"Erhöhung der Chancengerechtigkeit in den ersten Lebensjahren - ein gesellschaftliches Ziel"
Autorinnen: Catherine Walter-Laager (Uni Graz) und Selina Kias, Annika Bauer, Sophie Westphal, Anne Pfaff (PädQUIS)
Eltern schicken ihre Kinder häufig aus zwei Gründen in die Krippe oder den Kindergarten: Zum einen, damit diese während die Eltern arbeiten, betreut werden und zum andern, damit die Kinder vielfältige, familienergänzende Erfahrungen sammeln können. Der zweite Punkt ist aus gesellschaftlicher Sicht besonders bedeutsam: Der Besuch einer qualitativ hochwertigen elementarpädagogischen Einrichtung unterstützt eine optimale Entwicklung in vielerlei Hinsicht, kann kompensatorische Wirkung entfalten und damit zur Erhöhung der Chancengerechtigkeit beitragen (Walter-Laager & Meier Magistretti, 2016).
Was aber meint Erhöhung der Chancengerechtigkeit und welche Chancen sollen dabei überhaupt erhöht werden? Häufig werden damit gleiche Chancen beim Schuleintritt gemeint (Knoll, 2014), wogegen natürlich niemand was haben kann, außer man versteht darunter ein Lernen im Gleichschritt, dem alle Kinder folgen müssen, um in unserer Gesellschaft zu reüssieren. Deutlich weiter fasst Ostinelli (2004, 2009) das theoretische Konstrukt für den Frühbereich und kommt zum Schluss, dass elementarpädagogische Bildung dann förderlich ist, wenn sie für jedes einzelne Kind mehr Optionen bewirkt und langfristig zu einer positiven Lebensgestaltung führt. Wenn wir diesem Verständnis folgen, steht das Individuum und seine individuellen Wünsche, Bedürfnisse und seine persönliche Entwicklung in unterschiedlichen Bereichen des Lebens im Vordergrund.
Beleuchten wir den Begriff "Chancengerechtigkeit" von der anderen Seite, kann Chancenungerechtigkeit jeden in unterschiedlichsten Situationen treffen, jedoch in besonderem Maße sozial benachteiligte Familien. Ein niedriger sozioökonomischer Status steht in Zusammenhang mit einer Reihe von geringeren sozioemotionalen, gesundheitlichen und kognitiven Entwicklungschancen von Kindern (Walter-Laager & Meier Magistretti, 2016). Infolgedessen sollten Eltern bereits während der Schwangerschaft die Möglichkeit bekommen, bedürfnisorientiert begleitet zu werden (Hungerford & Cox, 2006), um eventuelle Risikofaktoren abzufedern. Darüber hinaus sollten Bildungsangebote für alle Kinder schon in den ersten Lebensjahren hürdenfrei bereit stehen (Meier-Magistretti & Walter-Laager, 2016). So zeigen Untersuchungen immer wieder, dass hoch qualifizierte und sprachlich anregend interagierende Pädagoginnen bzw. Pädagogen einen positiven Effekt auf die Entwicklung der Kinder im sprachlichen und kognitiven Bereich haben (Bäuerlein, Linkert, Stumpf & Schneider, 2013). Laut Fried (2011) ist es vor allem ratsam, dass die Weiterbildungsmaßnahmen dicht an dem Wissenspool der pädagogischen Fachkräfte ansetzen und die Möglichkeit des Austausches und der Reflexion im Rahmen der Qualifizierungsmaßnahme gegeben wird.
Österreich hat in den letzten Jahren - wie viele Nachbarstaaten - verschiedene Angebote für Familien mit Kleinkindern auf- und ausgebaut und damit eine Basis für die Erhöhung der Chancengerechtigkeit in einem breiteren Sinne gelegt. Teilweise richten sich diese an spezifische Gruppen in speziellen Lebenslagen (z.B. das sozialpädiatrische Projekt "Grow Together" im Bereich der Frühen Hilfen in Österreich), teilweise stehen sie für alle Kinder zur Verfügung und unterstützen die gesamte kindliche Entwicklung (z.B. das kostenfreie, letzte Kindergartenjahr). Ein für die Verbesserung der Teilhabe an Bildungsangeboten relevanter Ansatzpunkt wurde im Rahmen der frühkindlichen Bildung in Österreich bundesweit aufgegriffen: Die sprachliche Bildung der Kindergartenkinder. Dies geschah im Rahmen der Vereinbarung Art. 15a B-VG (BGBI. II Nr. 234/2015) zwischen Bund und Ländern.
Die Ausgestaltung erfolgte aber regional unterschiedlich. So konkretisierte die Steiermark die Vereinbarung mit einem umfassenden Unterstützungskonzept zur "Frühen Sprachförderung". Die fördernden Maßnahmen umfassen für die gruppenführenden pädagogischen Fachkräfte eine zweitägige Schulung, welche sie auf den Einsatz von Beobachtungsinstrumenten und die Auswertung der Erhebungsdaten für die gesetzlich verankerte Sprachstandserhebung vorbereitet. Im Anschluss an die Sprachstandserhebung werden durch eine zugewiesene Fachberatung für Frühe Sprachförderung die Ergebnisse ausgewertet. Auf Grundlage der vorliegenden Daten entscheidet die Fachberatung, in welchen Einrichtungen eine zusätzliche Sprachförderkraft zur Unterstützung der pädagogischen Teams tätig sein wird.
