Der digitale Mensch
Neue Technologien haben schon immer sowohl Faszination als auch Unbehagen ausgelöst. Durch die ungeheure Dynamik des digitalen Wandels wird das noch verstärkt. Inwieweit haben diese teils tiefgehenden Veränderungen bereits ihre Spuren hinterlassen? In welchem Ausmaß beeinflusst das unser Verhalten sowie unser Privat- und Berufsleben? Erwarten uns dramatische Umbrüche und Schreckensszenarien oder doch eine eher sanfte Entwicklung, die unser Leben vereinfacht? APA-Science hat sich umgehört.
Ja, digitale Technologie sei im Alltag - vor allem von Jugendlichen - allgegenwärtig. "Aber Technologie ist kein sicherer Weg in die Dystopie, sondern ein Ort, den wir selbst besser verstehen und mitgestalten können", erklärte die Kultur- und Sozialanthropologin Suzana Jovicic von der Universität Wien gegenüber APA-Science. Derzeit seien die öffentliche Debatte und die wissenschaftlichen Perspektiven beispielsweise in Zusammenhang mit sozialen Medien stark von Problematiken bestimmt - Stichwort Depressionen, Essstörungen, Narzissmus, Mangel an Empathie oder auch Fake News und Filterblasen.
"Allerdings ist diese Perspektive sehr durch den Vorher-Nachher-Vergleich geprägt, woraus sich zwangsläufig Bewertungen und Ängste ergeben. Für die Generation der 'digital natives' ist dieser Vergleich zu einer vor-digitalen Welt höchstens ein irrelevantes Gedankenexperiment", so Jovicic. Jugendliche würden es schlicht nicht anders kennen und viele neue Sachen mit einer gewissen Leichtigkeit und Kreativität beherrschen (siehe "Wie essen und trinken: Der Umgang mit digitalen Medien wird bald kein Thema mehr sein").
Auch was Selbstoptimierung und Selbstwahrnehmung betrifft, gibt die Anthropologin Entwarnung: Smartphone-Apps und soziale Plattformen würden zwar als "Disneyland" für entsprechende Tendenzen wirken, wie bei der vor-digitalen Medienforschung sei es aber schwierig, Korrelationen zu finden und zu entscheiden, ob das Huhn oder das Ei zuerst da waren. Hinter der Selfie-Kultur würden letztendlich die gleichen archaischen Bedürfnisse nach sozialer Zugehörigkeit und Akzeptanz liegen, die sich zu jeder Zeit anders ausdrücken.
Vom Messen und Vergleichen
Sehr wohl zu einem für viele bestimmenden und zum Teil belastenden Lebensinhalt geworden sei das Messen, Dokumentieren und natürlich vor allem das Veröffentlichen und Vergleichen, gab Katrin Döveling von der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt zu bedenken (siehe "Der digitale Mensch. Zur Interkonnektivität auf allen Ebenen"). Körperoptimierung im digitalen Zeitalter sei, wie eben auch die digitale Kommunikation an sich, ein "Muss", um in einer individualisierten und konkurrenzorientieren Welt mitzuhalten.
Durch die digitalen Medien werde Kommunikation zeit- und raumunabhängig. "Wir handeln, posten, tweeten, liken international und das beinahe in Echtzeit. Dies stellt uns vor Herausforderungen, denn der Mensch im digitalen Zeitalter ist nicht nur in regionale und länderspezifische Strukturen involviert, sondern durch die digitalen Medien auch permanent an globalen Prozessen beteiligt. Mehr noch: Er gestaltet diese aktiv mit", so Döveling. Das könnte auch zu einer gewissen Homogenisierung führen. "Obwohl jedes Individuum natürlich von seiner eigenen Kultur geprägt ist, scheint es so, dass vor allem sogenannte Medienereignisse, global betrachtet, ähnliche Reaktionen auslösen. Im Fall von Krisen kann ein Hashtag sehr schnell durch die ganze Welt wandern", nannte die Soziologin ein Beispiel.
Anpassung an lokale Bedürfnisse
Gleiche Technologien werden nicht gleich genützt und führen nicht zur kulturellen Homogenisierung, betonte hingegen Jovicic. Sie würden an lokale Begebenheiten und Bedürfnisse dynamisch angepasst: "Während unter Chilenen beispielsweise die individuelle Selbstdarstellung, das Zeigen von Konsum oder Luxus auf sozialen Medien verpönt sind, geht es in Trinidad vor allem darum, sich als möglichst attraktiv oder mächtig dazustellen." Häufig sei die Nutzung innerhalb einer Region oder unterschiedlicher sozialer Gruppen und Schichten sehr variabel und folge den bestehenden soziokulturellen Dynamiken.
