Superti-Furga: Zellpforten als Schlüssel zur besseren Dosierung
Die Entschlüsselung des Genoms hat die "Personalisierung" der Medizin erst möglich gemacht, ist Giulio Superti-Furga, wissenschaftlicher Direktor des Centrums für Molekulare Medizin (CeMM), überzeugt. Ein nächster entscheidender Schritt könnte nun sein, die Spielregeln zu entschlüsseln, nach denen Zellen ihre Eingangspforten öffnen oder schließen und damit das Eindringen von Wirkstoffen erlauben oder verhindern.
Im Interview mit APA-Science erklärt der Molekularbiologe, warum dieser Vorgang an eine mittelalterliche Stadt erinnert und warum ein gewisses Grundwissen über das eigene Genom in Zukunft immer wichtiger werden wird.
APA-Science: Zum Thema personalisierte Medizin kursieren gerade verschiedene Erklärungsmodelle und Definitionen. Was ist Ihr persönlicher Blickwinkel darauf, welche Definition würden Sie wählen?
Giulio Superti-Furga: In der personalisierten Medizin geht es um eine präzise, auf molekulare Eigenschaften (" molekulares Profil") des Individuums eingehende Diagnostik, die mit einer diversifizierten Behandlung Hand-in-Hand geht. Beispielsweise lohnt es sich nur beim Vorhandensein einer gewissen Genvariante eine bestimmte Krebstherapie einzusetzen. Wenn diese Genvariante nicht festzustellen ist, bringt die Therapie, die unter Umständen auch kostspielig ist, oder unangenehme Nebeneffekte verursacht, gar nichts.
Personalisiert bedeutet deshalb nicht zwangsläufig individuell, es geht tatsächlich um die präzise Unterscheidung von Patientengruppen - man spricht daher auch von Präzisionsmedizin. Wir gehen weiter und sagen: Bei der Personalisierten Medizin sollte es sich um eine Medizin handeln, die aus molekularer, mechanistischer Sicht aufgeklärt ist und deswegen präzise sein kann. Insofern sind Molekularmedizin, Personalisierte Medizin und Präzisionsmedizin Synonyme.
APA-Science: Kurz zum Hintergrund: Was hat es an medizinischen und wissenschaftlichen Fortschritten gebraucht, damit dieses jetzige Momentum für personalisierte Medizin überhaupt erst entstehen konnte?
Superti-Furga: Ich glaube man ist sich einig, dass das mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms gekommen ist. Nicht nur operativ, sondern auch konzeptuell. Mit der Fähigkeit, Genome zu sequenzieren, gibt es eine gewisse moralische Verpflichtung, diese Informationen zum Vorteil der Patienten zu gebrauchen - für dieses Ziel ist jedoch noch viel Forschungsarbeit und gesellschaftlicher Konsens nötig. Es geht um die Individualität der Menschen und der Erkrankungen. Die "genomische Revolution" ist wie eine neue Lupe, oder ein neues Mikroskop, mit dem wir Dinge sehen können, die vorher unsichtbar waren. Sie ist die Basis für eine zunehmend krankheits-- und patientenspezifische Behandlung.
APA-Science: In welchen Bereichen ist personalisierte Medizin jetzt schon bedeutsam und welche Zukunftshoffnungen sind damit verbunden?
Superti-Furga: In der Diagnostik, der Möglichkeit präzise die Erkrankung zu definieren, ist der Fortschritt am offensichtlichsten. Man geht davon aus, dass man in Zukunft sehr viele Tests bei Neugeborenen durch eine breit angelegte Erfassung des molekularen Repertoires ersetzen kann, sei es anhand des Genoms, oder auch des Metaboloms (Anm.: alle charakteristischen Stoffwechsel-Eigenschaften einer Zelle bzw. eines Gewebes oder Organismus). Früher musste man viele einzelne Tests für das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein bestimmter Enzyme bei Neugeborenen machen. In Zukunft lässt sich das über ein Metabolismusprofil testen, das macht man ja teilweise jetzt schon. Dadurch wird man viele Veranlagungen einfacher und präziser erfassen können. Zusätzlich wird man regelmäßig die Genomsequenz analysieren um gemäß des Vorhandenseins möglicher Erbveranlagungen die nötigen ärztlichen Hilfsmaßnahmen zu ergreifen (zB eine besondere Diät).
