme zur Regel wird
Als "Schulversuch für Hochbegabte" wurde die Sir Karl Popper Schule vor beinahe zwanzig Jahren, im Jahr 1998, am Wiedner Gymnasium in Wien ins Leben gerufen. Seit langem setzt die Schule neben der Förderung sehr begabter Jugendlicher im Alter von etwa 13 bis 18 Jahren (9. bis 12. Schulstufe) auch einen Schwerpunkt auf die pädagogische Forschungs- und Entwicklungsarbeit und versucht, Methoden zur Begabungsförderung in die Regelschule zu übertragen.
Den Begriff "Hochbegabung" schätzt Edwin Scheiber, seit sechs Jahren Direktor der Schule, übrigens nicht besonders. "Er ist nicht eindeutig definiert. Wir im Haus sprechen von 'sehr begabt' oder 'besonders begabt'. Wir unterscheiden auch Begabung und Intelligenz. Die Intelligenz ist das, was wir bei den Aufnahmetests messen - es gibt ja nichts anderes, das man messen kann", stellt er im Gespräch mit APA-Science fest. Intelligenz sei Teil einer Begabung - und diese entwickle sich "flexibel und prozessorientiert".
"Hochbegabung heißt für uns, dass ein besonders hohes Potenzial vorhanden ist, etwas zu erreichen - Leistung zum Beispiel. Aber eben nicht nur schulische, sondern auch andere Leistungen. Unser Ziel ist es, die jungen Menschen auf ihrem Weg zu unterstützen", erklärt Scheiber. "Wir betrachten alle unsere Schüler, auch die im Regelgymnasium, als Personen, die sich entwickeln, und jede einzelne davon hat ihre Begabungen. Bei den sehr Begabten geht diese Entwicklung vielleicht schneller und sehr stark individualisiert in Richtung einer hohen Leistungsfähigkeit, die sie möglicherweise auch anstreben", verdeutlicht er die Haltung der Schule.
Kompetenzorientiert und persönlichkeitsstärkend
Die beiden Schulen - der Schulversuch umfasst acht Klassen mit knapp 200 Schülern, das Regelgymnasium 22 Klassen mit rund 500 Schülern - sind nicht nur ohne räumliche Trennung im selben Haus untergebracht, es gibt auch echte Berührungspunkte, erklärt der Direktor. In den Wahlmodulen sind die Schüler gemischt. Dort entscheiden sie sich je nach Interesse und Begabung nicht für Fächer, sondern Themen. Unter den 98 Modulen des Schuljahres 2015/16 finden sich etwa "Propagandafilme", "Thailands Bevölkerung altert", "Mikrobiologie", "Experimentelle Chemie" oder "Der politische Islam im Spannungsfeld der Mystik". Die Lehrer unterrichten sowohl an der Popper- als auch der Regelschule. Neben verpflichtenden einschlägigen Aus- und Weiterbildungen werden regelmäßig auch didaktische und persönlichkeitsbildende Kurse absolviert, viele der Lehrer haben eine Ausbildung zum systemischen Coach für Schüler.
Pro Jahr bewerben sich 120 Jugendliche, davon sei die Hälfte "wirklich geeignet". Aufgenommen werden 48, aufgeteilt auf zwei Klassen pro Jahrgang. Der Anteil der nicht-österreichischen, also zweisprachigen Kinder liegt bei 20 Prozent. "Unsere 'Popper-Schülerinnen und -Schüler' kommen aus den verschiedensten Schulen des Landes, aber vor allem aus Wien und Niederösterreich", erzählt Scheiber. Die meisten Jugendlichen waren zuvor in Gymnasien, einige auch in Neuen Mittelschulen - "aber eher am Land".
Oft werden Eltern auf die Schule aufmerksam. Aber auch Lehrer können erkennen, wenn ein Kind heraussticht, weil es schneller ist, sehr abstrahiert denkt, besonders leistungsbereit und wissbegierig ist oder sich für ungewöhnliche Dinge interessiert. "Es muss dann nicht unbedingt hochbegabt sein, aber das sind gute Voraussetzungen", stellt der Lehrerprofi fest. Manchmal schicken Lehrer auch Kinder, die sich übermäßig langweilen oder bei denen sie das Gefühl haben, die müssten mehr gefördert werden oder einfach mit der Schulsituation nicht zurande kommen, zur Testung zu Beratungsstellen wie dem Wifi, und von dort kommen ebenfalls Bewerber zu uns", erläutert der Direktor.
Völlig neue Situation
"Bei uns müssen sie sich erstmals nicht mehr rechtfertigen, wenn sie sich für etwas Ungewöhnliches interessieren oder einfach immer schneller sind", nennt er die Vorteile der "Segregation". Andererseits würden sie ihre Vormachtstellung verlieren und seien plötzlich nur mehr eine oder einer unter vielen Gleichen - "das wirft Fragen auf", erklärt der Direktor. Der Auseinandersetzung mit der eigenen Person misst Scheiber einen sehr hohen Stellenwert bei - das zwei Jahre verpflichtende Fach "Kommunikation und Persönlichkeitsbildung" soll den Schülern etwa wichtige gruppendynamische Zusammenhänge vermitteln. "Sie fühlen ja, dass sie anders sind. Deshalb soll man das thematisieren. Rollen, die sich hier entwickeln, sollen sie verstehen und hinterfragen lernen", erklärt er.
