Das Weltbild aus dem Bastelkasten
Während sich die klassischen Werte der Wissenschaft relativ einfach auf die intersubjektive Überprüfbarkeit und Falsifizierbarkeit von Hypothesen herunterbrechen lassen, ist oft nicht ganz klar, wann Pseudowissenschaft aufhört und Esoterik anfängt. Der Ursprung der modernen Esoterik lässt sich jedenfalls bis auf das Ende des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen, erklärte der Religionswissenschafter Franz Winter von der Bundesstelle für Sektenfragen im Gespräch mit der APA.
Gängigen Definitionen zufolge hat man es dann mit Pseudowissenschaft zu tun, wenn der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit vermittelt werden soll und auch, wenn anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnissen widersprochen wird. Mit Esoterik verbindet man allgemein eher okkulte und spirituelle Weltanschauungen und Praktiken.
Doch ganz trennscharf verläuft die Linie nicht, denn laut Winter ist die Bezugnahme auf vermeintlich wissenschaftliche Argumentationsfiguren ein wesentlicher Bestandteil der modernen Esoterik. "Dabei gibt es verschiedene Wissenschaftstraditionen, auf die besonders gerne Bezug genommen wird, weil man mit ihnen vielfach die Hoffnung auf die Lösung der großen Fragen der Menschheit verbindet." Neuerdings sei das insbesondere die Physik bzw. deren Teilbereiche Quantenphysik und Astrophysik; Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts wurde dazu vor allem die Biologie herangezogen.
Zu jener Zeit könne Esoterik als ein umfassender religiös-spiritueller Antwortversuch auf die immer bedeutender werdenden Naturwissenschaften verstanden werden. Dahinter stand der Wunsch nach einem Erklärungsmodell mit universalem Anspruch, das möglichst viele Aspekte zu einem Gesamtmodell zusammenfügt. Dazu kam noch der Ansatz, "die relativ neuen Naturwissenschaften in irgendeiner Weise da einzubauen".
Theosophie als universale Synthese
Maßgebliche Argumentationsfiguren der modernen Esoterik gehen auf die Gründerin der Theosophie, Helena Petrovna Blavatsky (1831 - 1891) zurück. Ihr grundsätzliches Unterfangen definierte sie nicht so sehr als "Religion", sondern als eine Art "Synthese" aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen, erklärt Winter. So trägt ihr 1888 erstmals erschienenes Hauptwerk "The Secret Doctrine" ("Die Geheimlehre") den Untertitel "The Synthesis of Science, Religion and Philosophy". Frühe Theosophen stellten sich auch die Frage, ob die Theosophie als Religion zu definieren sei. Die Antwort gaben sie sich gleich selbst, indem sie festhielten: "Theosophie ist göttliches Wissen oder Wissenschaft."
Blavatsky nahm unter anderem auf die damals heftig diskutierte Evolutionslehre Bezug, "die sie in einer sehr eigentümlichen Form und unter Bezug auf Elemente der damals ebenfalls im Kontext der Biologie diskutierten Rassenlehre konzipierte", so Winter: "Ihre 'Erkenntnisse' sind aber natürlich immer verbunden mit dem Anspruch, aufgrund ihrer angeblichen Verbindung zu überirdischen Mächten ein autoritatives und letztgültiges Wissen erlangt zu haben."
Physik löst Biologie ab
Innerhalb der esoterischen Tradition lasse sich in weiterer Folge eine Verschiebung der Interessen beobachten. Die Biologie wurde im Lauf der Zeit gewissermaßen von der Physik als umfassendes Erklärungsmodell abgelöst. Das hängt für den Religionswissenschafter damit zusammen, dass man aktuell dieser Wissenschaftsdisziplin am ehesten die Lösung der "großen" Fragen der Menschheit zutraut.
Das hat System. In der Esoterik bestehe der Anspruch, über eine Art Geheimwissen zu verfügen und doch beziehe man sich letztlich auf die Naturwissenschaften. Mit seinem Buch "The Tao of Physics" gilt der österreichstämmige Autor Fritjof Capra (geb. 1939) als maßgeblicher Impulsgeber der so genannten „New Age“-Tradition, also der modernen Ausprägung der esoterischen Tradition. Darin präsentiert er die Idee, die Physik als "Überwissenschaft" zu sehen - unterfüttert mit religiösen und spirituellen Elementen.
Praktisch äußere sich das in der aktuellen Esoterik beispielsweise in Bezugnahmen auf Teilbereiche der Physik, wie etwa Quantenphysik, die in vielen esoterischen Publikationen geradezu als das Erklärungsmodell für alle möglichen Argumentationen herhalten müsse. Dazu komme der Bereich der Kosmologie und der Astrophysik, die sich bei esoterischen Autoren ebenfalls großer Beliebtheit erfreuen.
Darin liegt für Winter die größte Diskrepanz und eine Tendenz zur Selbstimmunisierung der modernen Esoterik versteckt, die aufgrund ihrer angeblichen Herkunft aus einer „transzendenten“ Quelle „höheres Wissen“ als die aktuelle Naturwissenschaft hätten, die eben noch nicht „so weit“ wäre wie die bereits esoterisch Wissenden. "Man überbietet somit im Selbstverständnis die Naturwissenschaften und bezieht sich gleichzeitig ausführlich auf sie."
Esoterik als Religionsersatz
Dass die Esoterik in der Gesamtbevölkerung immer breitere Akzeptanz findet, darin besteht für den Experten kein Zweifel. Während die Naturwissenschaften sehr stark zerlegt und partikularistisch wahrgenommen würden, könnten Esoteriker mit einem ganzheitlichen Modell punkten, das alle Ebenen mit einbezieht. Für Anhänger solcher Strömungen werde es prinzipiell dann problematisch, "wenn jemand seine Realität verliert, also in puncto Arbeit, Familien und persönlichen Kontext, dann sollten die Alarmglocken läuten."
"Die traditionellen Religionen greifen einfach nicht mehr, die haben zum Teil enttäuscht und sind auch mit problematischen Vergangenheiten verbunden", vermutet Winter als einen Hintergrund für den gestiegenen Zulauf zur Esoterik. Zudem sei die Schwelle, sich ein eigenes Weltbild zu basteln, niedrig. "Man hat einen Pool von Argumentationsfiguren und Motiven, aus dem man sich selber etwas zusammenbauen kann. Dieser individualistische Zugriff passt eben zum modernen Menschen. Das ist sicher ein Erklärungsmodell dazu, dass die Esoterik heute so populär ist."
Von Mario Wasserfaller / APA-Science