"Kinder und Schulen sind kein Wurlitzer - Schulautonomie will errungen werden"
Seit 20 Jahren gibt es mit der Integrativen Lernwerkstatt Brigittenau (ILB) mitten in Wien eine öffentliche Schule, die mehrere heilige Kühe des österreichischen Schulsystems verscheucht – und zugleich den Kindern und Jugendlichen der Schule das Lernen als wertvolle, aufbauende und stolz machende Erfahrung erlebbar zu machen versucht.
Aus diesem und unzähligen anderen pädagogischen Pionierprojekten quer durch Österreich könnten wertvolle Erkenntnisse über eine "grundlegende Neuaufstellung" der Schule gewonnen werden. Könnten! Denn die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte (sic!) lehren, dass in Österreich ein unglückseliges Gemisch aus nachhaltigem Parteieneinfluss, engstirnigen ideologischen Grabenkämpfen, autoritär-zentralistischer Führung, massivem lehrergewerkschaftlichem Lobbyismus und einer fast schon genetisch verankert erscheinenden Gläubigkeit vieler Menschen an unantastbare "heilige Kühe" herrscht.
Dies konnte zwar massenhaft sprießende pädagogische Leuchtfeuer nicht verhindern. Aber diese waren auf sich gestellt auch nicht in der Lage, einen breiten, gemeinsamen schulischen Aufbruch ins 21. Jahrhundert zu befeuern. Trotz Bildungsvolksbegehren gingen wiederkehrende Anläufe unterschiedlicher Regierungskoalitionen für eine Schulreform nach der anderen über "Neubenamsungen" (die frühere Hauptschule erlebt nun gerade die mindestens fünfte Umtitulierung) oder verkappte Rangordnungsregulative zur Steuerung der SchülerInnenströme in einem gesplitteten (irreführenderweise "differenziert" betitelten!) Pflichtschulsystem nicht hinaus.
Mit den kürzlich wieder gebündelt vorgebrachten Wortspenden und Gesetzeskommentaren zur "Notenwahrheit" oder "klaren Notensystematik" blamieren wir uns gegenüber den meisten europäischen Ländern, die während der ersten Schuljahre, bisweilen aber auch für die gesamte Pflichtschulzeit mehr und mehr auf die klassische halbjährliche Skalenbewertung verzichten und sich auf die Verbesserung des alltäglichen Lerngeschehens und individuell passende Rückmeldungen und Lernsettings konzentrieren.
Umso mehr fällt es mir als Gründer und Leiter eines reformpädagogisch inspirierten öffentlichen Schulprojekts (seit 10 Jahren nicht nur Volks-, sondern auch Mittelschule unter einem Dach) schwer, unsere vor Ort seit 1998 "gelebte Schulautonomie" in das österreichische Gesamtsystem einzuordnen: Sind wir eine selbst ernannte Versuchsabteilung? Gallisches Dorf? Schulbehördliches Feigenblatt? Nachdem der Rechnungshof die schier unüberschaubare Zahl von Schulversuchen (die in Wirklichkeit nur Ausdruck der brutalen Überregulierung und der politischen Kompromisslähmung waren) zurecht kritisiert hatte, wurden noch unter der vorigen SPÖ-ÖVP-Bundesregierung im Volksschulbereich die tausenden Schulversuche im Bereich der ersten Volksschuljahre zugunsten merklich größerer autonomer Spielräume der LehrerInnen und Schulen (hinsichtlich des Einsatzes alternativer Beurteilungssysteme oder der Gestaltung altersgemischter Klassen) aufgelöst.
Dieser zaghafte Schritt zu mehr Schulautonomie währte genau zwei Jahre. Die jüngste Schulgesetznovelle räumt das meiste davon zugunsten verpflichtender zentralistischer Vorgaben wieder weg. Umso verwunderlicher, wenngleich für unsere Schule durchaus erfreulich, ist die Verlängerung des Schulversuchs "ILB" durch das Bildungs- und Wissenschaftsministerium (BMBWF) bis zum Jahr 2024/25.
Folgende wesentliche Merkmale charakterisieren dieses öffentliche Schulprojekt:
• durchgängig altersgemischte Lerngruppen ("Mehrstufenklassen") für 6- bis 9-Jährige, 10- bis 13-Jährige und 13- bis 15-Jährige
• individuelle Leistungsrückmeldungen (Ziffernnoten erst ab der 8. Schulstufe = 4. Klasse AHS / MS)
• längere Lernzeitblöcke und ganzheitlicher Lernansatz (statt eng fachbezogener Unterrichtsstunden im 50-Minuten-Takt)
• gemeinsam lernen und leben von früh bis nachmittags (Ganztagsschule)
• nicht nur Kopflernen, sondern multi-sensorisch und sozial-explorativ (durch gewählte SchülervertreterInnen und SchülerInnenparlament, handwerkliche Lernerfahrungen in Werk-Clubs oder in der AU, ausgeprägte Koch- und Esskultur, relative Bewegungs- und Rückzugsfreiheit in Lernsequenzen ebenso wie in Erholungsphasen)
• heterogene Lerngruppen (ca. 90 der 380 SchülerInnen haben sonderpädagogischen Förderbedarf) werden nicht als Bürde, sondern als Chance und Herausforderung gesehen ("gemeinsam lernen tut allen gut") – temporäre "leistungshomogene" Kleingruppen oder Themeneinführungen sind dazu kein Widerspruch
• mehrköpfige pädagogische Teams für jeweils 35 bis 50 SchülerInnen (statt EinzelkämpferInnentum).
