Teach First: Einsatz an einer deutschen Brennpunktschule
Die Bildungsinitiative "Teach First Deutschland" hat zum Ziel, die Chancen für Schüler an sozialen Brennpunkten zu verbessern. Sie ist eine von insgesamt 48 Partnerorganisationen im Netzwerk "Teach For All", zu dem auch die österreichische Bildungsinitiative "Teach for Austria" gehört.
Als sogenannte "Fellows" arbeiten Uniabsolventen verschiedener Studienrichtungen bei Teach First Deutschland für zwei Jahre in Schulen und unterstützen dort Kinder und Jugendliche. Zu ihren Erfahrungen als Teach First-Fellow hat APA-Science Mira Grub aus Duisburg befragt.
APA-Science: Wie lange gibt es "Teach First Deutschland" schon, und wo hakt es im deutschen Bildungssystem ein?
Mira Grub: "Teach First Deutschland" gibt es seit 2009, soweit ich weiß, und es soll kein Ersatz für Lehrer sein - in Deutschland herrscht ja sehr großer Lehrermangel - sondern eine neue, bisher nicht da gewesene Rolle an der Schule einnehmen. Man nennt uns "Fellows", das bedeutet auch soviel wie "Kumpel" und das heißt, man hat eine persönlichere Beziehung zu den Schülern als ein Lehrer. Es ist nicht alles auf Leistung ausgerichtet und man benotet nicht. Fellows sind also kein Lehrerersatz, was viele immer denken, sondern einfach eine Ergänzung. Wir sind auch viel freier in dem, was wir tun können an der Schule.
APA-Science: An welchen Schulen und für welches Schüleralter werden Fellows eingesetzt?
Grub: Eigentlich für alle Schulen. In Deutschland gibt es die Grundschule - das Pendant zur Volksschule in Österreich -, da wurden zwar in den letzten Jahren weniger Fellows hingeschickt, jetzt soll ihr Anteil aber wieder steigen. Hauptsächlich ist der Einsatz an den weiterführenden Schulen und da an allen Schulformen, also Hauptschule, Gesamtschule, und auch für alle Altersgruppen. Meistens ist er spezialisiert, ich bin zum Beispiel bei den Fünft- bis Siebtklässlern, das sind die Zehn- bis 14-Jährigen. Aber es gibt auch Fellows, die bei Jugendlichen von 15 bis 18 tätig sind, das kann ganz unterschiedlich sein.
APA-Science: Was sind die Ziele für den Einsatz von Fellows?
Grub: Die Vision von Teach First besagt, dass jeder Schüler in Deutschland die Schule mit einem Abschluss verlassen soll und mit dem festen Glauben an den eigenen Erfolg. Ganz wichtig ist dieser Glaube an sich selbst: gerade Schüler aus Brennpunktgegenden, die gehen ja schon gar nicht davon aus, dass sie einmal ihr Abitur schaffen, dass sie studieren - das muss ja noch nicht einmal sein - , aber dass sie einen guten Ausbildungsberuf ergreifen können. Das Ziel ist, ihnen zu zeigen: "Hey, du kannst auch was! Und selbst wenn du hier vielleicht aus einem schwierigen Stadtteil kommst und deine Eltern arbeitslos sind, kannst du es schaffen."
Sicher ist das schwieriger als für Kinder, die Helikopter-Akademikereltern haben, aber dafür braucht es erst einmal dieses positive Mindset, dass man an seine eigene Weiterentwicklung glaubt und an seine eigenen Ziele. Das ist sowohl das übergeordnete Ziel von Teach First als auch als Fellow selber. Dann würde ich sagen, von den Fellows hat jeder auch ein bisschen ein anderes Ziel, je nachdem, warum er den Einsatz macht. Gerade bei den Kleineren, wo ich jetzt bin, da geht es noch nicht unbedingt um den Abschluss, da geht es eher darum, eine gute Basis zu schaffen für die Schullaufbahn an sich. Mir selbst ist die persönliche Beziehung zu den Schülern ganz wichtig. Gerade bei uns an der Schule brauchen sie eine Bezugsperson. Viele haben auch schwierige Eltern und freuen sich, wenn sie mal jemanden haben, der sie motiviert.
APA-Science: Wie lange sind Sie schon dabei und wie sind Sie dazu gekommen?
