Das digitale Klassenzimmer: Auf die Mischung kommt es an
Volksschüler programmieren im Team einen Schwarm kleiner Roboterbienen so, dass sie in der Luft nicht kollidieren. Zehnjährige bedienen über den Computer die Sensoren und Tasten von Mikrorobotern. Schüler flanieren dank Virtual Reality im Zeichenunterricht durch den Louvre, in Englisch plaudern sie per Skype mit der Partnerklasse in Irland, arbeiten sich beim "Flipped Classroom" daheim durch einen Videovortrag in ein Thema ein, um dann im Unterricht gemeinsam zu üben und darüber zu diskutieren. All diese Beispiele sind keine Zukunftsmusik mehr, digitale Medien sind zumindest in einem Teil von Österreichs Klassenzimmern bereits angekommen.
Geht es nach der Bundesregierung, soll der technische Fortschritt allerdings künftig an allen Schulen einziehen - und das verpflichtend. Bereits im laufenden Schuljahr wurde an Neuen Mittelschulen (NMS) und AHS-Unterstufen die noch unter der rot-schwarzen Vorgängerregierung entwickelte verbindliche Übung "Digitale Grundbildung" eingeführt. In zwei bis vier Wochenstunden innerhalb von vier Jahren sollen die Schüler dabei lernen, etwa kritisch mit Medieninhalten und ihren persönlichen Daten umzugehen, Office-Anwendungen zu nutzen und selbst Medien zu gestalten. Die Schulen können selbst entscheiden, ob sie dies in speziellen Stunden oder integriert in anderen Fächern vermitteln. "Es soll ein motivierender Zugang geschaffen werden und die digitale Kompetenz für die Kreativität genutzt werden kann - Stichwort Making. Wir wollen nicht digitale Konsumenten, sondern wir wollen digitale Produzenten", fasst Martin Bauer, im Bildungsministerium zuständig für IT-Didaktik und digitale Medien, im Gespräch mit APA Science zusammen.
Einsatz mit Augenmaß als Devise
Im Frühjahr 2019 will die Regierung dann einen "Masterplan Digitalisierung" vorlegen: Angekündigt sind u. a. moderne Lehrpläne und Unterrichtsmaterialien, Verbesserungen bei der Infrastruktur und eine verstärkte Aus- und Weiterbildung der Lehrer. Künftig soll außerdem das Verständnis für große Zusammenhänge Vorrang bekommen vor Faktenlernen und das Interesse an Technologie (vor allem auch bei Mädchen) gesteigert werden.
Mit Vorliegen des Masterplans soll auch klar sein, wie und in welcher Art digitale Inhalte und Instrumente in den Unterricht einfließen sollen. Einsatz mit Augenmaß lautet hier die Devise, betont Bauer. Niemand wolle ausschließlich digital unterrichten. "Der optimale Mix macht den Erfolg und es liegt am Lehrer zu entscheiden, welche Methode eingesetzt wird, um mit den Kindern möglichst weit zu kommen."
Weg zur Individualisierung des Lernens
Große Chancen bieten digitale Medien aus Bauers Sicht etwa im Bereich Individualisierung. Eine Einschätzung, die durch eine Metastudie der Technischen Universität München gestützt wird, für die 80 Untersuchungen zusammengefasst wurden: Den größten Erfolg bringen Tutorensysteme zur Wissensvermittlung in kleinen Portionen samt Übungsmöglichkeit. Komplexität, Geschwindigkeit und Hilfestellung passen sich dabei jeweils an den einzelnen Schüler an.
Aber auch darüber hinaus stellt die Untersuchung dem Einsatz digitaler Medien in Mathematik und Naturwissenschaften in der Sekundarstufe (NMS, AHS, BMHS) ein gutes Zeugnis aus. Werden diese etwa zur Darstellung von komplexen und abstrakten Inhalten wie chemische Verbindungen und geometrische Formen eingesetzt, erzielen die Schüler bessere Leistungen und sind auch motivierter als Jugendliche, die traditionell unterrichtet wurden. Die Lernmotivation der Schüler kann laut Studie vor allem dann gesteigert werden, wenn Schüler in Paaren arbeiten, weil sie sich dabei über das Erlebte austauschen und so das Lernen gefördert wird.