Da der mittlerweile 20 Jahre währende Erfolgslauf des Schulprojekts ILB (bis hin zu einem überdurchschnittlich guten Abschneiden bei der letzten Bildungsstandard-Erhebung) unbestreitbar ist, wird von wohlmeinenden ebenso wie skeptischen politisch Verantwortlichen die "Unfinanzierbarkeit" einer möglichen Ausweitung dieses Schulmodells ins Treffen geführt. In der Tat verfügt die Schule über gute Personalressourcen. Diese wurden und werden aber nicht erschwindelt, sondern über Kontingent-Richtlinien aufgrund der Ganztagsform, der vielen Integrationskinder und der Mehrstufenklassen gebündelt generiert. Eine seriöse Rechnung müsste also Kosten des gesamten Schulsystems inklusive der Ressourcen (und höheren Gehälter!) an AHS-Unterstufen ebenso wie der Sonderschulen einbeziehen.
Ungeachtet dessen hat sogar die GÖD-APS-Pflichtschullehrergewerkschaft die generelle Doppelbesetzung in Volksschulklassen in ihren Forderungskatalog aufgenommen – nur leider weiß das kaum jemand und wird seitens der Gewerkschaft auch kein öffentlicher Druck zur Umsetzung aufgebaut. Schulen und Kinder sind kein Wurlitzer-Automat, in den nur die entsprechenden Münzen, Noten, Etikettierungen, zentralistischen Wunsch-Vorstellungen eingeworfen werden müssten, um einen entsprechenden Output (die gewünschte Musik oder aber lernfreudige, ihrer eigenen Stärken bewusste, sozial empathische und demokratisch reifende junge Menschen) ausgeworfen zu bekommen.
Den Schulen dort oder da ein Autonomie-Würstchen vor die Nase zu halten, um es je nach politischem Bedarf auch gleich wieder wegzuziehen, ist eine demotivierende Kalt-Warm-Strategie, um eine tief verankerte autoritäre Weisungskultur und ein kostspieliges, zersplittertes Schulsystem auch in der zu Ende gehenden zweiten Dekade des neuen Jahrtausends zu perpetuieren. Auf Kosten der Kinder und Jugendlichen, zu Lasten einer Zukunftsorientierung unseres Landes. Die Deutsch-Förderklassen, die an unserem Standort mangels ausreichender Schulneulinge mit außerordentlichem Status nicht eingerichtet werden mussten, werden vielen Schulen mit hohem Anteil elementar förderungsbedürftiger Kinder (anderer Muttersprache) nach rigiden zentral erstellten Rahmenbedingungen aufgezwungen - das politische Diktum scheint wichtiger als eine Stärkung der autonomen Lösungskompetenz am einzelnen Standort.
Weitergehende (echte - was immer das sei) Schulautonomie hieße nämlich Macht- und Einflussverlust für die politischen und schulbehördlichen Instanzen. Autonomie wird nur in dem Maß "gewährt" werden, wie sie umgekehrt seitens der Schulen und PädagogInnen errungen (und erzwungen) wird. Überparteiliche Bildungsinitiativen wie etwa "Schule im Aufbruch", "Neustart Schule", "COOL", "Bildung grenzenlos" oder "Schulautonomie Monitoring Österreich" sind dabei wertvolle Katalysatoren, aber realpolitisch (bisher) viel zu schwach. Wo kann unter diesen Umständen begründete Hoffnung für eine "grundlegende Neuaufstellung" des Schulsystems geschöpft werden?
Eine externe OECD-Analyse der Stärken, Schwächen und Ansatzpunkte für strategische Änderungen im österreichischen Schulsystem wäre vielleicht ein Anfang. Aber selbst dafür bedürfte es eines Konsenses aller Parteien zur Initiation eines solchen Prozesses. Vielleicht muss es noch ein Stück weit bergab gehen um zu erkennen: Noch mehr Notenskalen, noch mehr Aussieben und Hin- und Herschieben von SchülerInnen, noch mehr undifferenziertes Einsparen, noch mehr externe zentrale Testungen, noch mehr verzweifelte Suchaktionen von Eltern nach der "richtigen" Schule kosten zwar viel Zeit, Geld und Nerven, sind aber kein erfolgversprechender Weg für ein (öffentliches) Schul- und Bildungsangebot, das der dynamischen Gesellschaft von heute und morgen bestmöglich gerecht wird.
Das Potenzial bei PädagogInnen und SchulleiterInnen ist vorhanden, der Leidensdruck bei Eltern ist vielfältig und enorm, die Reform-Resilienz bei den Stakeholdern massiv. Wie generieren wir aus dieser Gemengelage einen zukunftsorientierten Goldwurf, um schulentwicklerisch in Europa nicht – mehr denn je – unter "ferner liefen" hinterherzuhinken?!
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