Krebsforscher Gerald Prager: "Haben bereits jetzt vielfach Präzisionsmedizin"
Unterschiedliche Tumore zeigen die gleichen molekularbiologischen Veränderungen - das führt zu völlig neuen Ansätzen in der Therapie. Warum interdisziplinäre Zusammenarbeit bei der Behandlungsplanung unerlässlich ist und weshalb es Patienten eher verunsichern kann, wenn sie Gewebeproben ohne ärztliche Begleitung extern analysieren lassen, erklärt der Krebsforscher Gerald Prager von der Medizinischen Universität Wien im APA-Science-Interview.
APA-Science: Was sind die bedeutendsten Erkenntnisse der vergangenen Jahre im Bereich der individualisierten Medizin bei Krebserkrankungen?
Gerald Prager: Es herrscht internationale Einigkeit, dass Tumorerkrankungen nicht mehr ausschließlich nach dem Organ ihrer Entstehung klassifiziert werden können. Durch die Charakterisierung ihrer molekularen Eigenschaften ist es möglich, sie in unzählig viele Subklassen zu unterteilen. Das beste Beispiel dafür sind Brusttumorerkrankungen, bei denen wir bereits seit Jahrzehnten den Hormonrezeptorstatus bestimmen und nur Patienten bzw. Patientinnen mit HR-positiven Tumoren mit einer Anti-Hormontherapie behandeln. Jene Tumore, die Her-2, ein Oberflächeneiweiß, exprimieren, können zusätzlich mit einem Antikörper behandelt werden. So eine sogenannte "stratifizierte" Therapie (Anm.: das Aufteilen einer Gruppe von Patienten mit gleicher Erkrankung in mehrere Subgruppen anhand eines unterschiedlichen Merkmals) ist bereits klinischer Alltag. Aber mit der individualisierten Therapie auf Grundlage einer umfassenden molekularen Charakterisierung haben wir die Möglichkeit, präzisionsmedizinische Maßnahmen zu setzen.
Ein weiterer Meilenstein der Krebstherapie ist das Konzept der Krebsimmuntherapie. Das ist zwar ebenso eine zielgerichtete Therapie, hat aber per se nichts mit der personalisierten Medizin zu tun. Diese Therapie soll Zellen des Immunsystems stimulieren, um Tumorzellen zu erkennen und diese zu bekämpfen. Dabei haben derzeit prädiktive Marker nur zum Teil eine Bedeutung.
APA-Science: Wodurch entsteht Krebs?
Prager: Man nimmt heute an, dass trotz dutzender Veränderungen im Tumorgenom nur vier bis sechs treibende Mutationen die jeweilige Tumorerkrankung "anfeuern". Einzelne treibende Veränderungen erkennen wir in unterschiedlichen Tumorerkrankungen wieder, diese halten sich also nicht an anatomische Grenzen. Im Rahmen klinischer, kontrollierter Studien mit individualisierten Therapieansätzen wird derzeit getestet, ob der Einsatz der jeweiligen blockierenden Substanzen in unterschiedlichen Tumorentitäten vergleichbar effizient ist.
Momentan testen wir im Rahmen der sogenannten EXACT-Studie am Comprehensive Cancer Center (CCC), ob die molekulare Charakterisierung des Tumormaterials durchführbar ist und welche Therapieentscheidungen sich daraus für Patientinnen und Patienten ergeben können, für die keine Standardtherapien (mehr) zur Verfügung stehen.
APA-Science: Krebs in verschiedenen Organen kann den gleichen Ursprung haben - was bedeutet das für die Therapie?
Prager: Tumorerkrankungen entstehen in der Regel aufgrund einer Vielzahl von molekularen Veränderungen, die, wie schon erwähnt, zum Teil bei unterschiedlichen Tumorerkrankungen wiederzufinden sind. Man kann sich das Bild der Veränderungen im Tumorgenom wie eine Straßenkarte einer Stadt vorstellen. Alleine die Zeichnung des Straßennetzes gibt uns noch keine Auskunft über die Verkehrsknotenpunkte, die nachmittags regelmäßig zum Verkehrschaos führen. Diese zu identifizieren ist der Grundansatz für die Lösung des Problems. Wenn es uns also gelingt, für jede einzelne Patientin die vier bis sechs "Hauptverkehrsknotenpunkte" ihrer Tumorerkrankungen zu identifizieren, sind wir einer effektiven, weil zielgerichteten Behandlung entscheidend näher gekommen. Gleichzeitig lassen sich auf diese Weise teure Therapien mit potenziell toxischen Nebenwirkungen vermeiden.