Bei den Therapien geht es meist darum, verschiedene Anwendungsgebiete oder Gruppen zu erkennen. Bei der Behandlung mit Medikamenten - das können sowohl chemische Wirkstoffe sein wie auch biologische - sind genomische Informationen enorm hilfreich für die Wahl des richtigen Mittels und seiner Dosierung. Darüber hinaus lassen sich Therapien auf das erkrankte Gewebe maßschneidern, wenn man dessen spezifische Genaktivität kennt. Die meisten Beispiele dafür kommen aus der Krebsforschung, wo man bei bestimmten Leukämien schon sehr genau weiß, welche genetische Veränderung am besten mit welchem Medikament assoziiert ist.
APA-Science: Können Sie das noch etwas näher ausführen?
Superti-Furga: Es gibt grundsätzlich drei Gruppen von Genprodukten, oder von Prozessen, die hier eine Rolle spielen. Die meisten Medikamente wirken auf Proteine bzw. Enzyme. Deren Aufbau und Funktion wird von ihren jeweiligen Genen bestimmt. Wenn nun ein Wirkstoff auf das Enzym A zielt, so hat die Sequenz von Gen A für Enzym A einen Einfluss auf die Wirkung des Medikaments. Das heißt, wir gehen erstens davon aus, dass alle Gene, deren Genprodukte direkt mit dem Wirkstoff in Berührung kommen, bei der Wirkung des Medikaments eine Rolle spielen. Zweitens gibt es die Gene, die für die Aufnahme, Veränderung und Abbau des Wirkstoffs über den Stoffwechsel verantwortlich sind, die ihn also metabolisieren. Diese zweite Gen-Gruppe zum Beispiel beeinflusst stark wieviel vom Wirkstoff überhaupt genommen werden soll. Da gibt es große Unterschiede zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft, aber auch zwischen den Geschlechtern, unterschiedlichem Alter oder Ernährungsgewohnheiten.
Damit haben wir ziemlich viel abgedeckt von den möglichen Einwirkungen des Genoms auf die Wirkungseffizienz von dem Medikament. Und da wir ruhig davon ausgehen können, dass es in jedem dieser zwei Bereiche zwischen ein paar bis zu 50 oder 100 Genprodukte geben kann, die eine Rolle spielen können, kann man sich vorstellen, dass jeder von uns - da wir uns ungefähr in einem Tausendstel in unseren Basenpaaren unterscheiden - sozusagen eine eigene Art hat, diese Wirkstoffe zu interpretieren. Das sieht man zum Beispiel sehr deutlich bei Alkohol oder Kaffee, dass man recht unterschiedlich auf diese ansprechen kann.
APA-Science: Was hat das für praktische Konsequenzen für die Arzneistoffentwicklung?
Superti-Furga: Für die Arzneistoffentwicklung kann es sehr positive Entwicklungen mit sich bringen, weil man bei den klinischen Studien die Patienten nach ihrem molekularen Profil sortieren kann. Wie bereits gesagt, viele werden von bestimmten Medikamenten gar nicht profitieren, weil sie die molekulare "Voraussetzung" nicht bringen, zum Beispiel nicht das "kranke" Genprodukt vorweisen. Auch bei der Dosierung wird man schlauer. Man erhält dann Gruppen, von denen man weiß, dass sie bestimmte Mengen von einem Enzym produzieren, entsprechend kann man die Wirkstoffmenge daran anpassen. Andere sind vielleicht gar nicht für den Wirkstoff geeignet, weil sie ihn einfach zu schnell ausscheiden oder zu empfindlich darauf reagieren. Da sind in Zukunft einige Verbesserungen zu erwarten. Viele Medikamente werden heutzutage ja nicht zugelassen, weil sie den hohen Sicherheitsmaßstäben nicht entsprechen, also Nebenwirkungen zeigen. Doch das wird immer pauschal über sehr viele Patienten getestet. Diese Nebenwirkungen sind aber auch oft abhängig vom molekularen Profil der Patienten. In Zukunft könnte also auf dem Beipackzettel stehen: Das gilt nur für Patienten die positiv sind für diesen Test, oder die diesen einen molekularen Marker haben.
APA-Science: Sie haben gerade wieder einen Advanced Grant zugestanden bekommen. Es heißt, die Ergebnisse dieser Forschung, die Sie auch "Game of Gates" genannt haben, könnten zu einem neuen Verständnis der Zellbiologie beitragen und damit den Weg zu neuen zielgerichteten Therapien eröffnen?
Superti-Furga: In diesem Grant geht es um molekulare Transporter, das sind Proteine, die dafür zuständig sind, Nährstoffe und andere chemische Substanzen in die Zelle hineinzuschleusen. Denn die Zelle ist von der Zellmembran geschützt, die meisten chemischen Substanzen können sie nicht durchdringen - außer es gibt Proteine, also eben jene Transporter, die diese Substanzen spezifisch durchbringen.
