Visionen für die Bildung
Im Bildungsbereich ist Österreich Mittelmaß. Schon seit Jahren landen heimische Schülerinnen und Schüler bei internationalen Studien stets im breiten Mittelfeld, obwohl vergleichsweise viel Geld pro Schüler und in kleine Klassen investiert wird. Dabei mangelt es nicht an Ideen, wie die Alpenrepublik zu den führenden Bildungsnationen aufschließen könnte. APA-Science hat für das vorliegende Dossier österreichische und internationale Expertinnen und Experten gefragt, wo es im Bildungssystem hakt und wie man es verbessern könnte.
Mit Studienergebnissen stets mitgeliefert wird ein weiterer Befund: Kinder und Jugendliche mit anderer Muttersprache haben es an Österreichs Schulen schwerer. Schüler, deren Eltern geringe Bildung oder schlecht bezahlte Jobs haben, ebenfalls. Beide Gruppen erreichen bei internationalen Studien weniger Punkte und sind öfter unter jenen Risikoschülern zu finden, die selbst an einfachsten Aufgaben scheitern. Ohne Akademikereltern schafft man es hierzulande auch deutlich seltener an eine Hochschule.
Geringe Erwartung bringt geringere Leistung
Der Grund, den Bildungsforscher im Gespräch mit APA-Science dafür ausmachen: Vielfalt an Schulen wird hierzulande oft skeptisch gesehen, ein hoher Anteil von Kindern mit anderer Muttersprache oder aus bildungsfernem Elternhaus als Manko verstanden. Die Folge: Lehrer schrauben bei Schülern aus einem ungünstigen sozialen Umfeld ihre Erwartungshaltung herunter - eine "selbsterfüllende Prophezeiung", wie OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher konstatiert. "Wenn ich nicht daran glaube, dass ich mich durch Einsatz weiterentwickeln kann und Leistungsbereitschaft zum Erfolg führt, dann werde ich mich auch nicht anstrengen."
Diese Haltung hat laut Schleicher Auswirkungen auf das gesamte Schulsystem: In Ländern, die bei internationalen Bildungsvergleichen gut abschneiden, wissen die Schüler, dass viel von ihnen erwartet wird. Sie glauben aber auch daran, dass sie mit Einsatz und Unterstützung ihrer Lehrer Erfolg haben können. In diesen Ländern können Lehrer vor Ort außerdem die Lernumgebung so flexibel gestalten, dass die Schüler individuell unterstützt werden und lernen, an und mit ihren Fehlern zu wachsen.
Verantwortung wird auf Schüler abgewälzt
In Österreich werde Verantwortung hingegen auf die Schüler abgewälzt, statt den Unterricht an die unterschiedlichen Voraussetzungen, Bedürfnisse und Lerntempi anzupassen, kritisiert Schleicher. "Man sagt: Wir packen dich in eine Schule, die gut für dich ist, und wenn das zu schwierig ist, machen wir alles ein bisschen leichter oder setzen die Anforderungen herab." Unterstützt werde das durch die Strukturen: Schüler, die nicht die geforderte Leistung erbringen, müssen die Klasse wiederholen oder landen in einer Schulform mit geringeren Anforderungen. Gerade erst wurde an den Neuen Mittelschulen die Möglichkeit von fixen Leistungsgruppen geschaffen und das Sitzenbleiben ab der zweiten Klasse Volksschule wieder erlaubt. "Damit wird ein Bewusstsein geschaffen: Ich werde hier sortiert und durchgeschleust und letztendlich kann ich da nichts machen."
Solche Einstellungen sind allerdings durch politische Reformen beeinflussbar, belegen für Schleicher die Erfahrungen in anderen Ländern wie Portugal, den Niederlanden und dem europäischen PISA-Vorzugsschüler Finnland. Das Paradigma der Schulreform in den 1970ern in dem skandinavischen Land: Die Schulen dürfen keine Möglichkeit mehr haben, Verantwortung abzuwälzen - auf die Schüler, die Eltern, auf andere Schulen oder andere Lehrkräfte. Dafür wurde laut Schleicher viel mehr Raum für wirklich innovative Arbeit vor Ort geschaffen.
Die Haltung ist entscheidend
Auch für Claudia Schreiner, viele Jahre Direktorin des österreichischen Bundesinstituts für Bildungsforschung (BIFIE), ist die Haltung den Schülern gegenüber entscheidend. "Da geht es um die Übernahme von Verantwortung, ein Sich-verantwortlich-Fühlen für Schülerinnen und Schüler, ihren Kompetenzerwerb und ihre schulische Laufbahn durch die Schulen und die Akteure am Standort, aber auch Institutionen übergreifend etwa am Übergang Kindergarten-Schule, um eine Akzeptanz der Kinder, wie sie sind."
Davon kann in Österreich aus Schleichers Sicht allerdings nicht die Rede sein. "Das Bildungssystem in Österreich ist um die Interessen der Erwachsenen organisiert und nicht um die Interessen der Kinder, die dort lernen." Die Verantwortlichen müssten sich fragen, welche Kompetenzen junge Menschen für die Zukunft brauchen und wie Schüler aller sozialen Schichten optimal gefördert werden können. "Wenn man stattdessen hinterfragt, welche Interessen man ausgleichen muss, bleibt alles beim Status Quo. Und der Status Quo hat viel zu viele Verteidiger."