Digitale Medien würden uns mittlerweile auch Gefühlsnormen vermitteln, so Döveling: "Passiert etwas, wie etwa ein Anschlag, hat man den Eindruck, man müsse ein Zeichen setzen, weil man ja zu den 'guten' Menschen gehören will. Das gemeinsame digitale Zeigen von Betroffenheit und Erschütterung zum Beispiel erfüllt aber auch diese Funktionen: In der post-modernen, digitalen Welt bestärken wir uns durch das Internet, dass wir nicht alleine sind. Das kollektive Weltdorf bietet uns einen scheinbaren, aber durchaus gefühlten Schutz", erklärte die Expertin.
Nachholbedarf bei Medienkompetenz
Schutz - in diesem Fall von Kindern und Jugendlichen - ist auch das Thema von Matthias Jax, Projektleiter der Initiative Saferinternet.at beim Österreichischen Institut für angewandte Telekommunikation (ÖIAT). In praktisch jedem Haushalt habe der Nachwuchs Zugang zu digitalen Gerätschaften. Entsprechend ausgeprägt sei das technologische Medienwissen. Die inhaltliche Kompetenz hinke aber deutlich hinterher. Deshalb gelte es, Medienkompetenz schon früh aufzubauen. "Gefragt sind vor allem die Eltern und erweiterten Bezugspersonen wie Lehrer oder Jugendarbeiter, um Hilfestellung zum kompetenten Umgang mit sozialen Netzwerken und digitalen Medien zu geben", sagte Jax.
Wichtig sei die Vorbildwirkung. "Ein Kind sieht natürlich, wie seine Mutter oder sein Vater mit dem Smartphone umgeht. Fragt man das Kind um Erlaubnis, ehe man es fotografiert und Fotos von ihm online stellt? Dies entscheidet maßgeblich, wie das Kind oder später der Jugendliche die Medien nutzen wird", ist Jax überzeugt (siehe "Jugendliche leben in der digitalen Realität - und brauchen gute Vorbilder"). Von Verboten hält er wenig: "Smartphones sind ein Kernelement im Leben Jugendlicher, und es muss eine Möglichkeit geben, sie sinnvoll einzubinden."
Postings machen glücklich
Zudem steht die Smartphone-Nutzung in einem positiven Zusammenhang zum Wohlbefinden von Jugendlichen. Das ergibt zumindest eine erste Auswertungen von Interviews, die im Rahmen des Forschungsprojekts "Smart?Phone" (siehe "Wie smart ist das Phone?") durchgeführt wurden. Vor allem das Posten auf diversen Social-Media-Kanälen wie Facebook oder Twitter wirke sich positiv aus, erklärte Projektleiter Jörg Matthes vom Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien.
Es habe sich gezeigt, dass eine spezifische Personengruppe besonders davon profitiere: jene Jugendlichen, die eine besonders starke Angst davor haben, etwas zu verpassen. "Wir nennen dieses psychologische Konstrukt 'Fear of Missing Out' oder kurz 'FOMO'. Dieser Effekt lässt sich einfach erklären: Wenn ich den Eindruck habe, dass andere ständig mehr erleben als ich, dann hilft mir das Posten auf den diversen Social-Media-Kanälen dabei, mit dieser Sorge umzugehen und ich fühle mich insgesamt besser", so Matthes. Das Ergebnis liefere eine Erklärung dafür, was die Jugendlichen antreibe, ständig auf Social Media präsent zu sein.
Dass die Digitalisierung inzwischen unser ständiger Begleiter geworden ist, bestätigt auch Peter Zellmann vom Institut für Freizeit- und Tourismusforschung. Auf das Freizeitverhalten sei der Einfluss aber überschaubar. Internetsurfen und Mobiltelefonie benötige Zeit, was zu Lasten aller anderen Freizeitaktivitäten gehe. "Wir verändern die Dauer der jeweiligen Aktivität, aber nicht das grundsätzliche Interesse an ihr. Sportler bleiben Sportler, Kulturmenschen bleiben Kulturmenschen und Genießer bleiben Genießer", relativiert Zellmann (siehe "Freizeit 4.0 - Wie digital ist unsere Freizeit?"). Die Digitalisierung ergänze also das Freizeitverhalten, verändert es aber grundsätzlich viel weniger als oft angenommen: "Virtual Reality ist Spiel, Variante, aber noch lange nicht Alltag."