APA-Science: Das heißt, man muss diesen Schutzmechanismus irgendwie austricksen?
Superti-Furga: Das ist wie bei einer mittelalterlichen Stadt. Da gibt es eine Mauer mit Toren, durch die man durchmuss. Und bei diesen Toren wird entschieden, was hineingelassen wird und was draußen bleibt. Braucht die Stadt beispielsweise Weizen, dann kommt ein Karren Weizen durch. Andere Waren, die man nicht braucht, oder gar gefährliche Güter oder Eindringlinge werden nicht hineingelassen. Das entspricht dem Management des chemischen Transports über die Zellmembran, sie ist die Schnittstelle zwischen der biologischen und der chemischen Welt - hinter der Membran ist der lebendige Organismus, außen ist die chemische Welt. Und einer der Gründe, weshalb ich den Grant bekommen habe, ist, dass diese Transporter - obwohl sie die Manager dieser unglaublich wichtigen Schnittstelle zwischen Biologie und Umwelt, zwischen drinnen und draußen sind - nicht wirklich gut erforscht sind.
APA-Science: Und was hat das mit personalisierter Medizin und Medikamenten zu tun?
Superti-Furga: Medikamente, chemische Substanzen, müssen ja auch in die Zellen hineinkommen, um zu wirken. Dafür haben sie in der Evolution aber keine eigene Pforte bekommen - das heißt die wirken nur dann, wenn sie sich quasi als Trittbrettfahrer durch bereits bestehende Pforten mogeln können, die eigentlich für andere Substanzen gedacht sind. Und deswegen glauben wir, dass viele Arzneistoffe erfolgreich sind, die selber natürliche Substanzen sind oder solchen ähneln, für die es bereits Transporter gibt. Eine Zelle braucht zum Beispiel die ganze Zeit Zucker, Aminosäuren, Spurenelemente, Eisen, Kupfer, Vitamine usw -für all das gibt es eigene Transporter. Und diese Transporter müssen auch die Arzneistoffe nutzen. Wenn sie das nicht schaffen, können sie auch nicht wirken.
Von der Forschung mit diesem Grant erhoffen wir uns nun am CeMM, dass wir verstehen wie diese Pforten reguliert sind. Dadurch könnte man in Zukunft auch die Dosierung viel besser personifizieren. Etwa bei der Chemotherapie, hier sind die meisten Substanzen ja sehr toxisch. Je gezielter man sie also einsetzen kann, desto größer ist der Nutzen.
APA-Science: Im Kern geht es also auch um die Möglichkeit, Medikamente besser dosieren zu können?
Superti-Furga: Ja, im Kern geht es darum. Aber diese Pforten können natürlich auch selbst als Zielproteine eingesetzt werden. Ein Beispiel sind Stimmungsaufheller wie Fluoxetin (Prozac), das den Serotonintransporter hemmt, wodurch der Serotoninspiegel im Gehirn angehoben wird. Speziell für die Krebsforschung erhoffen wir uns, dass wir den Code dieser Pforten - deshalb dieses "Game of Gates" - entschlüsseln. Dazu müssen wir wissen, welche Pforten miteinander wechselwirken, in welchem Ausmaß sie produziert werden und was sie transportieren. Krebszellen haben ja einen veränderten Metabolismus, die wachsen immer schneller und brauchen dann andere Substanzen aus der Umgebung als eine normale Zelle. Wenn das alles über eine bestimmte Pforte geht die absolut notwendig ist, könnte man versuchen, diese Pforte mit einem Medikament zu schließen und so die Krebszelle aushungern.
APA-Science: Wenn diese Forschung Ihnen wirklich gut aufgeht, was steht am Ende, was bringt es konkret?
Superti-Furga: Ganz konkret wird es sicher gezieltere und besser wirkende Medikamente geben, die auch weniger Nebeneffekte haben. Das ist das eine. Das andere ist ein generelles Verständnis des Metabolismus und der Wechselwirkungen im Organismus, mit dem vielleicht andere Erkrankungen erklärt werden könnten. Ernährung und Umwelt spielen hier eine große Rolle. Unser Organismus steht im chemischen Austausch mit dem Ökosystem, dem Nahrungszyklus, den Mikroorganismen, den Pflanzen, Pilzen und Tieren, sowie dem Boden, der Luft und dem Wasser. In Zukunft wird man deswegen davon ausgehen müssen, dass ein gesunder Organismus nur in einer gesunden Umwelt möglich ist.
