Gender und Gesundheit: Geschlecht "spielt immer eine Rolle"
"Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus", "Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken" oder "Männer sind anders, Frauen auch" - das sind nur wenige von unzähligen Buchtiteln über die psychologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Doch Männer und Frauen ticken nicht nur anders, sie werden auch anders krank: Krankheitsrisiken und -verläufe, das Gesundheitsverhalten und der Umgang mit Erkrankungen sowie das Ansprechen auf und die Nebenwirkungen von Medikamenten unterscheiden sich oft stark. Diesem Aspekt hat sich die Gender Medizin verschrieben.
Lange war das Thema Gesundheit männlich dominiert - Erkrankungen wurden an Männern erforscht, Medikamente - auch wegen ethischer Bedenken bei ungeplanten Schwangerschaften - ausschließlich an ihnen getestet. Frauen und auch Kinder galten als "kleine" oder "leichte Männer", bei denen man davon ausging, nur die Dosierung der Wirkstoffe an das Körpergewicht anpassen zu müssen. In den vergangenen Jahrzehnten setzte sich jedoch die Erkenntnis durch, dass Gesundheit wie Krankheit sowohl von "Sex"- als auch von "Gender"-Unterschieden beeinflusst werden. Mit "Sex" ist dabei das biologische Geschlecht gemeint, das hormonelle, genetische und anatomische Faktoren umfasst, mit "Gender" das kulturell geprägte, psychosoziale Geschlecht.
Teil der personalisierten Medizin
Die Gender Medizin ist also eine recht junge Disziplin und als Teil der personalisierten Medizin aus der in den 1970er-Jahren aufkommenden Frauengesundheitsbewegung entstanden. Eine der Vorreiterinnen war die US-Kardiologin und Medizinwissenschafterin Marianne Legato, die schon in den 1980er-Jahren auf Unterschiede zwischen Männern und Frauen bei Herzerkrankungen aufmerksam machte. Die Weltgesundheitsorganisation begann ebenfalls in den 1980er-Jahren vor dem Hintergrund der Frauengesundheitsforschung mit der Ergründung der Unterschiede, setzte Mitte der 1990er-Jahre das Gender Mainstreaming fest und führte erst Anfang der 2000er-Jahre eine Gender Policy ein.
Heute hat die Gender Medizin als interdisziplinäre Querschnittsmaterie einen festen Platz in der medizinischen Forschung gefunden - auch in Österreich. 2007 nahm die Medizinische Universität Innsbruck als erste medizinische Hochschule des Landes das Fach in die Pflichtlehre auf, seit 2014 hat es dort eine eigene Professur. An der Medizinischen Universität Wien gibt es seit 2010 den von Alexandra Kautzky-Willer besetzten Lehrstuhl für Gender Medicine und einen entsprechenden postgraduellen Lehrgang. Das zweijährige Masterstudium befindet sich derzeit im zweiten Durchgang und wird danach 30 Absolventen aufweisen. Die Frauenquote beträgt allerdings - wie nicht anders zu erwarten - laut Lehrgangsleiterin Kautzky-Willer 75 Prozent. "Natürlich ist das Interesse bei Frauen allgemein größer", betonte die Universitätsprofessorin im Gespräch mit APA-Science. Das Interesse der Männer an der Thematik sei zwar stark im Steigen und die Verteilung der Geschlechter "auf niederschwelliger Ebene" wie im gewöhnlichen Medizinstudium sowie bei den Diplomarbeiten bereits ausgeglichen, von einem derartigen vertiefenden Masterstudium wären viele Männer aber abgeschreckt, weil sie feministische Züge befürchteten.
Beide Geschlechter sollen profitieren
Zwar liegt der Ursprung der Gender Medizin im Feminismus und der Fokus laut Kautzky-Willer derzeit tatsächlich noch mehr auf den Frauen, da hier einfach Nachholbedarf herrscht, jedoch ist der Grundgedanke der Disziplin, dass beide Geschlechter gleichermaßen von den Erkenntnissen profitieren sollten. "Auch bei Männern gibt es viele Themen, die vernachlässigt wurden, wie etwa Depressionen oder Osteoporose", unterstrich die Medizinerin. Gerade die psychischen Erkrankungen seien eine Thematik, bei der Männern die Gender Medizin nütze, denn diese seien häufig "negiert" worden: Statistisch gesehen sind Frauen zwar doppelt so häufig depressiv wie Männer, letztere verüben aber dreimal so oft Selbstmord - "das passt einfach nicht zusammen". Das Bild der Depression sei beim Mann einfach ein anderes und äußere sich häufig über Alkoholismus und andere Suchterkrankungen.