"Smarte" Assistenten verbessern
Immer stärker Einzug in den Alltag halten unterdessen digitale Sprachassistenten - meist in Form von "smarten" Lautsprechern. Experten gehen davon aus, dass diese Systeme langfristig sogar in die Unterhaltung am Küchentisch eingebunden werden. "Sprache wird zunehmend von Systemen verstanden. Ob das die Zukunft der Mensch-Maschine-Interaktion ist, lässt sich schwer sagen, vor allem weil dazu noch einige Schritte notwendig sind - etwa in Hinblick auf soziale Aspekte", ist Stephan Schlögl, vom Management Center Innsbruck (MCI) überzeugt (siehe "Alexa, was ist die Hauptstadt von Litauen?").
Alexa und Co. begegnen uns bereits in zahlreichen Bereichen des Alltags. "Was ihnen in der Regel jedoch fehlt, ist soziale Intelligenz - eine Anzahl von menschlichen Charakteristiken, an denen sich die Technologie bisweilen noch die Zähne ausbeißt", konstatierte Schlögl. Sei dies gelöst, könnten sie beispielsweise als Gesprächspartner in der Altenbetreuung eingesetzt werden, auch wenn das nicht an die Kommunikation mit den Enkelkindern oder guten Freunden herankomme. Dass ältere Menschen eine Art Beziehung zu Maschinen aufbauen könnten, habe schon der Roboterhund Aibo gezeigt.
Auch im Gesundheitsbereich biete die Digitalisierung enormes Potenzial, ergänzte Ingo Raimon, Präsident des Forums der forschenden pharmazeutischen Industrie in Österreich (FOPI). Profitieren würden beispielsweise ältere Menschen mit Herzinsuffizienz, die durch digitale Tools an lebenswichtige Medikamente erinnert werden oder Ärzten mittels Telemedizin-Lösungen im Gefährdungsfall eine direkte Intervention ermögliche. Mit einer neu entwickelten Videoconferencing-Anwendung sei es zudem gelungen, die Wartezeiten für Spezialisten von sechs Wochen auf sieben Tage zu reduzieren (siehe "Gesundheit im Zeitalter der Digitalisierung").
Keine "biologisch echte" Kommunikation
Digitale Kommunikation würde die Menschen nicht unbedingt näher zusammenbringen, meint Peter Walla von der Webster Vienna Private University. Natürliche Kommunikation laufe sowohl verbal als auch nicht-verbal ab. "Mimik, Körperhaltung, Geruch, Gestik, Sprachmelodie, simpler Augenkontakt sind nur einige von vielen weiteren Informationsquellen, deren Bedeutungen lange unterschätzt wurden. Deshalb kann digitale Kommunikation niemals biologisch echte ersetzen", so Walla (siehe "Einflüsse der Digitalisierung auf die menschliche Kommunikation").
Er sieht aber auch durchaus vorteilhafte psychologische Aspekte der Digitalisierung - etwa durch die Smartphone-Nutzung. "Das klassische sich Verlieren im meist orientierungslosen Suchen nach spannenden Informationen oder dem digitalen Spielen ist mit durchaus positiven Auswirkungen verbunden", erklärte Walla. Der sogenannte "Flow", der einen die Zeit vergessen lasse, habe eindeutig therapeutische Wirkung im Sinne von Abschalten oder Ablenken. Bereits nachgewiesen sei aber auch, dass durch diesen "Flow" die Produktivität leiden kann.
Zeit zum Nachdenken und Fragen stellen
Ebenfalls überaus kritisch sieht der Informatiker und Philosoph Peter Reichl von der Universität Wien die alles durchdringende, omnipräsente Digitalisierung. "Momentan ist nicht die Zeit, weiter und weiter Lösungen zu produzieren. Wir müssen erst einmal die Fragen stellen", forderte Reichl. Überall lese und höre man von Digitalisierung oder dem Internet of Things, doch niemand frage dabei Durchschnittsbürger, ob sie das auch wollen. "Das Internet hat seine Unschuld insofern verloren, als dass es als eine Art Spielwiese für Forscher begonnen hat, die inzwischen vollständig der Kommerzialisierung zum Opfer gefallen ist", sieht Reichl "eine gewisse Wendezeit" herangebrochen (siehe "Das Internet einmal abschalten und nachdenken").