APA-Science: Welchen Einfluss hat das auf die Zulassung neuer Medikamente?
Prager: Damit ein neues Medikament zugelassen wird, müssen von Behörden genehmigte und kontrollierte Studien durchgeführt werden. Sie sollen die Wirksamkeit und Ungefährlichkeit der Substanz belegen. Selbst bei häufigen Tumorarten ist dies nur in großen Multicenter-Studien (Anm.: unter Mitwirkung vieler verschiedener Institutionen) möglich. Aber aufgrund der molekularen Profilerstellungen unterteilen sich die Tumorarten zunehmend in viele Untergruppen. Ein neuer Forschungsansatz schließt die Patienten nun nicht mehr nur nach der Tumorart in Studien ein, sondern fokussiert sich auf gemeinsame molekularbiologische Eigenschaften der Tumore. In sogenannten "Basket-Trials" werden Medikamente gegen spezifische Mutationen unabhängig von der Tumorart zum Nutzen der Patientinnen und Patienten getestet.
APA-Science: Trifft der Ausdruck "personalisiert" den Punkt?
Prager: Im klinischen Alltag wird das Konzept einer "stratifizierten Medizin" gelebt. Wir bewegen uns aber mit großen Schritten auf die personalisierte Medizin zu. Diese wird in wissenschaftlichen Untersuchungen wie der EXACT-Studie ausführlich analysiert. Von einer "Präzisionstherapie" lässt sich bereits jetzt bei vielen Anwendungen sprechen, da schon eine ganze Reihe an zielgerichteten Therapien eingesetzt wird.
APA-Science: Kann man der Hoffnung, die in die personalisierte Krebstherapie gesetzt wird, gerecht werden? Ist eine individuelle Therapie für jeden in absehbarer Zeit möglich?
Prager: Die molekulare Charakterisierung fordert ein Umdenken. Die Kosten dafür betragen derzeit etwa 1.000 Euro. Damit bewegen wir uns im Rahmen einer PET CT- Untersuchung (Anm.: eine Kombination zweier bildgebender Verfahren in einem Gerät, mit dem sich etwa die exakte Größe und Ausbreitung einer Tumorerkrankung im gesamten Körper feststellen lässt). Wir raten unseren Patienten momentan aber, solche Analysen nur im Rahmen von kontrollierten Studien an großen Zentren durchzuführen, weil sie dann kostenfrei sind. Das Konzept der personalisierten Therapie anhand einer molekularen Analyse hat zwar noch keinen Eingang in den klinischen Alltag gefunden, dennoch stellt die Methode bereits jetzt einen Meilenstein in der Diagnostik und Behandlung von Krebserkrankungen dar.
APA-Science: Was halten Sie von Sequenzier- und Datenbankservices, wie sie etwa Roche mit seiner "Foundation One" anbietet? Das Unternehmen sequenziert Gene aus Tumorgewebe und sucht anhand der Probe nach ähnlichen Fällen und auch gleich nach den optimalen Medikamenten.
Prager: Während wir prinzipiell jede Information über den Tumor unserer Patienten begrüßen, sollte man solche Angebote kritisch sehen. Neben seriösen Anbietern sind auch sehr viele unseriöse Angebote, beispielsweise über das Internet, zu finden. Prinzipiell sollte daher der behandelnde Onkologe eine Indikation - also eine konkrete Fragestellung zur molekularen Analyse des Tumors - erheben. Unbedingt notwendig ist es auch, dass ein Onkologe mit Erfahrung in der personalisierten Medizin die molekularbiologischen Ergebnisse der Analyse interpretieren kann, das Ergebnis mit dem Krankheitsverlauf in Zusammenhang setzt und es mit dem Patienten erörtert. Erst dann können unter Umständen Therapieentscheidungen daraus getroffen werden.