Eine wichtige Voraussetzung ist allerdings die Unterstützung der Schüler durch den Lehrer. "Arbeiten sie vollkommen selbstständig mit Computerprogrammen, ist deren positiver Effekt gering", betonen die Studienautoren. Die positiven Effekte digitaler Medien nehmen außerdem dann zu, wenn sie ergänzend zu traditionellen Lernmaterialien eingesetzt werden und nicht als Ersatz.
2.300 österreichische Schulen im Netzwerk eEducation
In Österreich ist der Einsatz digitaler Medien im Unterricht an einem Teil der Schulen schon angekommen, schildert Bauer. 2.300 der rund 6.000 österreichischen Schulen beteiligen sich am Netzwerk eEducation (https://eeducation.at), in dem sich Schulen gegenseitig beim digitalen Lehren und Lernen unterstützen. Die Lernmaterialien auf der Plattform werden ständig erweitert und können kostenlos genutzt werden.
An allen Pädagogischen Hochschulen, die für die Ausbildung der Lehrer für die Sechs- bis 14-Jährigen und die Fortbildung aller Lehrer verantwortlich sind, wurden zudem sogenannte Education Innovation Studios ausgerollt. In diesen Lernlabors lernen sie, wie sie Schüler an informatisches Denken, digitale Kompetenzen und "Skills des 21. Jahrhunderts" wie problemlösungsorientiertes, kreatives, selbstorganisiertes Arbeiten im Team heranführen können. Die virtuelle PH, wo Lehrer Videos, aktuelle Beispielsammlungen, Feedbacktools, Lehrinhalte und Unterlagen für Fachdidaktik finden, ist laut Bauer stark nachgefragt. Auch mit schulinternen Fortbildungen sollen Lehrer motiviert werden, digitale Medien im Unterricht einzusetzen.
Spielerisches Lernen und reflektierter Umgang in der Volksschule
Und in der Praxis? An den Volksschulen liegt der Fokus laut Bauer vor allem auf Schreib- und Rechentrainingsprogrammen. Spielerisches Lernen sei hier ein guter Einstieg und sorge für Motivation und dafür, dass man länger etwas lernt, so Bauer. Das Ziel müsse allerdings sein, die gesunde Neugierde der Kinder zu befriedigen. Eine große Rolle spielen dabei aus Bauers Sicht die Eltern: Durch die Benutzung von Wikis oder sinnvollen Lernapps bekomme das Tablet eine ganz andere Rolle, als wenn Kinder damit beim Spielen "ruhiggestellt" werden.
Neben dem Einsatz von Lernprogrammen ist für den "Masterplan Digitalisierung" auch in Diskussion, Coding ab der ersten Schulstufe zu üben. Das bedeute freilich nicht, dass Sechsjährige Programmcodes tippen, betont Bauer. Die Kinder würden etwa Roboter bauen und diese dann auch programmieren mit Scratch, einer für den Bildungsbereich für Kinder und Jugendliche entwickelten visuellen Programmiersprache. "Die Idee ist, dass die Kinder dabei lernen, was ein Algorithmus ist, wie er funktioniert und programmtechnische Elemente wie Schleifen, Bedingungen oder Funktionen kennenlernen. Das braucht man dann auch wieder in anderen Fächern wie Mathematik, wo man abstraktes Denken stark trainieren muss."
Dass so manche Eltern von Volksschülern dem Einsatz digitaler Medien in diesem Alter skeptisch gegenüber stehen, versteht Bauer. Er gibt allerdings zu bedenken, dass Kinder heute immer früher ein eigenes Smartphone bekommen. "Unter diesen Bedingungen gehört es zu den Aufgaben der Schule, den Kindern auch einen reflektierten Umgang näherzubringen, damit ihnen klar ist, dass man nicht 1.000 Whatsapp-Nachrichten am Tag schickt und es auch nicht egal ist, was man das schickt und dass das Internet auch Gefahren birgt." Die Schule müsse vermitteln, die Geräte "mit Bedacht sinnvoll für das Lernen einzusetzen - und dabei auch die Bildschirmzeit im Auge zu haben".
Mikroroboter als fächerübergreifendes Projekt
Ab zehn Jahren sind dann anspruchsvollere Anwendungen möglich. Im Pilotprojekt "Microbits" werden über eine Scratch-artige Programmierumgebung kleine Mikroroboter programmiert, über deren Sensoren man etwa die Lage abfragen und deren Tasten man programmieren kann. Die Idee sei fächerübergreifender Projektunterricht etwa in Mathematik, Physik, Biologie und Werkerziehung. "Jeder Lehrer soll die in seinem Fach jeweils spannenden Themenbereiche bearbeiten und für die Kinder ergibt sich ein Ganzes. Die Lehrer müssen sich dafür stärker abstimmen", schildert Bauer. Die notwendigen Materialien seien alle fertig, qualitätsgesichert und stehen kostenlos zur Verfügung.