"Wir Menschen stellen Dinge her, von denen wir uns gar nicht vorstellen können, was sie mit uns machen", so Reichl über das Potenzial der aktuellen Trends. Das liege schon daran, dass sich Anwendungen im Internet extrem rasch etablieren könnten, für deren Entwicklung oft vergleichsweise wenig Aufwand ausreiche. Beleg dafür sei zum Beispiel die Fahrdienstleistungs-App Uber. So könne, vereinfacht gesprochen, ein "unreflektierter Informatiker zu Hause im Keller" eine App programmieren, die ein paar Jahre später "jeden zweiten Taxler in Wien arbeitslos macht".
Änderungen am Arbeitsmarkt
Dass der digitale Wandel den Arbeitsmarkt ordentlich durchrüttelt, scheint ausgemachte Sache zu sein, über die konkreten Auswirkungen gebe es aber keinen klaren Konsens in der Wissenschaft, stellte Sylvia Kuba, Programmleitung Digitalisierung in der Arbeiterkammer Wien, fest (siehe "Arbeit im Umbruch - wieder"). "Welche Produktformen, Bedürfnisse und Trends künftige Treiber der Wirtschaft und des Konsums sein werden, ist mittelfristig kaum auszumachen. Das macht es auch schwierig, quantitative Aussagen zur Arbeit in einer noch mehr digitalisierten Welt zu treffen", so Kuba. Natürlich würden sich neue Formen des Arbeitens entwickeln, allzu dystopische Szenarien seien aber unrealistisch. "Es geht weiterhin um Löhne, Arbeitszeit und -bedingungen." Dass es Verschiebungen geben wird, ist unumstritten. Hier sei die Politik gefordert.
Ähnlich sieht das Annika Schönauer, Arbeitssoziologin bei FORBA - Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt: "Zahlreiche Verwaltungsjobs fallen gerade durch Automatisierung weg. Auch in der Logistik und dem Handel ändert sich derzeit das Arbeiten auf revolutionäre Weise." In diesen Sparten werde es - zum Teil auch massive - Freisetzungen geben. Dass Weiterbildungsmaßnahmen und Umschulungen, wie von der Politik skizziert, diese Personen in großer Zahl fit für den digitalisierten Arbeitsmarkt machen, glaubt die Soziologin nicht: "Das ist eine Illusion und wird zu viel Frustration führen."
"Crowdsourcing" hat großes Potenzial
Unterdessen verlieren räumliche Entfernungen und organisatorische Grenzen durch die vernetzten digitalen Technologien zunehmend an Bedeutung. "Crowdsourcing" ist eine der Überschriften dazu. Noch ist es in Österreich kein großes Thema. "Das Potenzial derartiger Plattformen ist aber groß", so Schönauer. Die Fragmentierung der Projekte in kleine Aufträge, die via Internet vergeben werden, könnte für viele Unternehmen sehr attraktiv werden. Letztlich brauche man dann in der Firma nur mehr jemanden, der die verschiedenen Aufgaben zusammenführt, erläuterte sie weiter: "Da ist man dann schnell im Bereich vom internationalen Lohndumping von durchaus qualifizierter Arbeit." Dass es dafür schnelle Lösungen geben wird, bezweifelte die Expertin.
"Bildung ist ganz zentral, um Menschen für die digitale Arbeitswelt zu befähigen. Nicht alle werden dabei Schritt halten können und manche Gefahr laufen, ganz aus der Arbeitswelt hinauszufallen", meinte auch Ulrich Remus von der Universität Innsbruck (siehe "Digital Arbeiten: Das Ende der Routine"). Ein Hoffnungsträger könnte laut dem Wirtschaftsinformatiker der soziale Bereich sein, der nur zu einem kleinen Teil automatisiert werden kann.
Was das Verschwimmen von Beruf und Freizeit betrifft, mahnt Remus zur Eigenverantwortung: "Man ist der Digitalisierung nicht ganz so ausgeliefert, wie es in vielen Diskussionen häufig dargestellt wird. Wir können noch immer sehr viel steuern, alleine dadurch, dass wir zum Beispiel eine E-Mail oder WhatsApp-Nachricht priorisieren, ob wir überhaupt reagieren müssen." Selbstmanagement im Umgang mit den ständig verfügbaren digitalen Kanälen werde immer mehr zu einer sozialen Fähigkeit.
"Letztendlich wird die Digitalisierung voranschreiten, ohne dass damit der Untergang des empathischen, sozialen Menschen eingeläutet wird", so Sozialanthropologin Suzana Jovicic abschließend.