Mit "Urban Mining" in Richtung ökonomisches Fließgleichgewicht
Auf politischer Ebene ist das Konzept der "Kreislaufwirtschaft", im Sinne des Zurückbringens möglichst vieler im Abfall enthaltener Stoffe in den Produktkreislauf, momentan in Mode. Als Zielvorstellung für eine nachhaltigere Wirtschaft sei das zwar ein probates Mittel, aber kein Allheilmittel, so Helmut Rechberger von der TU Wien. Im Gespräch mit APA-Science erklärte der Experte, warum das System vorerst einmal in Richtung Fließgleichgewicht gebracht werden sollte und welchen Beitrag "Urban Mining" dabei spielen könnte.
"Die Kreislaufwirtschaft an sich ist kein Ziel. Wir wollen eine nachhaltige Wirtschaftsweise haben", so der Leiter des Forschungsbereichs "Abfallwirtschaft und Ressourcenmanagement" an der Technischen Universität (TU) Wien. Es gebe nämlich auch Beispiele für kreislaufwirtschaftliche Systeme, die mit Nachhaltigkeit wenig zu tun haben. Wie etwa die Praxis, Kühe über Umwege wieder ihren Artgenossen zu verfüttern, was letztendlich in den 1990er-Jahren zum Ausbruch des Rinderwahns geführt hat. Auch manche Kunststoff-Recyclingsysteme, in denen sich oft unbeabsichtigt Schadstoffe anreichern (Stichwort: kontaminiertes Kinderspielzeug), erfüllen zwar den Anspruch des Kreislaufs, nicht aber jenen der Nachhaltigkeit.
Um aber die Idee der Kreislaufwirtschaft und ihre Limits zu verstehen, müsse man sich vergegenwärtigen, wie der Stoffhaushalt in unserer hoch entwickelten Volkswirtschaft aussieht, so Rechberger. Vom gesamten Rohstoffverbrauch "scheiden wir insgesamt ungefähr zehn bis 20 Prozent an Abfällen aus". Selbst wenn man diesen Anteil vollständig zurückführen würde - wovon man technisch noch weit entfernt sei -, könnte man am Anfang des Kreislaufs nur ein Zehntel bis 20 Prozent der benötigten Rohstoffe abdecken. "Wir sagen: Das System ist nicht im Fließgleichgewicht. Wir sind immer noch in einer Wachstumsphase", erklärte Rechberger. "So lange das so ist, kann eine ausgeprägte Kreislaufwirtschaft, die nennenswerte Primärrohstoffe substituiert, gar nicht entstehen."
Nachhaltigkeit in Zeiten des Wachstums
Das starke Wachstum im endlichen System Erde sei natürlich ein Problem. Dass aber in absehbarer Zeit wichtige Rohstoffe tatsächlich versiegen, ist laut dem Experten auch nicht unmittelbar in Sicht. Viele der aktuell abgebauten Rohstoffe hätten mittlerweile jedoch mindere Qualität, was durch den technischen Fortschritt oft noch nicht ins Gewicht falle. Angesichts dieser Entwicklung müsse trotzdem mehr in Richtung Nachhaltigkeit nachgedacht werden, und zwar über Zeiträume jenseits der nächsten 20 Jahre hinaus.
Langfristig gelte es, ein System im Fließgleichgewicht anzustreben, "nämlich, dass wir ungefähr so viel verbrauchen, wie wir Abfälle produzieren", sagte Rechberger. Vielen Akteuren sei auch nicht klar, dass sich der Ausschuss über die Zeit hinweg verändern wird: Da wir uns seit Jahrzehnten im starken Wachstum befinden, kommt aufgrund der Nutzungsdauer von Produkten - wie etwa auch ganzen Bauwerken - in Zukunft eine Phase mit mehr Abfällen auf die Gesellschaft zu.
Schlechte Zeiten für Abfallvermeidung
Ihrem Ende sehen etwa auch die so geschätzten Wiener Gründerzeithäuser entgegen - nicht unmittelbar, aber in den kommenden Jahrzehnten. An dem Beispiel zeige sich: "Wie werden in der Zukunft mehr Abfälle haben und nicht weniger." Das werde allerdings seitens der Politik, die oft das Schlagwort "Abfallvermeidung" bemüht, auf vielen Ebenen nicht gerne gesehen. Wenn das Abfallvolumen steigt, brauche man entweder mehr Deponieflächen - die im Übrigen nirgends willkommen sind - oder eben mehr Anstrengungen in Richtung Recycling.
Wien legt rasch an Gewicht zu
Gleichzeitig sollte jedoch auch der Rohstoffverbrauch gesenkt werden - nicht nur aus Sicht der Umwelt. "Wir können nicht ewig so wachsen", so der Forscher, der mit Kollegen den Materialhaushalt Wiens analysiert hat. Ergebnis: Pro Wiener und Wienerin errechneten die Experten, dass im Hochbau (ohne Straßen, Keller oder Fundamente) ungefähr 210 Tonnen an Material verbaut wurde. Ausgehend davon, wächst die Hauptstadt aktuell so stark, dass sie in ungefähr 40 Jahren doppelt so schwer sein wird. Rechberger: "Das ist aber nicht gut, weil wir in 40 Jahren nicht doppelt so viele Wiener sein werden. Wir müssen das Gebaute ja auch erhalten und das Geld dafür muss man erst einmal haben."