Eine weitere Einsatzmöglichkeit für digitale Didaktik wäre, Aufgaben nicht auf einem Blatt Papier zu lösen, sondern mithilfe einer Tabellenkalkulation, bei der zusätzlich gleich weitere Kompetenzen angesprochen werden. Wenn man bei dieser an die Grenzen stoße, könne man die Problemlösung auch programmieren. In jedem Fach könne der Einsatz anders aussehen. "Im Zentrum steht aber immer der Content und das, was ich pädagogisch und didaktisch machen möchte."
Plädoyer für "digitale Ethik"
Auch Peter Eiselmair sieht bei digitalem Lehren und Lernen "große Möglichkeiten und Potenziale, wenn man die Dinge richtig einsetzt und der Pädagogik unterordnet". Für den Geschäftsführer der Education Group, die in Oberösterreich Schulen bei moderner Unterrichtsgestaltung unterstützt, ist die Digitalisierung derzeit die "größte gesellschaftliche Herausforderung" und muss deshalb zentrales Thema der Bildungswelt sein: Er fordert eine "digitale Ethik", die sich mit den Folgen der Digitalisierung auf unser Berufs- und Sozialleben, Werteverständnis und unsere Identität beschäftigt.
Die Schule müsse sich diesen Veränderungen stellen, fordert Eiselmair. Bereits Kinder müssten darin geschult werden, kritisch zu denken und mündige Entscheidungen zu treffen, sich sprachlich gut auszudrücken und das auch in mindestens einer Fremdsprache. Er fordert in einem Vortrag, der auf der Education-Group-Homepage abrufbar ist, außerdem eine Abkehr vom Einzelkämpfertum hin zu Teamfähigkeiten und stärkere Förderung von Kreativität.
In der Unterrichtsgestaltung führt aus Eiselmairs Sicht am Einsatz technischer Systeme kein Weg vorbei, moderne Didaktik ohne Technikeinsatz könne nicht gelingen. Es werde allerdings nicht um eine radikale Abwehr von bisher gelebter pädagogischer Praxis gehen. "Es geht um eine Ausweitung." In einem modernen Klassenzimmer würden sich sicher Bücher und moderne Medien einen Platz teilen.
Lehrer und Schüler nehmen Medieneinsatz unterschiedlich wahr
Geht es nach einer Umfrage, die im Auftrag der Innovationsstiftung für Bildung durchgeführt wurde, ist das bereits jetzt der Fall: Nur sieben Prozent der befragten Lehrer geben an, überhaupt keine digitalen Lehr- und Lernmittel einzusetzen. Die Schüler (14 Jahre und älter) nehmen das allerdings anders wahr: Immerhin die Hälfte antwortete auf die Frage "Bemühen sich die Lehrer im Unterricht neue digitale Lehr- und Lernmethoden einzusetzen?" mit "eher Nein" oder "Nein". Dazu passt, dass sich die überwiegende Mehrheit der Lehrer durch ihre Grundausbildung "schlecht" (45 Prozent) bzw. "eher schlecht" (28 Prozent) vorbereitet fühlt auf den Einsatz digitaler Medien im Unterricht. Immerhin: Unter den Unter-30-Jährigen sind es mit einem Fünftel bereits deutlich weniger.
Service:
- Pilotprojekt "Denken lernen Probleme lösen" für die Primarstufe, 100 Volksschulen in Österreich seit 2017/18: https://bildung.bmbwf.gv.at/schulen/schule40/dgb/dlpl.html; https://eis.eeducation.at
- Pilotprojekt Denken lernen Probleme lösen in der Sekundarstufe 1, 100 AHS und NMS in Österreich, kostenloses OER-Schulbuch zum micro:bit, seit 2018/19: https://microbit.eeducation.at
- Digitale Grundbildung in der Sekundarstufe 1, Lehrplan siehe Linkliste auf der Webseite: https://bildung.bmbwf.gv.at/schulen/schule40/dgb/index.html
- Digitales Schulnetzwerk eEducation Austria: https://www.eeducation.at
- Virtuelle Pädagogische Hochschule: http://www.virtuelle-ph.at
Von Judith Riß / APA
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