Grub: Ich bin jetzt im zweiten Jahr, der Teach First-Einsatz geht immer nur über zwei Schuljahre. Ich bin jetzt seit Sommer 2017 dabei, und bin dann im nächsten Halbjahr schon fertig mit dem Einsatz, das geht dann auch sehr schnell. Dazu gekommen bin ich über meine Schwester, die unterrichtet in Baden-Württemberg an einer Schule, an der es auch einen Teach First-Fellow gab, und da hat sie gemeint, ob das nicht auch was für mich wäre, und so habe ich mich beworben.
APA-Science: Haben Sie da eine besondere Ausbildung von Teach First erhalten, bevor Sie in der Schule begonnen haben?
Grub: Ja, das muss jeder Fellow machen. Man bekommt eine mehrmonatige Ausbildung - meine dauerte fast drei Monate, mittlerweile ist sie aufgrund der in den letzten Jahren gestiegenen Zahl an Fellows gekürzt worden. Ich hatte erst sechs Wochen einen Online-Campus, wo ich jede Woche Aufgaben bearbeiten und hochladen musste. Dann fast zwei Monate Ausbildung, wo wir in Jugendherbergen oder Seminarhäusern gelebt haben und dann wirklich, fast wie an der Uni, nur viel intensiver, von morgens bis abends Seminare gehabt haben. Dann gab es noch eine dreiwöchige Sommerschule, wo wir in den Sommerferien mit Schülern gelernt haben, die zusätzliche Unterstützung gebraucht haben, wo wir schon so ein bisschen unsere Skills ausprobieren konnten. Leider gibt es diese Sommerschule nicht mehr, weil das ein großer organisatorischer Aufwand war.
APA-Science: Wie sieht die Tätigkeit als Fellow genau aus? Arbeiten Sie da mit den Schülern alleine oder mit einem anderen Fellow oder mit Lehrern zusammen?
Grub: Das kann von Einsatz zu Einsatz sehr unterschiedlich sein. Jeder Einsatz an einer Schule ist sehr individuell, je nachdem, was die eigenen Qualifikationen und Interessen sind, aber generell kann das alles sein. Ich habe eigene Lerngruppen, jetzt im zweiten Jahr auch mehr als im ersten. Ich habe drei eigene Gruppen und unterstütze die restliche Zeit andere Lehrer in ihren Klassen. Mit anderen Fellows ist man in der Schule selbst eher nicht zusammen. Manchmal gibt es Schulen, die zwei Fellows haben, aber das kommt sehr selten vor. Im Alltag, wenn man Fellows in seiner Nähe hat - hier in Duisburg sind wir ja sogar ziemlich viele, da sind wir zehn Fellows -, dann ist man schon in engem Austausch und trifft sich regelmäßig.
APA-Science: Was machen Sie genau mit den Schülern?
Grub: Früher war das so, dass man alles Mögliche machen konnte, was man wollte, was die Schule wollte. Mittlerweile gibt es drei Schwerpunkte. Bei dem ersten, "echte Teilhabe", sollen neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler gestärkt werden, vor allem mit Deutschunterricht, damit sie es leichter haben, in der Schule Anschluss zu finden. Das ist auch mein Schwerpunkt, ich gebe hauptsächlich Deutschunterricht, Deutsch als Zweitsprache und auch Deutsch-Förderunterricht. Dann gibt es als Schwerpunkt "Sicherer Übergang", da ist man mehr mit den älteren Schülern, die kurz vor dem Abschluss stehen, beschäftigt und soll ihnen helfen herauszufinden, was sie danach machen wollen. Damit habe ich nicht viel zu tun. Das dritte wäre das Grundschulprogramm, bei dem Kindern eine gute Basis für ihre Schullaufbahn vermittelt werden soll. Mittlerweile ist jeder Einsatz so eingeteilt, man erhält einen Schwerpunkt je nachdem, was zur Schule passt.
APA-Science: Was gibt es für Probleme und Herausforderungen, allgemein und in der täglichen Arbeit?
Grub: Ich war die erste von Teach First an meiner Schule, vor allem die Lehrer kannten das nicht und wussten nicht so richtig, was ich da eigentlich machen soll. Besonders im ersten Jahr konnten viele mich gar nicht einordnen. Ich habe zwar mehrmals auf der Lehrerkonferenz erklärt, wer ich bin und was ich so mache, habe aber gemerkt, sie verstehen das nicht so richtig. Dementsprechend kann das dann manchmal auch schwierig sein, gewisse Projektideen durchzusetzen. Ich wollte zum Beispiel einmal mit einer Klasse, mit der ich eigentlich sonst nicht so viel zu tun habe, ein Projekt durchführen. Da hat man dann gemerkt, dass die Klassenlehrer nicht so richtig mitgezogen haben. Sie dachten sich wohl, "Was macht die eigentlich hier?" und "Die ist dann eh wieder weg". Sobald die Lehrer aber dann ein Gefühl dafür bekommen, was man macht und dass es auch ganz gut läuft, akzeptieren sie einen.
