"Personalisiertes Impfen als Ergänzung zu globalen Impfprogrammen"
Impfungen gehören nachweislich zu den erfolgreichsten medizinischen Maßnahmen des 20. Jahrhunderts. Globale Impfprogramme haben zur Eradikation von Pocken geführt, in vielen Ländern zur Elimination von Polio und haben einen dramatischen Beitrag geleistet in der Reduktion der weltweiten Morbiditäts- und Mortalitätszahlen durch impfpräventable Infektionskrankheiten. Die durch Impfungen erreichte Kontrolle von Infektionskrankheiten hat darüber hinaus in vielen Ländern zu einer signifikanten Erhöhung der Lebenserwartung geführt. Trotz dieser beeindruckenden Errungenschaften steht das Impfwesen heutzutage vor großen und auch neuen Herausforderungen:
Das Ziel in der Vakzinologie ist es, Impfstoffe zu entwickeln, die immunogen und sicher sind und den Großteil der Bevölkerung vor Infektionserkrankungen, aber auch nicht infektiösen Erkrankungen (wie etwa Krebserkrankungen) schützen sollen. Die oftmals limitierenden Faktoren dieses wünschenswerten Ziels (nämlich eine nahezu 100-prozentige Wirksamkeit zu erreichen) sind aber zum einen die Komplexität von diversen Erregern, zum anderen die Heterogenität der Zielpersonen bzw. nicht geklärte Interaktionen zwischen Erregern und dem menschlichem Immunsystem.
Während die meisten heute verwendeten und empirisch entwickelten Impfstoffe (zumeist inaktivierte Isolate) nach dem "one shot fits all"-Prinzip erfolgreich angewendete werden, reicht diese Strategie für hypervariable virale Erreger (z.B. HIV, Hepatitis C), Bakterien (z.B. Tuberkuloseerreger) oder Parasiten (z.B. Malariaerreger) nicht (mehr) aus. Hier sind in der Entwicklung von Impfstoffen die "Omics-Technologien" gefordert, wie Genomics, Proteomics, Transcriptomics, um Daten über das Genom von Erregern zur Identifikation von protektiven Molekülen sowie die Identifikation von verschiedenen Signaturen, die mit immunologischer Protektion einhergehen, zu generieren. Dieser neu entstandene Zweig in der Forschung im Impfwesen wird als "Systems Vaccinology" oder "Vaccinomics" bezeichnet.
Der Begriff der "Vaccinomics" bezieht sich aber nicht nur auf die Erregeridentifikation sondern auch auf die Zielpopulationen. Wir sind heutzutage mit starken demografischen Veränderungen konfrontiert, mit einer zunehmend alternden Bevölkerung, mit einer Gesellschaft in der chronische Erkrankungen, die mit immunsuppressiven Therapien behandelt werden, stark zugenommen haben. Weltweit kann man die Zunahme von Übergewichtigkeit und Fettleibigkeit als neue Epidemie bezeichnen. Weiters haben Allergien drastisch zugenommen. All diese Erkrankungen und deren Behandlungen gehen mit einer deutlichen Schwächung des Immunsystems einher. Daraus ergibt sich zum einen eine Steigerung der Infektanfälligkeit, zum anderen ein schlechteres Ansprechen auf Impfungen. Es bedarf daher vermehrter Forschung, damit wir die immunologischen Vorgänge in verschiedenen Altersgruppen und bei bestimmten Grundkrankheiten besser verstehen.
Eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst die Heterogenität und individuellen Variationen von Impfantworten oder erhöhtem Erkrankungsrisiko, wie Polymorphismen von Genen, Erregerrezeptoren, u.v.m. Dieses individuelle immunologische Netzwerk führt nun auch im Impfwesen zum Konzept der "personalisierten/prädiktiven Vakzinologie". Mit Hilfe der genannten Omics-Technologien sollen das Risiko für bestimmte Infektionserkrankungen, die Wahrscheinlichkeit des Ansprechens auf eine Impfung, mögliche Nebenwirkungen oder die nötige Anzahl von Impfdosen vorhergesagt werden. Die Identifizierung von Biomarkern oder prognostischen Markern ist essenziell, um bestimmte Personengruppen vor Impfung zu identifizieren, die ein personalisiertes Impfvorgehen benötigen. Das Prinzip der "Vaccinomics" umfasst daher die Entwicklung neuer Impfstoff-Antigene und Formulierungen, verbesserte Wirkstoffverstärker, veränderte Impfdosen und andere Impfrouten, die zu einer höheren Wirksamkeit führen. Diese neuen Ansätze in der Vakzineentwicklung benötigen vermehrte interdisziplinäre Forschung und Kooperationen zwischen Wissenschaft, Biotech und Wirtschaft.
Wichtig ist aber, dass personalisierte Impfkonzepte nicht das bestehende Konzept der globalen Impfprogramme für die Bevölkerung aufheben. Es ist ein Phänomen unserer Zeit, dass fast eliminierte Krankheiten aufgrund zu geringer Durchimpfungsraten in der Bevölkerung (Beispiel Masern) wieder zurückkehren, weil das Bewusstsein für die Notwendigkeit und das Vertrauen in Impfungen zurückgegangen ist. Das hat einen Verlust des Herdenschutzes (d.h. Schutz der Personen, die aus verschiedenen Gründen nicht geimpft werden können) zur Folge. Demnach müssen sich die Anstrengungen auch darauf konzentrieren, die Durchimpfungsraten zu verbessern, um wieder einen besseren Herdenschutz zu erreichen.
Das Impfwesen steht also nicht nur auf gesellschaftspolitischer Ebene mit der zunehmenden Impfskepsis und steigenden Zahl an Impfverweigern vor großen Herausforderungen, sondern vor allem seitens der Forschung an einem spannenden Wendepunkt mit neuen Erkenntnissen und Entwicklungen von effektiveren und innovativen Impfstoffen, deren gezielter Einsatz letztlich auch von gesundheitsökonomischer Bedeutung sein wird.