Talenten auf der Spur
Spezielle Talente und Begabungen zu erkennen und zu fördern ist eine wesentliche Aufgabe des Bildungssystems, die auch im Grundsatzerlass zur Begabtenförderung festgeschrieben ist. Wie das in der Praxis funktioniert, ist eine andere Frage. Flächendeckende, österreichweite Screenings an den Schulen gibt es keine, wohl aber eine Vielzahl von Einzelinitiativen und -projekten. APA-Science hat sich näher angesehen, welche unterschiedlichen Zugänge und Ansätze es in Österreich dazu gibt.
Gewissermaßen hauptamtlich für das Thema verantwortlich ist das Österreichische Zentrum für Begabtenförderung und Begabungsforschung (ÖZBF), wie Geschäftsführerin Claudia Resch im Gespräch mit APA-Science erklärt: "Das ÖZBF ist die einzige Institution in Österreich, die für alle Bildungsorte zuständig ist." Entsprechend könne das von Bildungs- und Wissenschaftsministerium finanzierte Zentrum auch alle Zielgruppen bedienen - von Kindergarten, Schule, Hochschule bis Elternhaus, Wirtschaft und Gemeinde. "Dadurch, dass wir bundesweit agieren, sind wir relativ einzigartig in Europa", so Resch.
Der gesetzliche Rahmen sehe unter anderem vor, dass jede Lehrperson in jeder Unterrichtsstunde die Begabungen ihrer Schüler fördern sollte. Die Expertin bleibt hier aber "bewusst im Konjunktiv", denn so ein allumfassender Ansatz sei in der Praxis nur schwierig umzusetzen. Ein professionelles flächendeckendes Screening von (Hoch-)Begabungen werfe etwa sogleich die Frage der Operationalisierung auf: "Ein IQ-Test ist wenig zielführend, weil Begabung sehr viel mehr ausmacht als Intelligenz." (siehe "Begabte fördern: Wenn die Ausnahme zur Regel wird")
Im Rahmen des oberösterreichischen Programms "Talente OÖ" etwa nominieren Lehrpersonen in der zweiten Klasse der Grundstufe Schüler für eine Gruppentestung im jeweiligen Bezirk. Nach einer Erstdiagnose werden speziell begabte Schüler zur Einzeltestung eingeladen. Die besten fünf Prozent der gemeldeten Schüler werden in das Beratungs- und Förderprogramm aufgenommen (siehe auch "Vom Potenzial zur Exzellenz - Hochbegabtenförderung in Oberösterreich").
"Wir haben mit dem Landesschulrat OÖ zusammengearbeitet um hier auch einen breiteren Begabungsbegriff hineinzubekommen", verweist Resch auf die Initiative. Mit einem vom ÖZBF zur Verfügung gestellten Instrument könnten sich die Verantwortlichen Begabungen auf mehreren Ebenen ansehen, während ein IQ-Test nur die logisch-mathematische und sprachliche Intelligenz erfasse.
Lehrer als Schlüsselpersonen
Den Lehrern kommt naturgemäß eine Schlüsselrolle zu, wenn es um das Identifizieren von Talenten geht (siehe "Die wertvollste Ressource der Zukunft: unsere Kinder!"). Das soll sich nach Meinung von Resch, die selbst die Lehramtsstudien Geschichte und Englisch absolvierte, auch stärker in der Ausbildung der Pädagogen zum Tragen kommen. "In meiner Lehramtsausbildung war es zum Beispiel so, dass ich von dem Wort Begabung nie etwas gehört habe, das war nie auch nur ansatzweise ein Thema." Der althergebrachten Meinung, das differenzierte Schulsystem separiere die Begabten ohnehin ins Gymnasium und die nicht so Begabten in die Hauptschule, kann sich die Expertin keineswegs anschließen.
