Fördern und fordern: Londons Schulen zeigen es vor
Vor fünfzehn Jahren zählten Londons öffentliche Schulen zu den schlechtesten des Landes. Heute schneiden die Schüler der Hauptstadt bei den Abschlusstests besser ab als jene im Rest des Landes. Über die einschneidende Schulreform "London Challenge", den Einfluss von Einwanderern und das Manko freiwilliger Bildungsinitiativen sprach APA-Science mit Loic Menzies, Direktor des Londoner Bildungs-Think Tank LKMco.
Bei den mit elf und 16 Jahren durchgeführten Tests (am Ende der Grundschule bzw. der Pflichtschule) liegt London nun schon seit Jahren an der Spitze. Nicht nur erreicht eine größere Anzahl von Schülern die Mindeststandards, es gibt auch mehr gute und exzellente Schulen. Zudem schneiden Kinder aus ärmeren Verhältnissen in Londons Schulen deutlich besser ab als im Rest des Landes (siehe Studie).
Bündel an Faktoren
"Die 2003 eingeführte Schulreform London Challenge war sicher ein zentraler Faktor, aber sie allein ist nicht für die Verbesserung der Situation verantwortlich", zeigte sich Menzies, der ab 2006 selbst an einer sogenannten Brennpunktschule unterrichtete, überzeugt. Vielmehr sei es eine Kombination vieler Faktoren gewesen, dass bereits fünf Jahre nach Start des Programms extrem positive Veränderungen spürbar wurden. Denn schon Ende der 90er-Jahre wurden unter Tony Blair's neugewählter Labour-Regierung Programme mit Elementen ähnlich der London Challenge eingeführt, die in den Grundschulen ansetzten und deren Qualität sukzessive verbesserten. Denkbar sei zudem, dass die Schulen nicht ganz so schlecht waren, wie man glaubte, relativierte Menzies. Während Bildungsexperten noch vor 15 Jahren absolute Zahlen verglichen, kann man heute auf sehr viel differenzierteres Datenmaterial zurückgreifen. "Man hat Äpfel mit Birnen verglichen", gab er zu bedenken. So sei beispielsweise der soziale Hintergrund von Schülern ausgeklammert worden. Heute wisse man, dass man Schüler mit ähnlichen Rahmenbedingungen vergleichen müsse, um aussagekräftige Schlüsse ziehen zu können. "Vergleicht man Schüler aus London mit ähnlichen Schülern außerhalb, so sieht man nur sehr geringe Unterschiede", betonte er.
Bandenkriege und Mord
Ende der 90er, Anfang der 2000er-Jahre setzten Mittelschicht-Eltern Himmel und Erde in Bewegung, um ihre Kinder nicht in London zur Schule schicken zu müssen. Die Schulen galten als gefährlich, wenig leistungsorientiert, die Lehrer als schlecht. Auch die Schule in Nordwestlondon, an der Menzies 2006 zu unterrichten begann, war typisch für die Probleme jener Zeit. Zu trauriger Berühmtheit war sie gelangt, weil ihr Direktor von einem Bandenmitglied erstochen worden war, nachdem er einem jüngeren Schüler zu Hilfe kommen wollte. "Auseinandersetzungen zwischen Gangs waren an der Tagesordnung, es herrschte Chaos, die Klassen waren halbleer, das Gebäude baufällig. Kein Lehrer blieb länger als ein halbes Trimester", erzählte Menzies. Er kam im Zuge des Teach First-Programms (dabei unterrichten Uni-Absolventen für zwei Jahre an sogenannten Brennpunktschulen, in Österreich heißt das Programm Teach for Austria), das gemeinsam mit zahlreichen anderen Initiativen zu jener Zeit startete. (Siehe auch Teach First: Einsatz an einer deutschen Brennpunktschule und Problemkind Schule)
Zeitgleich mit ihm wurde ein neuer Direktor installiert, der im Zuge der Reform das Haus komplett umkrempelte. "Als erstes führte man die Gesetze des Rechtsstaats ein – nach dem Motto: keine Messer im Klassenzimmer. Die Lehrer sorgten dafür, dass die Bandenkriege aufhörten." Man schuf ein System, um eine gewisse Disziplin herzustellen. Damit konnten Lehrer zumindest beginnen, mit ihrer Klasse zu reden, "denn das kannst du nicht, wenn du deine Schüler nicht einmal dazu bringst, sich hinzusetzen", schilderte Menzies die damalige Situation. Diese ganz grundsätzliche erste Verbesserung, dass man als Lehrer gefahrlos den Gang entlang gehen konnte, war entscheidend. Neue Lehrer kamen, und sie blieben länger als ein Trimester. Ab da konnte begonnen werden, eine Beziehung mit den Schülern aufzubauen und eigentlichen Unterricht zu machen.
Längst vergangene Zeiten
All das hat sich heute längst geändert. "Die Atmosphäre in den Schulen ist völlig anders, es herrscht Ordnung, einige der besten Lehrer unterrichten an staatlichen Schulen, denn es sind attraktive Arbeitsplätze geworden", erzählte Menzies. Der Anspruch an die Schüler ist hoch: Von jedem einzelnen wird erwartet, sich richtig anzustrengen. Nicht nur die Schwächsten sollen gefördert werden, auch die Besten.