Diese Maßnahme des Unterstützungskonzeptes kommt jedoch erst zum Tragen, wenn mindestens drei bis vier Kinder einer Gruppe in einer Kindertageseinrichtung einen Sprachförderbedarf aufweisen. Falls das nicht möglich ist, werden die pädagogischen Fachkräfte der Einrichtung durch regionale Angebote und spezifische Ausbildungscurricula zur Frühen Sprachförderung qualifiziert, so dass die benötigten Sprachfördermaßnahmen intern durchgeführt werden können. Falls jedoch der Sprachförderbedarf nicht durch die pädagogischen Fachkräfte geleistet werden kann, wird für die weiteren Diagnostiken die Expertise von Logopädinnen und Logopäden herangezogen. Eine übergeordnete und vermittelnde Rolle nehmen die Fachberatungen der Frühen Sprachförderung des Landes ein. Sie sind in die Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben für die Schulung und Einarbeitung in die Beobachtungsinstrumente involviert sowie als beratende Instanz für die Kindertageseinrichtungen tätig (Land Steiermark, 2018).
Die Evaluation der Frühen Sprachförderung der Steiermark in diesem Jahr hat ergeben, dass das Unterstützungskonzept zur Frühen Sprachförderung im Land sehr gut implementiert ist. Viele der befragten Leitungskräfte gaben darüber hinaus an, dass der Einsatz von Sprachförderkräften in den Kindertageseinrichtungen notwendig und ein Ausbau dieser Form der externen Unterstützung gewünscht ist (Köhn & Tietze, 2018).
Auch andere Länder haben das Thema der verbesserten Chancengerechtigkeit aufgenommen. So ist in Deutschland die Thematik der Chancengerechtigkeit in Kindertageseinrichtungen derzeit unter anderem in dem Bundesprogramm "Sprach-Kitas: Weil Sprache der Schlüssel zur Welt ist" des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) verankert. Seit 2016 bearbeiten rund 7.000 Kindertageseinrichtungen die Handlungsfelder alltagintegrierte sprachliche Bildung, inklusive Pädagogik sowie Zusammenarbeit mit Familien systematisch. Das Zusammenspiel der drei Handlungsfelder spiegelt den Grundgedanken der Chancengerechtigkeit wieder: Die alltagsintegrierte sprachliche Bildung ermöglicht eine Teilnahme aller Kinder an institutionell vermittelten Bildungsinhalten. Dabei sollen keine Kinder ausgeschlossen werden, sondern alle Kinder in ihrer Individualität wertgeschätzt werden und das Gemeinschaftsleben bereichern. Dies soll nicht isoliert geschehen, sondern im Zusammenspiel zwischen der häuslichen und institutionellen Umgebung, samt den jeweiligen Bezugspersonen. Das Bundesprogramm richtet sich an alle Kinder und deren Familien, im Mittelpunkt des Interesses stehen jedoch Kinder aus bildungsbenachteiligten Familien und aus Familien mit Migrationshintergrund sowie mit einem niedrigen sozioökonomischen Status.
Das Besondere am Bundesprogramm ist das gewählte Vorgehen und die damit erlangte Reichweite: Das Qualifizierungsmaterial wurde von Expertinnen und Experten des frühpädagogischen Bildungsbereiches in Zusammenarbeit mit der Qualifizierungsstelle PädQUIS erstellt und an die Referentinnen und Referenten weitergegeben. Diese qualifizieren dann auf der ersten Ebene der Multiplikation jeweils feste regionale Gruppen von 10-15 zusätzlichen Fachberatungen "Sprach-Kitas". Die Qualifizierung umfasst Fallbesprechungen, Wissensvermittlung in allen Handlungsfeldern sowie Zeit, um in der Gruppe den Transfer zu planen. Zusätzlich findet auch die regionale Vernetzung und der Austausch untereinander in der Qualifizierung Raum.
Der Prozess der Qualifizierung wird parallel auf der zweiten Ebene des Multiplikatorenmodells durch die zusätzliche Fachberatung "Sprach-Kitas" mit jeweils 10-15 Kita-Tandems (bestehend aus Kita-Leitung und einer zusätzlichen Fachkraft "Sprach-Kitas") gestaltet. Die Kita-Tandems bilden die zweite Ebene des Bundesprogramms und runden das Multiplikatorenmodell ab, indem sie die Inhalte der Qualifizierung in die Kita-Teams einbringen, dort immer dem aktuellen Bedarf anpassen und so die Ebene des pädagogischen Alltages erreichen. Im Rahmen des Bundesprogramms "Sprach-Kitas" werden die aufgeführten Stellen der zusätzlichen Fachberatung "Sprach-Kitas" und der zusätzlichen Fachkraft "Sprach-Kitas" mit jeweils einer halben Stelle projektbezogen finanziell gefördert. Diese zusätzlichen Ressourcen ermöglichen es, insgesamt jede zehnte Kita in Deutschland zu erreichen.