APA-Science: Sie haben das Forschungs- und Bildungsprojekt Genom Austria mit initiiert, das nun das Erbgut der ersten zehn freiwilligen Teilnehmer in Österreich sequenziert und analysiert hat (siehe "Genom Austria: Genome von Freiwilligen öffentlich verfügbar"). Was ziehen Sie für eine Zwischenbilanz aus dem Projekt?
Superti-Furga: Wir stoßen auf sehr großes Interesse, es haben sich ungefähr 800 Leute gemeldet. Wenn wir über personifizierte Medizin sprechen, in der sehr viel auf der Genominformation beruht, muss man immer bedenken, dass dafür auch gewisse Grundkenntnisse in der Bevölkerung vorhanden sein müssen - auch um eine Zweiklassengesellschaft zu vermeiden, auf der einen die Klasse der "Genomwissenden" und auf der anderen die "Unwissenden". Man muss verstehen, was die Gene machen und was nicht, und dass sie uns zwar nur teilweise, aber dennoch bestimmen. Um das debattieren zu können, gibt es das Genom Austria Projekt. Es ist nicht nur ein rein wissenschaftliches, sondern vor allem ein Kultur- und Bildungsprojekt. Gene zum Anfassen, sozusagen. Wir glauben, dass das Projekt noch größer werden sollte. Nicht, weil wir mit anderen nationalen Genom-Projekten wetteifern wollen, sondern weil wir glauben, dass es sich lohnt, ein geografisch-österreichisches "Durchschnittsgenom" zu kennen, um Eigenschaften. die man bei seinem Patienten antrifft, vergleichen zu können, um so zu sehen, ob etwas Ungewöhnliches vorliegt. Das spannende an der Genominformation ist ja, dass sie immer kontextspezifisch ist und mit der Umwelt in Verbindung steht. Ich kann gewisse Diabetes-Veranlagungen mit dem geeigneten Lebensstil wettmachen. Genom Austria wurde von der MedUni Wien und dem CeMM ins Leben gerufen als Plattform für die Forschung und Bildung über Genome in Österreich.
APA-Science: Ist die Genomsequenzierung als Teil der allgemeinen Gesundheitsvorsorge denkbar?
Superti-Furga: Absolut. Mit der Genomsequenzierung wird man vor allem die Veranlagung für bestimmte Erkrankungen erkennen können und danach handeln. In den meisten Fällen gibt dafür bestimmte Lebensstil-Empfehlungen. Die meisten kennen wir ja schon jetzt und machen aber wenig (Rauchen, zu wenig Sport, zu viele Kalorien). Aber die "Sequenzen", sowohl ein "mutiertes" Genom wie auch deren "Auswirkungsmuster" (Profil der tatsächlich im Gewebe aktiven Gene) der erkrankten Gewebe, z.B. einer Fettleber oder eines Tumor, könnten an der Therapiewahl Einfluss nehmen. Auch glauben wir in Zukunft anhand von Genomsequenzen vermehrt Hinweise ablesen zu können über die richtige Dosierungen vieler Arzneistoffe.
APA-Science: Wenn die genetischen Merkmale aller Personen offen einsehbar sind, verstehen Sie in dem Zusammenhang Bedenken in puncto Datenschutz und Privatsphäre?
Superti-Furga: Natürlich verstehen wir diese Bedenken. Jeder sollte selbst entscheiden können, welche Informationen überhaupt einsehbar sind. Das ist eine Grundfreiheit die man immer hochhalten muss. Aber umso wichtiger ist es, die Bevölkerung mit Projekten wie Genom Austria zu informieren. Denn Information und Wissen schützten vor übertrieben Versprechungen und übertriebene Ängste.
Zurzeit kann man allein anhand des äußeren Erscheinungsbildes, seinem Alter oder seinem Gewicht, mehr über den Gesundheitszustand eines Menschen sagen, als man aus seinem Genom lesen könnte. Die Genome und die Information, die sie mit sich bringen werden eine zentrale Rolle in der Zukunft der Menschheit spielen. Sie werden eine größere Selbstverantwortung in Gesundheitsfragen erfordern, eine wissenschaftliche Widerlegung aller rassistischen Überlegenheitstheorien ermöglichen, ein viel differenzierteres und "tieferes" Verständnis der eigene Geschichte (wir sind das Resultat erfolgreicher Paarungen verschiedener Hominiden, auch medizinisch höchstspannend) herbeiführen und schlussendlich ein erhöhtes Verständnis des Verhältnis Mensch-Umwelt anregen. Alles sehr spannend!
Das Interview führte Mario Wasserfaller / APA-Science