Wie komplex das ist, sehen wir im Rahmen des Tumorboard für Präzisionsmedizin (Anm.: Eine interdisziplinäre Plattform zur Behandlungsplanung), das am CCC angeboten wird. Nur durch ein multidisziplinäres Team können solche Entscheidungen getroffen werden. Ein externes Sequenzier- und Datenbankservice alleine ist daher oft vollkommen nutzlos und kann die Patienten verunsichern. Am besten sollen also ausführliche molekulare Analysen derzeit nur im Rahmen wissenschaftlicher Studien an großen akademischen Zentren in Anspruch genommen werden.
APA-Science: Ist die fächerübergreifende Zusammenarbeit auch im Klinikalltag gelebte Praxis oder ausgewählten Forschungsprojekten vorbehalten?
Prager: Bei uns am Haus ist das gelebte Praxis. Das CCC betreibt 21 Tumorboards, in denen pro Jahr für 7.500 Patienten Therapiestrategien ausgearbeitet werden. Wichtig für die EXACT-Studie und die personalisierte Therapie ist, dass das molekulare Profil des Tumors interdisziplinär besprochen wird und dass auch die Erkenntnisse von Biostatistikern und Molekularpathologen in die Therapieentscheidungen einfließen. Die Studie läuft derzeit noch und wird voraussichtlich Ende des Jahres abgeschlossen werden - die Zwischenergebnisse sind vielversprechend.
APA-Science: Bedeutet Präzisionsmedizin zwangsläufig höhere Kosten für die Kassen oder ist eher wahrscheinlich, dass es zu einer Zweiteilung bei den Patienten kommt (jene, die es sich leisten können, lassen z.B. Biomarker privat zu bestimmen...)?
Prager: Da die Analysen im Vorfeld helfen, unnütze oder toxische Therapien zu vermeiden, sind die Kosten für die molekulare Charakterisierung wahrscheinlich schnell eingespielt. Wie gesagt, die Empfehlung derzeit beschränkt sich auf die Teilnahme an akademischen Studien, die für die Patienten kostenfrei ist, oder nach vorheriger Indikationsstellung durch den Experten für zielgerichtete Behandlungen in der Onkologie.
APA-Science: Wieviel Aufklärung will der Patient? Was, wenn die Diagnose aufgrund der Biomarker aussichtslos ist?
Prager: Die molekulare Charakterisierung gibt Informationen über den Tumor. Ist die Prognose schlecht, hat der Patient das Recht, dies zu erfahren. Umgekehrt können Behandlungskonzepte oft dem Aggressivitätsgrad der Tumorerkrankung angepasst werden, um die Prognose wieder zu verbessern.
Das Erbgut und dessen Informationen werden dabei nicht angetastet. Nur bei familiären Risikogruppen empfehlen wir die genetische Abklärung möglicher Keimbahnmutationen nach vorheriger schriftlicher und mündlicher Zustimmung des Betroffenen.
APA-Science: Wo steht Österreich in dem Bereich in der Forschung und auch in der klinischen Versorgung von Patienten? Wo sehen Sie Verbesserungspotenzial, wo sollte noch ein Hebel angesetzt werden?
Prager: Wir sind in Österreich und ganz besonders am CCC ganz vorne mit dabei. Im Bereich der Präzisionsmedizin sind wir jedoch abhängig von Drittmittelgeldern, um unsere führende Position weiter auszubauen und unsere Unabhängigkeit von Pharmafirmen zu bewahren.
Zur Person: Gerald Prager ist Facharzt für Innere Medizin und Zusatzfacharzt für Onkologie und Hämatologie an der Medizinischen Universität Wien, an der er eine Forschungsgruppe mit Schwerpunkt der Blutgefäßneubildung und Biomarker leitet. Zudem ist er Koordinator der Präzisionsmedizin-Plattform und der Kolorektal-Tumoren Unit des Comprehensive Cancer Center (CCC), einer Einrichtung der Meduni Wien und des AKH Wien.