"Gendered Innovation" - Neue Chancen durch erweiterte Perspektive
Anschnallen reduziert das Risiko, bei einem Autounfall schwere Verletzungen zu erleiden - das ist eine Binsenweisheit. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass Sicherheitsgurte Frauen im Schnitt weniger gut schützen als Männer. Das liegt daran, dass bei ihrer Konzeption lange Zeit von den Anforderungen eines durchschnittlichen männlichen Körpers ausgegangen wurde. Damit so etwas erst gar nicht passiert, hält - von den USA ausgehend - das Konzept der "geschlechterreflexiven Innovationen" in Forschung und Entwicklung vermehrt Einzug. Der breitere, vorausschauende Blick soll Innovationen und die Wissenschaft selbst verbessern. In Österreich gibt es bereits eine eigene einschlägige Förderschiene.
Geprägt wurde der Begriff der "Gendered Innovations" durch die Wissenschaftshistorikerin Londa Schiebinger von der Stanford University in Kalifornien. Im Rahmen des 2009 initiierten "Gendered Innovations in Science, Health & Medicine, Engineering and Environment Project" untersucht Schiebinger und ihr Team das Phänomen und bietet interessierten Forschern Einblicke in Themenbereiche, wo sich die Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Ansichten als besonders wichtig erwiesen hat, und stellen Informationen zur systematischen Auseinandersetzung damit im Rahmen wissenschaftlicher Projekte oder bei der Technologieentwicklung zur Verfügung.
Verzerrungseffekte umkehren
Im Grunde geht es laut Schiebinger bei dem Ansatz darum, Genderfragen als eine Ressource im Forschungsprozess zu verstehen. Im Gegensatz zum früheren Fokus in der Genderforschung, im Rahmen derer es oft um das Aufzeigen von institutionellen, geschlechtsbezogenen Verzerrungseffekten ging, versuche man hier den Blick darauf zu lenken, zu welchem neuen Wissen die in den vergangenen Jahrzehnten entwickelten Methoden der Genderanalyse beitragen können.
Die Anwendung der relativ neuen Methoden könnten Blickwinkel auf Forschungsfragen tatsächlich signifikant erweitern und vor der Entwicklung festgefahrener Vorstellungen über bestimmte Sachverhalte schützen, heißt es. Ein Bereich, in dem die Vorteile einer solchen Vorgehensweise auf der Hand liegen, ist die Medizin: Dort herrschte beispielsweise lange Zeit die hartnäckige Einschätzung, dass Herzkreislauferkrankungen vor allem Männer betreffen. Das führte teilweise dazu, dass Herzinfarkte bei Frauen später erkannt wurden, einfach aufgrund der Tatsache, dass diese Diagnose-Option bei weiblichen Patienten als weniger wahrscheinlich angesehen wurde. Ähnliche Verzerrungen gibt es wiederum bei Männern, die an der vermeintlich "typischen Frauenkrankheit" Osteoporose leiden.
Politik blickt auf Noch-Nischenthema
Während sich im Gesundheitsbereich mit der Gendermedizin bereits ein eigener, wenn auch noch überschaubarer Forschungszweig mit der Berücksichtigung dieser Fragen beschäftigt, ist es in anderen Disziplinen bis dahin noch ein weiter Weg. Auf die politische Agenda hat die EU-Kommission "geschlechterreflexive Innovationen" allerdings bereits 2011 gesetzt. Unter der Leitung Schiebingers erarbeitete eine Expertenkommission ein umfassendes Papier. Mit der Technischen Universität (TU) Wien hat auch eine heimische Hochschule eine Homepage eingerichtet, die Wissenschaftern den Zugang zum Thema ermöglichen soll.
Viel Potenzial habe der Ansatz eben auch in der Technologieentwicklung, wo durch den erweiterten Blick über möglichst alle Phasen der Innovationskette am Ende Produkte entstehen sollen, die von mehr potenziellen Konsumenten besser angenommen werden. Dieser Überlegung folgend wurde kürzlich eine Forschungsförderschiene mit dem Titel "FEMtech Forschungsprojekte - Gendergerechte Innovation" vom Infrastrukturministerium aufgesetzt. Seit Mitte September können sich Unternehmen, Hochschulen und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen um Unterstützung aus dem vorerst 2,4 Millionen Euro schweren Fördertopf bei der Forschungsförderungsgesellschaft (FFG) bewerben.
Bessere Abstimmung als Markt-Chance
"Unser Ziel ist, neue Technologien besser auf die Bedürfnisse von Frauen und Männern auszurichten", so Infrastrukturminister Jörg Leichtfried (SPÖ) in einer Aussendung. Als Beispiel nannte er, Assistenzsysteme in Autos durch Untersuchungen zu geschlechterspezifischem Fahrverhalten und Risikoeinschätzung sicherer und komfortabler zu machen. Das würde nicht nur neue Marktpotenziale für heimische Betriebe eröffnen, sondern auch für mehr Lebensqualität sorgen.
Die neue Ausschreibung ist Teil des übergeordneten Förderprogramms "Talente nützen: Chancengleichheit", mit dem Frauen in der Technik gefördert werden sollen. Insgesamt stellt das Ressort für dieses Ziel rund sieben Mio. Euro im Jahr zur Verfügung.