"'One Size fits all'? Ethische Fragen zur maßgeschneiderten Medizin"
Die Entwicklungen der Lebenswissenschaften waren zu kaum einer Zeit rasanter als heute: Big Data, die sogenannte "personalisierte" Medizin, Gentests im Internet, next generation sequencing, CRISPR Cas9 - genome editing, Proteomics, Metabolomics, Genomics und Bioinformatik um nur einige Schlagworte zu nennen. Dies alles verstärkt durch eine immer schnellere Mobilität der Forscher und ein Wissen, das sich im Augenblick, in dem es generiert wird schon weltweit verbreitet und fordert beratende Gremien, wie es Bioethikkommissionen sind immer mehr heraus. Nie zuvor waren Bioethikkommissionen mehr gefragt: sie sind unabhängig, agieren als Katalysator des Wissens und haben die Aufgabe, diesen komplexen Wissenszuwachs aufzubereiten, zu diskutieren und zu bewerten und letztlich die Stelle, die sie zur Beratung eingesetzt und verpflichtet hat wie auch die Öffentlichkeit darüber umfassend zu informieren.
In Österreich wurde die Bioethikkommission vom Bundeskanzler eingesetzt und berät ihn und damit auch die Regierung. Ursprünglich waren es die Errungenschaften der Reproduktionsmedizin - die künstliche Befruchtung - die Anlass waren, derartige interdisziplinär zusammengesetzte Expertengremien ins Leben zu rufen. Die künstliche Befruchtung, hat die Schaffung neuen Lebens aus dem göttlichen Akt zu einem vom Mensch induzierten in der Petrischale gewandelt! Diese Technik war auch Anlass, dass 1993 als erstes Beratungsgremium in Europa die französische Bioethik-Kommission gegründet wurde. Österreich hat etwas später gleichzeitig mit Deutschland und der Schweiz 2001 eine derartige Kommission etabliert.
Während zu Beginn der 2000er-Jahre vor allem der Diskurs über die humane embryonale Stammzellforschung die bioethische Diskussion dominiert hat, sind die Themen heute breiter und für den Einzelnen weniger überschaubar geworden. Kein Tag vergeht, an dem nicht in einem der Länder unserer Welt akute bioethische Fragestellungen in den Nachrichten aufhorchen lassen, und zumeist berühren die sich stellenden Fragen in ihrer Essenz den Beginn des Lebens und beziehen sich letztlich auf den moralischen Status des Embryos, oder betreffen das Lebensende.
Ein anderes Thema, das uns nun schon seit einiger Zeit begleitet, ist die sogenannte "personalisierte Medizin". Der Begriff "personalisierte" Medizin wird international zusehends durch "precision medicine" ersetzt. Das heißt, dass Diagnostik und Behandlung wesentlich stärker nach individualisierten Maßstäben durchgeführt werden. Eben nicht nach dem Prinzip "One size fits all", sondern auf die Zielgruppe und deren genetische Besonderheiten zugeschnitten. Wenn auch immer schon der einzelne Patient individuell von seinem Arzt behandelt wird - der Diabetiker muss eine individuelle Einstellung seines Blutzuckers bekommen, der Herzpatient eine individuelle Einstellung seines Blutdruckes - betrifft die heutige Präzisionsmedizin die molekulargenetischen Eigenschaften. Sie schöpft ihre Leistungen aus den immer effizienter werdenden Möglichkeiten der Analyse größter Datenmengen. Die Berücksichtigung der Genetik, die Definition und Entwicklung von Biomarkern, also messbaren biologischen Merkmalen hätte dann für die Patienten den Vorteil, dass sie keine für sie unwirksamen Therapien verabreicht erhalten, sondern nur solche, die sich schon in der Entwicklung für ihre Charakteristiken als effektiv herausgestellt haben. Das führt natürlich auch zu einer Verminderung von Nebenwirkungen und allfälligen Komplikationen von einem für den Einzelnen womöglich unwirksamen Medikament.
Die Frage, die sich hier stellt ist, ob eine auf molekulargenetischen Untersuchungen beruhende Medizin nicht nur sehr kostspielig, sondern auch tatsächlich viel besser ist? Oder weckt sie nur falsche Hoffnungen auf Heilungschancen bei den Kranken? Was macht ein Mensch, der von seiner genetischen Ausstattung eben nicht in das entwickelte Therapiemuster passt? Wird es für ihn eine andere "personalisierte" Medizin geben? Wer trägt die Kosten dieser aufwendigen Entwicklung?
Wir müssen intensiv weiterforschen, das ist klar. Wir müssen lernen mit den großen Datenmengen umzugehen, die wir heute erfassen und mittels Computerprogrammen bearbeiten können und sie zu verstehen lernen. Der Begriff "personalisierte" Medizin ist auch missverständlich: es geht letztlich nicht nur um individuelle sondern um Gruppen von Patienten. In den vergangenen Jahren hat sich bereits die Gendermedizin etabliert, da auch für die Gruppe der Frauen geschlechtsspezifische Unterschiede in Diagnostik und Therapie existieren. Ein anderer Begriff, dem wir in diesem Zusammenhang begegnen, sind die seltenen Erkrankungen (rare and undiagnosed diseases): je besser wir natürlich die Unterschiede zwischen den einzelnen Patientengruppen herausarbeiten können, umso mehr Menschen werden als Träger seltener Erkrankungen diagnostiziert werden.
Das führt wiederum zu wesentlichen ethischen Fragestellungen: Wie kann ich auch für diese Patienten sicherstellen, dass sie im Sinne der Gerechtigkeit an den Errungenschaften der Forschung teilhaben können? Wer wird diese Forschungsvorhaben finanzieren, wenn nur eine geringe Anzahl an Patienten den vorhandenen "Markt" darstellt? Wie steht die Solidargemeinschaft der Versicherten dazu? Und wie kann ich bei immer kleiner werdenden Patientengruppen Diskriminierung und Stigmatisierung verhindern? Was für alle unsere Länder wichtig ist, ist im Zeitalter des Internets und der allgegenwärtigen Überinformation die Frage: Wie kann ich gleichzeitig die Gesundheitskompetenz und "Health Literacy" der betroffenen Menschen beeinflussen? Und - last but not least - wie kann ich bei einer zunehmenden Technisierung die Arzt/Patientenbeziehung qualifiziert verbessern?
Die personalisierte Medizin wird von der Industrie als Zukunftsstrategie bezeichnet, nationale Forschungsprogramme und die Europäischen Union behandeln sie prioritär. Wir müssen diese Entwicklung begleiten und kritisch hinterfragen, aber letztlich auch als Möglichkeit sehen, bessere Therapien für die Menschen zur Verfügung zu haben. Österreich hat bei der letzten EU-weiten Eurobarometeruntersuchung zu Wissenschaft und Forschung, die bereits vor über einem Jahr stattgefunden hat, als Schlusslicht abgeschnitten. Dennoch will jeder Österreicher im Krankheitsfall die beste und innovativste Behandlung haben. Würden wir bei derselben Befragung heute besser abschneiden? Hier ist die Regierung gefordert aufzuklären und Wissenschaft und Forschung die Position - auch budgetär - zu geben, die sie in einem modernen Staat für eine bessere Zukunft innehaben soll.