Die Probleme sind individuell sehr verschieden. Wenn du nicht Pädagogik studiert hast, dann ist das mit den Schülern natürlich auch manchmal eine Herausforderung. Ich habe auch Förderkinder in der Gruppe, ich habe leicht geistig behinderte Kinder - da ist es manchmal schon sehr schwierig zu wissen, wie ich jetzt richtig mit denen umgehe, wobei da selbst die Lehrer manchmal überfordert sind.
APA-Science: Wie sieht es mit dem sozialen Hintergrund der Schüler aus?
Grub: Bei mir an der Schule ist es wirklich oft sehr schwierig, ich bin hier in einem deutschlandweit bekannten Stadtteil von Duisburg, wo es sehr viele sehr arme Leute gibt und gerade auch sehr viele Zuwanderer aus Südosteuropa, also auch Sinti und Roma haben wir hier ganz viel. Viele der Kinder sind überhaupt noch nie in eine Schule gegangen, bevor sie zu uns gekommen sind. Die steigen dann aber in der 5. Klasse ein und können noch nicht einmal lesen und schreiben. Das heißt, man muss dann eigentlich bei uns an der Schule das machen, was normalerweise die Grundschule macht, was aber im Lehrplan gar nicht vorgesehen ist. Das ist eine echte Zwickmühle und oft ein richtiges Problem. Das ist bei mir im Stadtteil extrem, ich bin schon an einem etwas besonderen Standort.
Es gibt auch Fellows, die sind an Gymnasien eingesetzt. Dort wird es sicher auch Probleme geben - an keiner Schule ist alles immer perfekt und nicht alle sind Musterschüler, da wird wohl überall Unterstützung gebraucht. Aber jetzt speziell bei mir ist es schon auch noch einmal besonders, wir haben viele arme Kinder. Bei uns bekommen sie morgens ein Gratis-Frühstück, weil so viele Kinder zuhause nichts zu essen bekommen. Also das ist schon nicht ohne. Ich war anfangs echt schockiert, dass es in Deutschland so etwas überhaupt gibt. Viele können das gar nicht glauben, wenn man das erzählt. Man bekommt hier zum Teil schon schlimme Dinge mit.
APA-Science: Wie werden Sie von Teach First bei Ihrer Tätigkeit unterstützt?
Grub: Generell eigentlich sehr stark. Es gibt regelmäßige obligatorische Treffen. Dann hat man einen "Programmmanager", der ist immer für zehn bis fünfzehn Fellows zuständig, hospitiert regelmäßig an der Schule, schaut sich den Unterricht an und gibt Feedback. Zusätzlich gibt es mit ihm Treffen im Teach First-Büro. Außerdem finden regelmäßig verpflichtende mehrtägige Fortbildungen während des Schuljahres statt, das ist schon relativ viel. Man wird auf jeden Fall sehr eng betreut.
APA-Science: Was gefällt Ihnen besonders an der Tätigkeit?
Grub: Vor allen Dingen im Vergleich zum regulären Lehrer finde ich die Freiheit an der Schule sehr gut. Da ich die erste von Teach First überhaupt an meiner Schule bin, herrscht kein großer Erwartungsdruck an mich und ich kann sehr frei entscheiden, was ich an der Schule machen will. Ich kann alles Mögliche umsetzen, ich habe ja kein festes Fach. Dadurch habe ich viel weniger Stress als ein normaler Lehrer und die Schüler haben auch ein anderes Verhältnis zu mir. Es gibt zwar gewisse Vorgaben, aber Teach First ist da Vorschlägen gegenüber sehr offen. Mir gefällt auch die enge Zusammenarbeit mit den Schülern, ich bin da wirklich fünf Tage die Woche an der Schule und merke dann, wie mir schon viele sehr ans Herz gewachsen sind. Da bin ich jetzt auch schon fast traurig, falls ich dann von der Schule weggehen sollte.
APA-Science: Was für Erfolge konnten Sie erreichen oder beobachten?