Zeitgleich mit der Einführung der London Challenge wurden die zuvor mehr als unterdurchschnittlichen Lehrergehälter in London deutlich angehoben, eine bessere Bezahlung für den Einsatz an einer Problemschule gab es Menzies zufolge jedoch nicht. "Für mich als junger Absolvent war das Gehalt sicher attraktiv, aber es war keine Kompensation für die Arbeit an einer so schwierigen Schule", hielt er fest. Er wuchs dennoch an der Herausforderung und profitierte enorm, konnte auch früh Führungserfahrung sammeln.
Partnerschaften als Erfolgsmodell
Im Zuge der Reform wurde die Schulverwaltung geändert, den Häusern wurden externe Berater zur Seite gestellt. Schulen wurden in Netzwerke zusammengefasst und innerhalb dieses Netzwerks dann nach Ähnlichkeiten zwischen einzelnen Schulen gesucht. Man schloss Partnerschaften mit Schulen, die in einem Bereich ein klein wenig besser bzw. schlechter abschnitten. "Es gab intensiven Austausch zwischen den Schulen, gegenseitige Besuche, um zu sehen, wie die anderen arbeiteten. Diese Netzwerke und Schulpartnerschaften sind sicher ein wesentlicher Teil, der den Erfolg der Reform ausmachte", betonte Menzies. Zudem gab es vielfältige Fortbildungsprogramme und Trainings für Lehrer.
Die Reform wurde nach dem Prinzip "Zuckerbrot und Peitsche" vorangetrieben: Es gab großzügige Unterstützung in Form von Geld und Ressourcen. Stellten sich jedoch keine Verbesserungen an einer Schule ein, wurden gnadenlos Konsequenzen gezogen. So konnte der gesamte Lehrkörper ausgetauscht oder die Schule sogar geschlossen werden. "Das Gleichgewicht zwischen Unterstützung und Anforderung war sehr sorgfältig ausbalanciert", hob Menzies einen zentralen Punkt hervor. Das sei auch der Grund, warum ähnliche Programme in England später weniger Erfolg hatten. Sie basierten teils auf Freiwilligkeit (etwa in Manchester) und waren von Schulen selbst gestartet worden. Das hieß, es gab letztlich keine Konsequenzen. Oder es steckte zwar eine politische Initiative dahinter, wie in der Region Black Country, aber mit weit weniger Ressourcen. "Wenn die geballte Kraft der Regierung hinter so einem Programm steht, ist das natürlich etwas anderes", unterstrich der Bildungsexperte.
Sozial schwacher Hintergrund kein Handicap
Es gibt heute in London nicht unbedingt weniger benachteiligte Kinder als vor zwanzig Jahren. "Was sich geändert hat, ist die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung", erklärte Menzies. Sie gilt in jüngerer Zeit als einer der Gründe für den Bildungsaufschwung der Hauptstadt. "Die massive Rolle der Immigration lässt sich nicht leugnen, East London ist heute viel weniger weiß", meint Menzies. Viele der Schüler kommen aus leistungsstarken Einwandererfamilien – "aus Bangladesh, Pakistan, aber im Grunde aus der ganzen Welt", so der Forscher. "Sie sprechen zu Beginn kein Englisch, aber machen irrsinnig rasch Fortschritte und haben eine sehr positive Einstellung der Schule gegenüber. Vielleicht bringen sie in der ersten Generation noch nicht diese hohe Leistung, aber dann in der zweiten", erklärt er die Besonderheit der Immigranten Londons.
Transparenz und Trickserei
Die Ergebnisse der nationalen Abschlusstests (GCSE, "mittlere Reife"), die mit 16 Jahren absolviert werden müssen, sind komplett öffentlich. Jeder weiß, wie welche Schule abschneidet. Das habe Vor- und Nachteile, meinte der Direktor des Think Tank. "Einerseits spornt diese Transparenz Schulen an, sich zu verbessern. Andererseits versuchen manche Schulen, besser auszusehen, als es der Realität entspricht, indem etwa Schüler ausgeschlossen werden, die die Testergebnisse negativ beeinflussen könnten", gibt er zu bedenken.
Die Schüler Londons punkten bei den GCSE mit überdurchschnittlich guten Ergebnissen. Noch gibt es aber keine Studien darüber, ob diese besseren Testergebnisse letzten Endes auch später zu größerem Erfolg, zu einem besseren Leben führen. Dazu sei unlängst erst ein Projekt gestartet. Klar sei, dass sich die Rahmenbedingungen in London nicht mit jenen im Rest des Landes vergleichen ließen. "In der Hauptstadt konzentriert sich die Wirtschaft, es gibt unzählige Ausbildungsmöglichkeiten, Universitäten und Jobs finden sich an jeder Ecke", beschrieb er die gute Ausgangslage, welche Schulabgänger vorfinden.
Zur Person: Loic Menzies ist Direktor des Think Tank LKMco. Die Organisation besteht vor allem aus ehemaligen Lehrern und Jugend-Sozialarbeitern und betrachtet in ihren Forschungsprojekten junge Menschen in ihrer Gesamtheit. Ziel ist, mit evidenzbasierter Forschung Politik zu beeinflussen und Organisationen zu unterstützen, die mit Schulen bzw. jungen Menschen arbeiten. Forschungsschwerpunkte sind neben der London Challenge auch spezielle Bildungsbedürfnisse bestimmter Gruppen oder Jugend-Obdachlosigkeit.
Service: Studie "Understanding the improved performance of disadvantaged pupils in London" des Centre for Social Exklusion (CASE) an der London School of Economics und dem Institute for Fiscal Studies (IFS)
Von Sylvia Maier-Kubala / APA-Science
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