Die exemplarisch beschriebenen Initiativen zur Erhöhung der Chancengerechtigkeit setzen vonseiten der Politik wichtige Impulse. Um für jedes Kind etwas zu erreichen, reichen diese aber noch nicht aus. Es ist nötig, dass auf struktureller Ebene gute Rahmenbedingungen geschaffen werden. Hierzu zählt unter anderem ein angemessener Betreuungsschlüssel, eine gute Qualifizierung der pädagogischen Fachkräfte sowie Einsatzpläne, welche verlässliche Gruppenkonstellationen innerhalb der Institution vorsehen (Meier Magistretti & Walter-Laager, 2017) und ein Budget mit etwas Spielraum. Dies befördert in der konkreten alltäglichen pädagogischen Arbeit mit den Kindern eine hohe Interaktionsqualität zwischen den Kindern und den pädagogischen Fachkräften, die auf einer guten Beziehung basiert und eine anregungsreiche Umgebung zur Verfügung stellt. Beispiele für gute Qualität in Krippen und Kindergärten finden sich bereits vielerorts (Walter-Laager, Pölzl-Stefanec, Gimplinger & Mittischek, 2018; Universität Graz, 2018a und 2018b), sollten aber zum Wohle der Kinder überall gesichert werden.
Literaturverzeichnis:
Bäuerlein, K., Linkert, C., Stumpf, E. & Schneider, W. (2013). Kurz -und langfristige Effekte außerfamiliärer Kleinkindbetreu-ung auf die kognitive und sprachliche Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung der Betreuungsqualität. Zeit-schrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 45(2), 57-65.
Fried, L. (2011). Sprachförderstrategien in Kindergartengruppen - Einschätzungen und Ergebnisse mit DO-RESI. Empirische Pädagogik, 25(4), 543-562.
Hungerford, A. & Cox, M. J. (2006). Family factors in child care research. Evaluation review, 30(5), 631-655. DOI:10.1177/0193841X06291532
Köhn, A. & Tietze, W. (2018). Frühe Sprachförderung in der Steiermark. Ergebnisse einer multiperspektivischen Befragung. Abschlussbericht. Unveröffentlichter Bericht, Berlin/Graz: PädQUIS, Land Steiermark.
Land Steiermark (2018). Frühe Sprachförderung. Verfügbar unter https://www.verwaltung.steiermark.at/cms/ ziel/74838185/DE/
Meier Magistretti, C. & Walter-Laager, C. (2016). Kriterien wirksamer Praxis in der frühen Förderung. Evidenzbasierte Gestaltung von Angeboten der frühen Förderung mit einem speziellen Fokus auf Kinder aus sozial benachteiligten Familien. Bern: Bundesamt für Sozialversicherungen.
Universität Graz (2018a). Gute Qualität bei Kleinsten sichtbar machen. Verfügbar unter https://krippenqualitaet.uni-graz.at/
Universität Graz (2018b). 10 Schritte zur alltagsintegrierten sprachlichen Bildung. Verfügbar unter https://sprachliche-bildung.uni-graz.at/
Vereinbarung gemäß Art. 15a B-VG über die frühe sprachliche Förderung in institutionellen Kinderbetreuungseinrichtungen für die Kindergartenjahre 2015/16 bis 2017/18 in der Fassung der Bekanntmachung vom 20.08.2015 (BGBl. II Nr. 234/2015). Verfügbar unter https://www.ris.bka.gv.at/eli/bgbl/II/2015/234/20150820
Walter-Laager, C. & Meier Magistretti, C. (2016). Literaturstudie und Good-Practice-Kriterien zur Ausgestaltung von Angeboten der frühen Förderung für Kinder aus sozial benachteiligten Familien (Forschungsbericht 6/16). Bern: Bundesamt für Sozialversicherung. Verfügbar unter https://www.bundespublikationen.admin.ch/cshop_mimes_bbl/8C/8CDCD4590EE41EE6AA837B8196662F8A.pdf
Walter-Laager, C., Pfiffner, M. & Fasseing, K. (Hrsg.) (2014). Vorsprung für alle. Erhöhung der Chancengerechtigkeit durch Projekte in der Frühpädagogik (Erste Bildungsjahre, Band 1, 1. Auflage). Bern: hep Verlag.
Walter-Laager, C., Pölzl-Stefanec, E., Gimplinger, C.& Mittischek, L. (2018). Gute Qualität in der Bildung und Betreuung von Kleinstkindern sichtbar machen. Arbeitsmaterial für Aus-, Fort- und Weiterbildungen, Teamsitzungen & Elternabende. Verfügbar unter https://static.uni-graz.at/fileadmin/projekte/krippenqualitaet/Begleitheft_GQSM_Gute_Qualitaet_sichtbar_machen.pdf