Zwischen Genuss und Abgrund: Reise in die Kulturgeschichte des Schlafs
Wer denkt, im Schlaf passiert nicht viel und wird schon gar keine Geschichte geschrieben, wird mit "Guten Abend, gute Nacht. Eine kleine Kulturgeschichte des Schlafs" eines Besseren belehrt. Auf rund 210 Seiten macht Karoline Walter anschaulich, wie viel Leben, Tradition und auch Polemik diesem Phänomen innewohnen.
Eine "negative zwangsweise Unterbrechung aller Produktivität", ein "Verlust von Zeit, Vitalität und Chancen" und eine "Kapitulation gegenüber mächtigen Kräften der Natur". Oder aber eine "Reise ins Traumland", eine "wundertätig über Nacht wirksame Medizin" und ein "Zustand höchster Inspiration". Menschen haben über die Jahre unterschiedliche Einstellungen zum Schlaf entwickelt. Walter greift sie auf und erzählt Schlaf- und Wachheitsgeschichten aus verschiedenen Kulturen und Zeiten.
Verwehrter Schlaf
Zum Beispiel, wie sich der kritische Gedanke aus Erzählungen in der Bibel zum Schlaf und die Vorstellung des allzeit wachen und aufmerksamen Gottes fortan durch die westliche Gesellschaft zieht. Wie in diesem Sinne in der Aufklärung Denker und Philosophen erscheinen, die ohne Schlaf, oder zumindest mit so wenig wie möglich, auskommen wollen. Etwa John Locke oder Jean-Jacques Rousseau – sie verdammen den Schlaf als Zeitverschwendung. Auch Thomas Edison wird sich später als Schlafasket outen. Und seine Erfindung – die Glühbirne – wird für eine Revolution in Industrie und Arbeitswelt und nicht zuletzt für einen Eingriff in den natürlichen Tag-Nacht-Rhythmus der Menschen sorgen.
Das Schlafbedürfnis der Soldaten im Dritten Reich soll die Volksdroge Pervitin – heute bekannt als "Crystal Meth" – verdrängen, als der Vorsprung an Wachheit über Gewinnen oder Verlieren im Kriegseinsatz entscheidet. Heute versprechen neue und individualisierte Trends wie der Powernap, Schlafmangel in kurzer Zeit aufzuholen; der polyphasische Schlaf, die täglich benötigte Schlafmenge zu reduzieren.
Verpönter Schlaf
Subversives Potenzial habe das Schlafen in der Öffentlichkeit, schreibt Walter. Während es im Westen eher unüblich ist, sich schlafend den Blicken Fremder auszuliefern, gelte ein publikes Nickerchen in Japan etwa nicht, wie man für eine Leistungsgesellschaft erwarten würde, als Indiz für Faulheit, sondern im Gegenteil: Es beweise, dass man zuvor hart gearbeitet hat.
Anders in den USA, wo die Thematik politisch und ideologisch hoch aufgeladen ist. Durch sogenannte "Sleeping Bans" werden in einigen Städten und Gemeinden Menschen ohne Obdach aus der Öffentlichkeit verdrängt. Dagegen hat sich in Santa Cruz eine besondere Geste des passiven Widerstands entwickelt: Regelmäßig trifft sich die aktivistische Gruppierung "Freedom Sleepers" an öffentlichen Plätzen und legt sich dort demonstrativ zum Schlafen nieder.
Vermisster Schlaf
Natürlich gab es zu allen negativen Tendenzen immer auch Gegenbewegungen. Die Mystiker des Mittelalters fühlten sich durch Schlaf und Traum mit Gott verbunden. Schlaf bedeutete für sie ein Ort übersinnlicher Einsichten und höchster Erkenntnis. Im Alten wie im Neuen Testament wandte sich Gott im Traum an seine Auserwählten und warnte oder informierte sie über zukünftige Ereignisse. Und auch heute, so scheint es, hat man das Schöne und Genussvolle am Schlaf wiederentdeckt. Die Gesellschaft des "schlafgestörten 21. Jahrhunderts", als das es Walter bezeichnet, versuche das Schlafen "wieder zu erlernen bzw. wertschätzen zu lernen". In Schlaflaboren etwa oder durch diverse Technologien und Innovationen. Wenn diesen auch weiterhin der Gedanke der Leistungsoptimierung und -steigerung moderner Arbeitsökonomien zugrunde liegt.
Last und Sünde, Lust und Genuss. Das waren nur einige Beispiele für die vielen Widersprüche, die um den Schlaf kreisen – und dass dieser oft einer Gratwanderung zwischen Harmonie und Abgrund gleicht. Karoline Walter arbeitet dies akribisch heraus und lässt staunen, in welche Ecken der Schlaf und seine Wirkung dringen.
All jenen, die tiefer in dieses oft ziemlich im Dunkeln liegenden Thema eintauchen wollen, sei hiermit der eine oder andere Erkenntnisgewinn versprochen. Einschlaflektüre ist es ob der Fülle an Informationen keine.
Zur Person: Karoline Walter hat Kulturwissenschaften studiert und arbeitet als freie Autorin in Berlin. Ihr Interesse liegt besonders auf kulturhistorischen und gesellschaftlichen Themen sowie Kunstprojekten. Der Schlaf ist für sie eine Kulturtechnik, die in der Gesellschaft vernachlässigt wird - sowohl praktisch als auch theoretisch. Dies will sie nun mit ihrem Buch ändern und das Thema für ein breites Publikum spannend aufbereiten.
Service: Karoline Walter: "Guten Abend, gute Nacht. Eine kleine Kulturgeschichte des Schlafs", Ca. 210 Seiten, 22,90 Euro, Hirzel Verlag, 1. Auflage: August 2019, ISBN: 978-3-7776-2522-5
Von Barbara Schechtner / APA-Science