Grub: Auf jeden Fall gerade in den Fördergruppen, die oft komplett unorganisiert sind - die Schüler sind sehr chaotisch, laut, haben noch ganz schlechte Deutschkenntnisse. Wenn man dann merkt, sie entwickeln sich wirklich weiter, sie lernen jetzt doch auch mal besser aufzupassen im Unterricht, sie arbeiten mehr mit und machen Fortschritte - auch wenn das oft nur kleine Sachen sind, das ist sehr schön. Ich leite eine Theater-AG an der Schule, da war es am Anfang auch sehr ungeordnet. Am Ende hatten wir dann eine ganz große Aufführung, wo viele Klassen zugeschaut haben und die Schüler total aufgeregt waren. Schlussendlich hat dann alles ziemlich gut geklappt, bis auf ein, zwei kleine Fehlerchen, und die Schüler waren nachher natürlich total stolz und hatten ein Erfolgserlebnis.
APA-Science: Auf welche Weise soll sich das Programm auf eine zukünftige Verbesserung des Schulsystems auswirken? Und wie sieht es mit einer politischen Umsetzung aus?
Grub: Das ist schwierig: das Ziel von Teach First ist eigentlich, dass es diese Initiative irgendwann nicht mehr braucht. Der Grund, warum es Teach First gibt, ist ja, dass in Deutschland keine Bildungsgerechtigkeit herrscht. Es ist immer noch statistisch belegbar, dass Schüler aus Arbeiterfamilien oder aus Familien von arbeitslosen Eltern wesentlich schlechtere Chancen im Leben haben als Kinder aus bessergestellten Familien, aus Akademikerfamilien. Das Ziel von Teach First ist es, das zu verändern. Teach First wird auch von der Politik unterstützt. Im aktuellen Koalitionsvertrag von Nordrhein-Westfalen steht explizit drinnen, dass Teach First als Bildungsprogramm gefördert wird. Das heißt, die Bildungspolitik steht da schon dahinter, aber eigentlich ist es ein Symptom für die schlechte Bildungspolitik der letzten Jahrzehnte. Eigentlich traurig, dass es überhaupt notwendig ist.
APA-Science: Wie sieht es mit der Zukunft des Programms aus?
Grub: Teach First vergrößert sich gerade, es gibt viel mehr Fellows als in den letzten Jahren. Deutschlandweit sind gerade 180 Fellows eingesetzt. Auf die Größe von Deutschland gerechnet ist das aber nicht viel. Jetzt im Moment ist das Ziel, noch größer zu werden, damit möglichst viele Schüler erreicht werden können. Bisher ist kein Auslaufdatum in Sicht.
APA-Science: Was könnte am Programm noch verbessert werden?
Grub: Vieles ist auf jeden Fall gut, auch die Ausbildung war sehr solide. Was ich befürchte, ist, dass durch die größere Quantität die Qualität ein bisschen abnimmt, weil die Ausbildung verkürzt wurde, da sie das für so viele Fellows nicht mehr leisten können. Auch die Unterstützung der einzelnen Fellows in ihrer Arbeit wird damit schwieriger.
APA-Science: Woran liegt das, an zu wenig Geld?
Grub: Teach First hat zwar viele Förderer, viele Stiftungen, auch die Politik. Aber trotzdem ist immer zu wenig Geld da und auch logistisch gesehen wird die Umsetzung schwieriger. Mit weniger Fellows konnten sie uns für sechs Wochen in eine große Jugendherberge in Deutschland schicken und dann war die Ausbildung fertig. Die vielen Fellows passen dann alle gar nicht mehr an einen Standort. Logistik und Organisation sind im Moment noch schwierig, kann aber auch sein, dass das Anfangsprobleme sind.
APA-Science: Wie sieht es mit Feedback zum Programm aus?
Grub: Wenn Teach First-Vorgesetzte in die Klasse hospitieren kommen, dann bekommt man sehr viel Feedback. Auch von den Schülern bekommt man Feedback. Sie müssen zweimal im Jahr an einer Umfrage teilnehmen, wo sie meinen Unterricht bewerten sollen. Manche Fellows machen auch beim Elternsprechtag mit und haben eigene Sprechstunden für die Eltern. Das habe ich zum Beispiel nicht. Bei uns an der Schule ist es auch sehr schwierig, die Eltern zu erreichen, die kommen sowieso fast nie an die Schule, viele können auch gar kein Deutsch.
Das Interview führte Christina Schwerer / APA-Science