Das Ziel wäre zusammengefasst, den Rohstoffverbrauch etwas herunterzufahren und den zahlreicher anfallenden Abfall großteils wieder ins System zurückzuführen. Rechberger: "Heute sind wir vom Fließgleichgewicht weit entfernt. Ob wir da je hinkommen, weiß ich ehrlich gesagt nicht. Denn dazu bräuchten wir ein neues Wirtschaftssystem, das weniger auf Wachstum ausgerichtet ist."
"Urban Mining" im realen Forschungslabor
Angesichts dieses Befundes kommt das Konzept des auch durch die Wiener Forschungsgruppe mitgeprägten "Urban Minings" ins Spiel. Grob gesagt wird hier der Abbruch von Gebäuden als Chance begriffen, Stoffe wieder in den neu beginnenden Kreislauf zu integrieren. Die Forscher sitzen auch mit dem eigens geschaffenen Christian Doppler-Labor für "Anthropogene Ressourcen" quasi in ihrem eigenen Untersuchungsobjekt - nämlich der Stadt Wien. Hier arbeiten sie mit Unterstützung von Unternehmen und der laut Rechberger in dem Bereich "progressiven" Stadtverwaltung an Lösungen für die weiter in der Ferne liegende Zukunft.
Der erste Schritt auf diesem Weg ist bereits nicht trivial: Es gilt nämlich herauszufinden, welche Stoffe sich in welchem Umfang in den verschiedenen Bauwerken befinden. "Eigentlich wissen wir relativ wenig darüber, wie unsere Infrastruktur und unsere Siedlungen zusammengesetzt sind", gibt der Forscher zu bedenken. Beim Gebäudebestand ist diese Information großteils einfach verloren gegangen. Selbst bei Neubauten würde das eigentlich vorhandene Wissen "nicht konserviert".
Handfeste Datensammlung
In ihrer materiellen Zusammensetzung werden moderne Bauwerke immer komplexer. Das wird das Recycling zwar schwieriger machen, die grundsätzlichen dazu notwendigen Technologien gebe es großteils aber schon. Wie so oft ist deren Einsatz eine Frage der Wirtschaftlichkeit.
Um den inneren Werten des in die Jahre gekommenen Bestands näher zu kommen, haben die Experten in den vergangenen Jahren 15 vor dem Abriss stehende Gebäude auch mit Bohrmaschine und Hammer quasi auf Herz und Nieren untersucht. Um die 200 Bauwerke wurden zusätzlich auf Basis der baupolizeilichen Pläne analysiert. Für einige Baustoffe und Gebäude aus bestimmten Perioden habe man schon eine nahezu repräsentative Stichprobe erreicht.
Was steckt in Wien drinnen?
Es zeigte sich, dass es möglich ist, solche Informationen zusammenzutragen, ohne dafür "tausende Gebäude zu untersuchen", freute sich Rechberger. Gepaart mit Geografischen Informationssystem-Daten der Stadt Wien können die Wissenschafter für viele Bauwerke, die sie gar nicht untersucht haben, ziemlich genau sagen, was dort an Ziegel, Holz, Kupfer, Eisen, Aluminium, usw. zu holen wäre. "Jetzt wissen wir zum Beispiel, wie viel Kupfer in Wien drinnen steckt - und das ist gar nicht so wenig", sagte Rechberger.
Im nächsten Schritt geht es darum, abzuschätzen, welche Mengen an Stoffen in welchen Zeiträumen frei werden. Um dem näher zu kommen, setzen die Forscher auf genaue Bilder der Stadt Wien, die alljährlich aus der Vogelperspektive gemacht werden. Mit mathematischen Methoden kann man den Abgang an stehenden Gebäuden gut bestimmen. Zusammen mit den Daten zu den Gebäuden ließe sich beispielsweise schätzen, wie viel Eisen- und Stahlschrott in einem Jahr angefallen ist.
Wir machen eine Stadt aus der Stadt
Später wollen die Wissenschafter noch detaillierter in die Zukunft schauen. Das ist wichtig, um der Abfallwirtschaft einen Eindruck zu vermitteln, auf welche Mengen und Qualitäten an Baureststoffen sie sich einstellen kann. Bei manchen Materialien könne es zu Verdoppelungen kommen. Auf Basis solcher Prognosen können Recyclinganlagen geplant und das zukünftige Geschäft mit dem Abfall besser prognostiziert werden, wie bei der Abschätzung des Ressourcengehalts einer herkömmlichen Rohstoff-Lagerstätte. "Unsere Vorstellung ist, dass sich eine Stadt irgendwann so umformt, dass sie sich zu einem hohen Prozentsatz von etwa 80 Prozent aus sich selbst heraus immer wieder erneuert", so Rechberger, der vor allem bei den angesprochenen Metallen großes Potenzial sieht.
Damit das irgendwann funktioniert, müsse Information dazu, wie ein Gebäude oder irgendein Produkt zusammengesetzt ist, digital zugänglich sein. "Wenn ich diese Information einigermaßen über die Nutzung des Gebäudes mitziehe, hätte man in 20 bis 40 Jahren ein recht gutes System, wo wir wirklich wissen, was in Einzelbauwerken drinnen steckt." Interesse daran hätten einige Bauherren bereits jetzt, wie Anfragen bei den Forschern belegen. Am Ende soll ein möglichst genaues Verzeichnis der Rohstoffe stehen, die in der Stadt stecken.
Von Nikolaus Täuber / APA-Science