Auch bei Krebs sei man auf deutliche Unterschiede gestoßen, so Kautzky-Willer. So wiesen Männer generell häufiger Karzinome auf und diese wären oft aggressiver und somit auch tödlicher. Bei Kolonkrebs beispielsweise hätte sich auch gezeigt, dass die Empfehlungen für das Screening nicht optimal sind. Statt mit 50 Jahren sollten Männer, die im Durchschnitt um zehn Jahre früher erkranken als Frauen, besser schon ab 45 zu den Vorsorgeuntersuchungen gehen. Bei Frauen würde hingegen ein Heraufsetzen des Alters auf 55 ausreichen, meinte Kautzky-Willer.
Von der Forschung im gesamten kardiologischen Bereich - aktuell stünden besonders Geschlechtsunterschiede bei der Herzinsuffizienz im Fokus - hätten wiederum vor allem Frauen profitiert. In dieser Disziplin habe die Gender Medizin ja überhaupt erst ihren Ursprung genommen, weil Herzkrankheiten bei Frauen wegen der unterschiedlichen Symptomatik lange Zeit drastisch unterschätzt worden waren. Trotz all dem Wissen komme die Umsetzung in die Praxis aber bisher nur langsam voran. Erst jetzt würden langsam Richtlinien und Empfehlungen für die Behandlung abgeändert, stellte die Medizinerin fest, "da tut sich jetzt vielleicht endlich was, nachdem die Probleme seit 20 Jahren bekannt sind".
Neben der Kardiologie mit ihrer "Vorreiterrolle" ist in Sachen Gender Medizin aus Sicht Kautzky-Willers bisher auch in der Epidemiologie bzw. im Public Health-Bereich viel passiert, sowie auch in ihrem eigenen Fachgebiet, das Stoffwechsel/Endokrinologie und Diabetes umfasst. "Stiefkinder" seien bisher vor allem die Unfallmedizin und einige chirurgische Fächer sowie die Orthopädie gewesen. Lange Zeit war auch die Urologie auf den Mann fixiert, das ändere sich aber bereits, erklärte die Universitätsprofessorin und verwies auf rege Forschungstätigkeit auf dem Gebiet, auch von österreichischen Kollegen.
Auch kulturelle und ethnische Faktoren berücksichtigt
Fest steht jedenfalls für die Expertin, dass es keinen Bereich gibt, in dem die Gender Medizin fehl am Platz wäre: "Es spielt immer eine Rolle, weil es nun mal beim Menschen eine Rolle spielt", betonte Kautzky-Willer. Das Geschlecht sei biologisch gesehen überall verankert - in den Hormonen, den Chromosomen, der Genetik und den Schaltkreisen im Gehirn. Fraglich sei jedoch, ob man diese Differenzen immer berücksichtigen müsse. "Oft wissen wir das einfach noch nicht so genau", gestand sie ein. Sicher seien die Unterschiede oft sehr fein, weil ja auch viel andere Faktoren eine Rolle spielten - und all diese Faktoren, das ganze Umfeld von denen Genen über die ethnische Herkunft bis zu kulturellen und psychosozialen Einflüssen, werden von der Gender Medizin als einziger Fachrichtung berücksichtigt. "Dieses komplexe, ganzheitliche hat nur die Gender Medizin", unterstrich Kautzky-Willer. Anders wäre es auch gar nicht möglich, da die verschiedenen Einflüsse nur schwer trennbar sind, was etwa das Beispiel Epigenetik - die Beeinflussung der Gene durch die Umwelt, für die Mediziner ein "absolutes Zukunftsfeld" der Gender Medizin - zeige. Durch die Migrationsströme sei auch zu erwarten, dass ethnische und kulturelle Unterschiede, die bisher vor allem in den USA erforscht wurden, neben Geschlechtsunterschieden in der Zukunft hierzulande ein größeres Thema werden.
Österreich steht "nicht so schlecht" da
Generell sieht Kautzky-Willer den Stand der Gender Medizin in Österreich als "gar nicht so schlecht". Man sei anderen Ländern etwa mit den Professuren, dem Lehrgang und auch dem Diplom der Ärztekammer voraus gewesen, doch natürlich sei es "halt immer noch zu wenig und zu langsam". Das grundlegende Bewusstsein in der Politik sei durchaus vorhanden und in den Rahmenzielen der Regierung die Chancengleichheit der Geschlechter in der Gesundheit festgeschrieben, auch in der Forschung passiere viel. Für die Zukunft benötige es aber vor allem mehr Geld für die Forschung und mehr Anstrengungen seitens der Pharmaindustrie sowie eine bessere Umsetzung der Ergebnisse in die Praxis.
Bei den Patienten gebe es neben einigen gut Informierten aber teilweise großen Aufklärungsbedarf. "Und solange es keine eigenen Fachärzte und Abteilungen für Gender Medizin gibt, wird sich das auch nicht ändern", meinte Kautzky-Willer. Allgemein sei das Bewusstsein in Österreich in den vergangenen Jahren jedoch gestiegen, so die Medizinerin - "immerhin muss ich nicht mehr gar so oft erklären, was Gender Medizin eigentlich ist".
Von Verena Frank / APA-Science