Wie müsste eine Schule also idealerweise aufgestellt sein, um möglichst lückenlos Begabungen zu entdecken und zu fördern? "Grundsätzlich kann man mit den Schulen, die es jetzt gibt, viel machen. Das Ganze ist im Grunde keine 'Rocket Science', was zwar oft vermutet wird, aber es ist eigentlich nicht so schwierig und kompliziert", erklärt Resch. So sei das vom ÖZBF entwickelte "Drehtürmodell" im Prinzip an jeder Schule anwendbar.
Türen zu anderen Lernorten
Darunter werden laut eigener Definition alle pädagogischen Maßnahmen verstanden, "die Lernerinnen/Lernern eine 'imaginäre Tür' an einen anderen Lernort öffnen, um sie später wieder an den ursprünglichen Lernort zurückzuführen". Das könne bedeuten, dass sich Lernende in ein bestimmtes Thema vertiefen möchten und dafür einen abgegrenzten Ort im Klassenzimmer aufsuchen oder aber auch, dass sie den Klassenunterricht vorübergehend verlassen, um eine andere Bildungsinstitution zu besuchen.
Dazu brauche es eine gewisse Offenheit der Lehrperson, und natürlich eine einschlägige Fortbildung. Dabei komme es nicht darauf an, alles zu wissen und beantworten zu können. Wohl aber sollten Lehrer wissen, welchen Einfluss nicht-kognitive Persönlichkeitsmerkmale auf die Leistungsentwicklung haben, wie etwa Arbeits- und Lernstrategien oder Stressbewältigung.
Anzahl der Begabungen unklar
Wie hoch der Anteil an hochbegabten Kindern liegt, darüber gehen die Schätzungen teilweise extrem auseinander. Nimmt man einen IQ ab 130 als Orientierungspunkt her, dann würden statistisch ca. zwei Prozent der Schüler in diese Kategorie fallen. Jüngste Forschungsergebnisse gehen von einer deutlich höheren Zahl aus, sagt Resch: "Demnach haben mindestens ein Viertel aller Schüler eines jeden Jahrgangs das Potenzial zu sehr hohen Leistungen - wenn das Umfeld und die Bedingungen passen."
Dem Vorurteil, hochbegabte Schüler seien verhaltensauffällig oder sozial nicht gut integriert, widerspricht die Expertin unter Berufung auf Studien, die genau diese Stereotypen entkräftet hätten. Abseits von standardisierten Tests könne sich eine Begabung beispielsweise auch in einer sehr guten verbalen Ausdrucksweise, hohem Detailwissen, manchmal in recht ungewöhnlichen Interessensgebieten, einem ausgeprägten Witz, schrägem Humor, einer sehr schnellen Auffassungsgabe oder einem stark entwickelten Gerechtigkeitssinn äußern (siehe auch "Experte: Hochbegabte sollen auch das Nicht-Verstehen lernen").
Ist die Begabung einmal erkannt, sollte zunächst das Gespräch mit dem Schüler gesucht werden, um zu sehen, welche eigenen Vorstellungen und Ideen zur persönlichen Weiterentwicklung da sind. Steht die Richtung grob fest, gibt es verschiedenste Methoden. Innerhalb des Unterrichts könne man dem Kind selbstständige Aufgaben geben oder projektorientiertes Unterrichten sowie forschendes Lernen forcieren. Zusätzlich bestehe die Möglichkeit von extra-curricularen Aktivitäten wie Kinderunis, Sommerakademien, Wettbewerben oder Programmen wie "Schüler/innen an die Hochschulen". Sollte das Kind zu weit über dem Leistungsniveau der Mitschüler sein, besteht quasi als letzte Maßnahme noch die Möglichkeit, die Klasse zu überspringen.
Experten, Weißbücher und Bildungspolitik
Wie man Begabungen am besten fördert, darüber gibt es erwartungsgemäß viele Ideen und Konzepte. So ist unter federführender Mitarbeit des ÖZBF vor ein paar Jahren ein "Weißbuch Begabungs- und Exzellenzförderung" entstanden. Wie bereits in dessen Resümee angedeutet, ist man sich der Lücke zwischen Expertise und der bildungspolitischen Realität bewusst, also "dass in Zeiten äußerst knapper budgetärer Mittel die Vorlage eines solchen strategischen Papiers nicht nur ambitioniert, sondern auch ambivalent ist."