Unterstützt werden die Schülerinnen und Schüler zudem durch wöchentlich stattfindende Coaching-Einheiten. Unter der Leitung von Lehrer-Coaches reflektieren die jungen Leute ihr Schülersein: "Wie komme ich hier zurecht, wie gehe ich mit einem großen Arbeitspensum um, wie packe ich generell die Schule an, welche Vermeidungsstrategien habe ich?", nennt Scheiber typische Fragestellungen und ist überzeugt, von dem über den Schulversuch finanzierten Angebot würden auch Regelschüler profitieren. "Nicht der Coach gibt den Ton an, sondern die Gruppenteilnehmer erklären sich gegenseitig, wie sie es machen, und das ist das Ziel."
Auch die Beurteilung via Noten wird im Coaching thematisiert: Was kann eine Note, was ist sie wert, wie wichtig ist sie? Denn auch wenn die Popper-Schule theoretisch sehr gut ohne Noten zurecht käme, berge das in der Praxis für die Schüler der Oberstufe zur Matura hin Probleme: "Viele streben ein Studium im Ausland an, und dafür ist ein Notenschnitt erforderlich - und zunehmend sogar eine Prognose über die zu erwartenden Noten", stellt Scheiber fest.
Freies Arbeiten als Schlüssel
Grundsätzlich haben die "Popper-Schüler" in ihrer Stundenplanerstellung viel Autonomie. Neben den Wahlmodulen ist ein vorgegebenes Mindestmaß an Natur- und Geisteswissenschaften zu absolvieren - "es bleibt den Jugendlichen überlassen, worin sie sich vertiefen und was sie unter Umständen weglassen" - ein weiteres Drittel der Lerninhalte ist völlig frei wählbar.
Das ganze Jahr über vollkommen selbstständig lernen die Popper-Schüler in der 7. und 8. Klasse. "In diesen in Form eines 'Lab-Betriebs' geführten Schulstufen erhalten die Schüler ihren Arbeitsauftrag - wo sie den ausführen, bleibt ihnen überlassen, sie müssen nicht einmal anwesend sein." In den Labs - Themenräumen- , die so viele Stunden als möglich offen stehen, finden sie den Lehrer des Fachs oder einen Betreuer samt aller Materialien und Unterlagen. Die Sir Karl Popper Schule ist eine Ganztagsschule - das bedeutet, dass von 8 Uhr bis 18.45 Lehrer anwesend sind, unterrichtet wird auch Samstags. Generell besteht ein Drittel der Stunden an der Schule aus freiem Arbeiten.
Von der Popper-Schule inspiriert, habe man nun auch an der Unterstufe des Regelgymnasiums flächendeckend "freies selbstständiges Arbeiten" eingeführt. Jeweils zwei Wochen im Winter- und Sommersemester gibt es keinen Stundenplan, sondern Arbeitspläne. "Ich kann die Schwächeren fördern, aber eben auch die Stärkeren", lobt Direktor Scheiber das Modell. "Viele Schulen wenden dieses Konzept an, etwa auch die evangelische Schule Berlin Zentrum."
Nicht schneller lernen, sondern mehr
Dass besonders begabte Jugendliche die Möglichkeit erhalten, sich mit ihren vielen Interessen oder einer einzigen Sache ganz eingehend zu beschäftigen, hält der Direktor für grundlegend für ihre Entwicklung. Deshalb befürwortet er das Überspringen einer Klasse in der Unterstufe auch nur bedingt. An der Popper-Schule überspringen die wenigsten, aber auch da habe es schon ein paar Fälle gegeben. "Wir machen es ihnen nicht extra leicht - haben sie aber einen durchführbaren Plan, stehen wir nicht im Weg", erklärt er.
Jemanden nur "schneller durch das System zu schleusen" hält er nicht für zielführend. "Akzeleration muss einen Mehrwert für die Person haben", ist er überzeugt. Entsprechend skeptisch steht er den Hochbegabtenklassen an den beiden niederösterreichischen Gymnasien Keimgasse in Mödling sowie Wieselburg gegenüber, welche die Unterstufe in drei anstatt vier Jahren absolvieren. "Auch bei uns könnten die Popper-Schüler in zwei Jahren den Pflichtteil absolvieren und sich danach bereits auf Matura und Studium konzentrieren." Stattdessen hebt er die Verantwortung der Schule in dieser wichtigen Phase der Persönlichkeitsentwicklung hervor: "Wir müssen uns fragen, was wir den Schülern noch zusätzlich anbieten können", betont er.
