"Personalisierte Medizin: Hoffnungsträger, Hoffnungsmacher"
Personalisierte Medizin ist eine Vision, die in den vergangenen Jahren große und auch berechtigte Hoffnungen geweckt hat. Die ambitionierten Erwartungen sind dahingehend, dass dadurch Fortschritte in Diagnose und Therapie erreicht werden, die eine neue patientenorientierte Ära in der Medizin einläuten könnten.
Derartige Hoffnungsmacher tauchen in der jüngeren Geschichte der Medizin in regelmäßigen Abständen auf. Das Gros dieser "Heilshoffnungsträger", deren Wurzeln häufig in der Esoterik zu verorten sind, scheitert oft schlicht und einfach an der Praxis und Umsetzung in der medizinischen Realität. Sie geraten - meist zu Recht - in Vergessenheit.
Bei der personalisierten bzw. individualisierten Medizin dürfte das höchstwahrscheinlich anders verlaufen. In diesem Segment haben sich schon sehr konkrete Anwendungen in der Praxis bewährt und durchgesetzt.
Die Tendenz ist offensichtlich, dass es von der reinen Vision bereits in die praktische Umsetzung geht, die in konkreten Anwendungen ihren Ausdruck findet. Ein Beispiel dafür ist die Therapie bösartiger Erkrankungen (bestimmte Krebsformen wie etwa Brust- oder Hautkrebs), bei denen die Entwicklung von einem standardisierten chemotherapeutischen Behandlungskonzept zu einer personalisierten Therapie zu beobachten ist. Dabei werden z. B. auch molekulare Ursachen von Tumorerkrankungen identifiziert, was individuelle, an der Erkrankung des Patienten orientierte Therapie ermöglicht.
Ein Grund, wenn nicht der Hauptfaktor, warum die personalisierte Medizin, also eine Medizin, die sowohl Diagnose als auch Therapie maßgeschneidert für die Patienten zur Verfügung stellen will, derart große Erwartungen weckt, liegt wohl in der Richtung, die die Medizin in den vergangenen Jahren verstärkt genommen hat: Allgemeine Vorgangsweisen, Standards und medizinische Abläufe , die einen aktuellen Behandlungskorridor vorgeben, sind vermehrt in den Vordergrund gerückt.
Die Gefahr dabei ist, dass sich die Patienten anpassen müssen und nicht umgekehrt. Dabei steht und stand die Befürchtung im Raum, dass mehr und mehr die Individualität der Patienten in den Hintergrund rückt und von deren persönlichen Besonderheiten abgewichen wird. Das hat sowohl bei vielen Patienten als auch bei einem Gutteil des Gesundheitspersonals zunehmendes Unbehagen ausgelöst.
Es ist auch zu beobachten, dass die Beschwerden von Patienten immer öfter in die Richtung gehen, dass sie nicht mehr als Individuen, sondern als leicht beschreibbares Kollektiv wahrgenommen werden. Der Patient "von der Stange", der leicht in Behandlungsschemata gepresst werden kann und damit eine effiziente Betreuung leichter möglich macht, ist wohl eine der gegenwärtigen Wunschvorstellungen von manchen Systemverantwortlichen.
Allerdings zeigen aktuelle Forschungsergebnisse, dass manche Medikamente unterschiedliche Wirkungen bei Frauen, Männern, Jugendlichen und Senioren entfalten. Das gilt oft auch für die Tageszeit, zu der die Mittel genommen werden. Umstände also, die dafür sprechen, dass das Thema Individualisierung und Personalisierung weit mehr als bisher in den Mittelpunkt der therapeutischen Entscheidung und Begleitung rücken sollte, insbesondere bei medikamentösen Therapien.
Die Medizin und die ärztliche Tätigkeit sind vom Grundprinzip her jedoch von jeher der bestmöglichen Diagnose und Therapie des einzelnen Patienten verpflichtet gewesen und haben das auch angestrebt. Vor allem die Evidenzbasierung hat wesentliche Fortschritte in der Medizin gebracht. Freilich sind die Aussichten in den vergangenen Jahrzehnten nicht annähernd so günstig gewesen, wie sie mit dem Konzept und den medizinisch-technischen Möglichkeiten der personalisierten Medizin nunmehr in greifbare Nähe gerückt sind.
Auch aus dem Blickwinkel der Qualität ist die Idee der personalisierten Medizin sehr attraktiv. Man kann hoffen, dass die bestmögliche, ja optimale Qualität, vor allem, was das Ergebnis betrifft, durch die Individualisierung eine besonders hohe Eintrittswahrscheinlichkeit bekommt. Diese bestmögliche, optimal individualisierte Therapie ist nunmehr nicht nur mehr eine vage Möglichkeit, die mit etwas Glück erreicht werden kann, sondern wird mittlerweile doch zu einer recht sicheren Gewissheit.
Wo hohe Erwartungen, da allerdings auch Befürchtungen, die ernst genommen werden müssen. Mit dem besonderen Eingehen auf die Individualität der Patienten und der digitalen Erfassung dieser Daten stellen sich neue Herausforderungen zu Datenschutz und -sicherheit. Hier muss ganz besonders überlegt werden, welche transparenten Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen und was mit diesen persönlichen Daten - auch anonymisiert - geschehen darf und soll.
Die personalisierte Medizin wird große Mengen an sensiblen Gesundheitsdaten sammeln, die sie auch benötigt, um eben auf die individuellen Besonderheiten der Patienten reagieren zu können. In dieser Hinsicht haben wir allerdings mit der tiefgehenden Diskussion über Sammeln, Verwenden und Verwerten von Gesundheitsdaten in ELGA einen reichen Erfahrungsschatz. Da sind bereits praxisgerechte Modelle vorhanden, die einen Schutz auf einem sehr hohen Niveau gewährleisten.
Eine weitere große Herausforderung wird die Finanzierbarkeit im öffentlichen Gesundheitssystem sein. Derart individualisierte Verfahren sind mit einem hohen Aufwand und daher hohen Kostenaufwendungen, vor allem im Forschungsbereich, verbunden. Der Mythos, dass in unserem Gesundheitswesen jede "notwendige" Leistung für Patienten finanziert werden kann, wird nicht mehr aufrechterhalten werden können. Die Fragen nach einer gerechten Ressourcenallokation und der Priorisierung von Leistungen im öffentlichen Gesundheitswesen werden daher verstärkt auftauchen. Letztlich wird es darum gehen, die öffentlichen Mittel besonders sorgsam zu verwenden und dort zu bündeln, wo das maximale Ergebnis für die Patienten zu erwarten ist.