Schleicher: Lehrerberuf muss intellektuell attraktiv werden
Probleme ortet der OECD-Bildungsdirektor in Österreich vor allem bei Leadership und Arbeitsorganisation. Die Arbeitsorganisation der Schulen müsse effizienter werden, Schulen und Lehrer bräuchten mehr Gestaltungsfreiraum und Autonomie. Struktur- und Geldfragen seien bei Bildungsreformen nur die berühmte Spitze des Eisberges. "90 Prozent dessen, was Bildungserfolg ausmacht, liegen unter der Wasseroberfläche und werden nicht wahrgenommen. Da geht es um die Einstellung der Lehrkräfte, die Motivation, die Karrieremöglichkeiten, die Befürchtungen - alle diese Faktoren sind schwer greifbar, haben aber Einfluss darauf, ob der Eisberg sich weiterbewegt."
In Österreich hat die Politik den Lehrerberuf zwar finanziell attraktiv gemacht, sagt Schleicher. Sie habe aber vergessen, ihn auch intellektuell attraktiv zu machen und Lehrern wirkliche Unterstützungssysteme zur Seite zu stellen. In Österreich gebe es Zehntausende extrem engagierte Lehrkräfte, die aber wenig Möglichkeit fänden, sich wirklich kreativ und konstruktiv einzusetzen. Anerkennung in Form von flexibleren Karrierestrukturen, Unterstützung und Feedback fehle oft.
"Das Konzept, dass Lehrer unterrichten und dann nach Hause gehen, macht Lehrer letztlich zu Einzelkämpfern. Sie stehen vor sehr schwierigen Herausforderungen, die jeden Tag mehr werden, haben aber sehr wenig Unterstützung." Unterrichten dürfe nur eines von vielen Tätigkeitsfeldern eines Lehrers sein, dann bleibe mehr Zeit für Dinge wie individuelle Förderung, Weiterbildung sowie Austausch und Entwicklung neuer Unterrichtskonzepte mit den Kollegen. "Dann schafft man ein viel spannenderes Arbeitsklima. Es gibt so viele hoch motivierte Menschen, denen muss man einfach mehr Möglichkeiten geben", ist Schleicher überzeugt.
Mehr Kreativität in den Unterricht
Verbesserungsbedarf sieht Schleicher auch bei der Art des Unterrichts: Die PISA-Studie habe gezeigt, dass Österreichs 15-Jährige relativ gut beim Lernen von Unterrichtsstoff sind, aber nicht ausreichend gut bei der kreativen Anwendung des Unterrichtsstoff und der Lösung komplexer Probleme. "Hier müsste man sehr viel an den Unterrichtskonzepten verändern und das kann man heute nicht von oben nach unten verordnen. Neue Pädagogik wird von den Fachkräften vor Ort entwickelt, indem man Innovation und gemeinsames Arbeiten im Team stärkt und mehr Vertrauen in die Profession gelegt wird."
Auch die österreichische Bildungsforscherin Schreiner sieht Änderungsbedarf bei der Art des Unterrichtens. Das Lernen müsse stärker als bisher an den Kompetenzen, individuellen Lernvoraussetzungen, Lernwegen und -geschwindigkeiten ausgerichtet werden. Außerdem müsse die Leistungsbewertung so weiterentwickelt werden, dass sie Lernen fördert. Schreiner plädiert zudem für einen Ausbau verschränkter Ganztagsformen, dann gäbe es ausreichend Zeit für Betreuung und Lernen.
Ebenfalls spielentscheidend ist für Schleicher frühe Sprachförderung. Hier habe Österreich zwar relativ viel getan, sei im Vergleich zu Deutschland aber erst spät aktiv geworden. Das Erlernen der Unterrichtssprache sei bei Schülern mit Migrationshintergrund "das A und O" für erfolgreiche Bildung und gesellschaftliche Teilhabe, so der OECD-Bildungsdirektor. In Ländern, die schon länger Erfahrung mit Einwanderung haben, werde in der Regel sehr früh angesetzt, die Familie einbezogen und "sehr viel zusätzliches Unterstützungspersonal" eingesetzt. So könne man in relativ kurzer Zeit viel erreichen, in Kanada etwa seien Schüler mit anderer Muttersprache innerhalb von zwei Jahren "auf Stand".
Langer Atem für Reformen fehlt
Bei den Bildungsreformen der vergangenen Jahre sei in Österreich durchaus versucht worden, die richtigen Schwerpunkte zu setzen, um die Risikogruppe zu verringern und mehr Chancengerechtigkeit herzustellen. Allein: Im System angekommen sind diese kaum, weil die Ziele der Reformen nicht klar kommuniziert und die Betroffenen nicht mitgenommen worden seien, so Schleicher. "Wenn die Lehrer an den Schulen den Eindruck haben, am einen Tag wird dies entschieden und am nächsten Tag wieder etwas ganz anderes, werden die ihre Verhaltensweise nicht ändern."
Auch Bildungsforscherin Schreiner ortet hier Probleme. "Unser größtes Problem ist vermutlich, dass es sehr viele einzelne Maßnahmen und Reformen gibt. Das bringt viel Veränderung und damit auch Instabilität ins System." Gleichzeitig werde über die Rücknahme und Änderung von Reformen nachgedacht, bevor diese überhaupt vollständig im System angekommen sind. "Vielleicht fehlen manchmal die langfristige Vision und der notwendige lange Atem."
Von Judith Riß / APA