Er verweist auf Bayern, wo acht Gymnasien mit Hochbegabtenklassen diese Vorgangsweise gewählt haben: Nicht schneller, sondern mehr. "Natürlich wird manches akzeleriert - dafür geht es in anderen Bereichen stärker in die Tiefe, es gibt mehr Schwerpunkte und außerschulische Angebote, auch was die Reflexion der eigenen Person betrifft", erklärt der Experte. Besagte Gymnasien werden in Bayern zu Kompetenzzentren in der Begabtenförderung weiterentwickelt und sollen andere Schulen bei der Förderung besonders begabter Schülerinnen und Schüler unterstützen.
Plafond noch lange nicht erreicht
Bei der Begabungsförderung in Österreich habe man hingegen noch längst nicht den Plafond erreicht, ist Scheiber überzeugt. Es wäre durchaus Platz für mehrere Schulen nach dem Vorbild der Sir Karl Popper Schule - obwohl Begabungen "nicht notwendigerweise immer im segregativen Bereich" gefördert werden müssten. Breite, offene Lernformen böten viele Möglichkeiten, weil individueller mit den Schülern gearbeitet werden könne. "Ein Kind, das schon sehr viel weiter ist, muss vielleicht eine Schularbeit nicht schreiben und kann sich stattdessen mit einem Buch oder Thema beschäftigen und es präsentieren", erläutert er die Vielzahl an Fördermöglichkeiten. Förderung - nicht nur im kognitiven Bereich - sei zudem auch außerhalb der Schule in Form von Sommerakademien oder Uni-Kinderprogrammen möglich. "Wir haben ja Zehntausende Hochbegabte in Österreich. Man könnte sie in der Regelschule wahrscheinlich genau so gut fördern, wenn man sie frei lernen und ihre Interessen vertiefen ließe", so die nüchterne Analyse.
Vielen Kindern wäre im Unterricht weniger oft langweilig, würde man sie differenziert fördern. "Bei uns am Regelgymnasium gibt es etwa das 'Drehtürmodell', das von der Popper-Schule kommt - das bezeichnet ein partielles Überspringen von einzelnen Gegenständen", erzählt er. Das könnten im Prinzip alle Schulen anbieten, es sei nicht verboten - nur eben sehr viel Aufwand. "Natürlich ist es kompliziert, so zu arbeiten: Ich habe dann vielleicht ein Kind, das eigentlich in die dritte Klasse geht, in Mathematik aber schon in der vierten ist und ein anderes Kind aus der Zweiten, das in Englisch in die Vierte geht, weil es Native Speaker ist, und so weiter. So müsste man in einer Gesamtschule mit Binnendifferenzierung arbeiten", betont der Fachmann. "Aber dann muss ich Schule anders konstruieren, muss das Lehrerdienstrecht neu aufsetzen. Solange ein Lehrer oder das Schulsystem so denkt, dass man nur Lehrer ist, solange man unterrichtet - denn danach werden die Stunden gezählt und bezahlt - und alles andere nichts zählt, solange passt das mit dem Gesamtschulmodell nicht zusammen."
Screenings im Volksschulalter: Wenig aussagekräftig
Damit kein Talent unentdeckt bleibt, werden etwa in Oberösterreich flächendeckende Screenings bereits in den Volksschulen durchgeführt (siehe "Vom Potenzial zur Exzellenz - Hochbegabtenförderung in Oberösterreich"). Solchen Screenings steht Scheiber skeptisch gegenüber: "Man wird sicherlich nicht alle Talente entdecken, schon gar nicht die 'Underachiever' (Anm.: hochbegabte Minderleister - statistisch gesehen betrifft das zwischen 15 und 20 der Hochbegabten )", meint er. Auch habe sich gezeigt, dass Tests in jungen Jahren wenig aussagekräftig seien. "Diese Kinder bleiben vielleicht überdurchschnittlich begabt, was ja auch sehr gut ist, aber fallen nicht außerordentlich aus der Norm", so seine Erfahrung.
Der individuelle Weg ist der richtige
Lose verfolgt die Schule, was aus ihren Absolventen wird. Jährlich vor Weihnachten werden im Rahmen der Veranstaltung "Popper revisited" Absolventen zu Gesprächen mit den Schülern der 7. und 8. Klasse eingeladen. "Ich wähle dafür ganz bewusst verschiedenste Lebenswege aus: vom Künstler über die Entwicklungshelferin, die Medizinerin und den Straight-forward-Studenten, der in kürzester Zeit seine Physik-Dissertation abgeschlossen hat bis hin zum Umsteiger", erklärt der Direktor. "Wir zeigen damit auch: Hochbegabt sein heißt nicht automatisch, dass wir wollen, dass alle nach Cambridge oder Oxford gehen. Wir unterstützen jene, die das anstreben - aber andere gehen einen ganz anderen Weg."
Und zum Schluss: Was wäre im Zuge der Bildungsreform der dringlichste Wunsch des Schuldirektors? "Mehr Autonomie - aber noch besser wäre ein mittleres Management: Fachkoordinatoren, die dementsprechende Verantwortung haben und auch dafür bezahlt werden. Denn wo gibt es in der Wirtschaft eine Organisation mit hundert Mitarbeitern, in der einer alles entscheidet - vom Toilettenpapier bis zur pädagogischen Schulentwicklung?", stellt Scheiber in den Raum.
Von Sylvia Maier-Kubala / APA-Science