"Was ich immer am frustrierendsten finde sind die verschiedensten Kompetenzen, was die Bildungsinstitutionen betrifft", sagt Resch, selbst Mitautorin des Weißbuchs und nennt Beispiele: "Die Pädagogischen Hochschulen lassen sich vom Wissenschaftsministerium nichts sagen und der Kindergarten ist eine Katastrophe, weil es Vorgaben vom Bund gibt, gleichzeitig ein Ländergesetz, aber zahlen tun die Gemeinden".
Davon abgeleitet sollte der Kindergarten idealerweise "wirklich als Teil des Bildungssystems" angesehen und die Kompetenzen zentraler geordnet werden, fordert Resch. Im Grunde das wichtigste in diesem Zusammenhang wäre eine tertiäre Ausbildung für Kindergartenpädagogen, bei der auch Stärken- und Begabungsförderung ein Thema ist. Obwohl dieser Zug vorläufig einmal abgefahren scheint - im Zuge der neuen Pädagogenausbildung war zwar eine Akademisierung der Kindergartenpädagogen geplant, mangels Angeboten an den Hochschulen wird die Ausbildung dort allerdings vorerst weiter kaum stattfinden - wäre das ein enorm wichtiger Schritt.
Begabung als regionales Querschnittsthema
Aber es gibt auch positive Erfahrungen, was die Zusammenarbeit der Institutionen betrifft. Im Oberpinzgau zeige das Projekt BeRG (Begabung entwickelt Region und Gemeinde) vor, wie nicht nur klassische Bildungsorte wie Kindergarten und Schule Begabungsförderung vorantreiben können, sondern auch Vereine und Gemeinden. "Wir machen in den Gemeinden verschiedene Initiativen wie Kinderuni und haben ein Beratungsnetzwerk aufgebaut. Außerdem gibt es extracurriculare Angebote für die Kinder wie auch Fortbildungen für Kindergärtnerinnen, Lehrer, Eltern und Großeltern", umreißt Resch die Eckpunkte des Projekts.
Kernidee von "BeRG" ist es, unabhängiger vom Engagement einzelner Personen zu werden und die Kompetenzen vieler Personen zu stärken. Selbst die Feuerwehr könne sich beteiligen, etwa indem einmal im Beisein Jugendlicher der Löschschaum chemisch analysiert werde und ein Bewusstsein dafür entstehe, damit Begabungsförderung zu betreiben. Für das ÖZBF ist das Projekt auch eine Spielwiese dafür, wie die Zusammenarbeit zwischen Kindergarten, Volksschule und Sekundarstufe verbessert werden könnte. Vor allem auch hinsichtlich dessen, dass Lehrpersonen in der Sekundarstufe nicht jeweils wieder von vorne herausfinden müssten, was eigentlich schon an Wissen vorhanden sei.
Das Modell ist so konzipiert, dass es sich auch auf andere Regionen übertragen ließe, ist Resch überzeugt: "Mein Wunsch wäre, dass sich die Gemeinden auch wirklich als Träger und nicht als Aufbewahrungsstätten von Bildung sehen. Eine Gemeinde mit Fördermöglichkeiten kann ein schlechtes Elternhaus recht gut ausgleichen."
Kein Luxusproblem
Luxusproblem ist die Förderung von Begabungen keines, betont Resch. Je nachdem, wer das Thema anspreche, verfolge eine andere Agenda. Während etwa wirtschaftlich geprägte Interessensvertretungen das Hauptaugenmerk auf die mangelnden natürlichen Ressourcen des Standorts und den Brain-Drain bei den Akademikern lenken, sei vor allem der demokratische Aspekt wichtig - auch hinsichtlich des Themas Migration (siehe dazu: "Unis als Talente-Magnete mit wenig nachhaltiger Wirkung") und Flüchtlinge: "Jedes Kind hat das Recht, nach seinen Begabungen gefördert zu werden."
Von Mario Wasserfaller / APA-Science