"Das unterschätzte Wissen der Laien"
Citizen Science ist ein Thema, das den Nerv der Zeit trifft. Der Verlag, der mein Buch "Citizen Science: Das unterschätzte Wissen der Laien" vor einem halben Jahr als erstes von einem Wissenschaftsforscher zu diesem Thema geschriebenes Buch herausgebracht hat (oekom: München) wurde hiervon selbst überrascht. Das Interesse hat verschiedene Gründe: Die Tatsache, dass das Wissen der Laien - von uns allen! - gemeinhin unterschätzt wird, die Tatsache, dass das Wissen der Experten gemeinhin überschätzt wird, die Tatsache, dass nur ein Teil der Wissenschaft Berufswissenschaft ist, aber diese oft so tut, als repräsentiere sie die ganze Wissenschaft, und auch die Tatsache, dass die oft zu hörende Gegenüberstellung "Wissenschaftler und Bürger" Unsinn ist, denn auch die Wissenschaftler sind Bürger und manche Bürger sind auch Wissenschaftler. Ich greife einige der Probleme heraus.
MEIN PERSÖNLICHER HINTERGUND:
Ich bin mit zwei Beinen in der Wissenschaft zu Hause, mit dem einen in der ehrenamtlichen Bürgerwissenschaft und mit dem zweiten in der professionellen Berufswissenschaft. Die Wissenschaft außerhalb der Universitäten habe ich vor derjenigen kennengelernt, die in ihnen stattfindet. Als Göttinger Schüler bin ich bereits einer Geschichtswerkstatt beigetreten, die Menschen versammelte, die die Vertreibung der Juden in der Stadt ab den dreißiger Jahren aufarbeiten wollten; es waren Menschen aus vielen Berufen, nur einer von ihnen ein wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität, aber er fiel in diesem Kreis nicht besonders auf. Später haben mich meine ornithologischen und fischkundlichen Interessen in ehrenamtliche Naturforscherkreise eingeführt. Dort war es ähnlich. Später wurde ich Mitgründer der deutschen Vereinigung für ökologische Ökonomik, bei der ich noch jetzt im Vorstand tätig bin. Zuletzt habe ich ein internationales Netzwerk gegründet, das versucht, eigentlich unpolitische Hobbyaquarianer für den Kampf gegen die Regenwaldzerstörung in Südostasien zu gewinnen. Studiert habe ich aber Philosophie, Logik und Sprachtheorie (in Göttingen, Heidelberg und Oxford), und habilitiert habe ich mich im Fach Wissenschaftstheorie in Bielefeld. Dort erhielt ich nach akademischen Wanderjahren einen Lehrstuhl für dieses Fach, den ich ein Vierteljahrhundert innehatte; auf diesem habe ich immer die Tatsache thematisiert, dass Wissenschaft auch außerhalb der Universität stattfindet. Zwischenzeitlich hatte ich zusätzlich zwei Jahre eine Stiftungsprofessur an einer Privatuniversität inne, um herauszufinden, ob das die bessere Organisationsform von Wissenschaft ist; das Ergebnis war durchwachsen. Gastprofessuren im In- und Ausland kamen hinzu. Meinen Lehrstuhl habe ich zwei Jahre vor der Pensionierung aus freien Stücken unter Protest aufgegeben, weil ich es unerträglich fand, dass die europäische Politik es sich herausnahm, von allen Universitäten in allen EU-Ländern zu verlangen, sie sollten ihre Strukturen einheitlich auf das Bachelor-Master-System umstellen - eine Zumutung und ein Unsinn sondergleichen für jemanden, der Vielfalt, Flexibilität und freie Suche nach neuen, besseren Organisationsformen in der Wissenschaft für lebenswichtig hält.
MEINE BEURTEILUNG DES HEUTIGEN CITIZEN SCIENCE-HYPES:
Das gegenwärtige Medieninteresse an Citizen Science führt dazu, dass jede Menge oberflächliche Darstellungen von Leuten geschrieben werden die glauben, die ganze Wissenschaft zu kennen, aber sie kennen doch nur die akademische Wissenschaft. Mir kommt das vor wie die Illusion der berühmten "Dame ohne Unterleib". Der entscheidende Punkt wird dabei fast immer übersehen: die Tatsache, dass Bürgerwissenschaft selbstorganisiert, nicht in wissenschaftlichen Institutionen und nicht beruflich auf einer Stelle, sondern aus freien Stücken, nebenbei und ehrenamtlich ausgeübt wird. Sie ist deshalb frei von den institutionellen, politischen und ökonomischen Zwängen, die die heutige akademische Wissenschaft sehr abhängig gemacht haben. Es ist bezeichnend, dass immer wieder auch Wissenschaftsprofis in der Bürgerforschung mitmachen - warum wohl?
Ein weiterer Fehler ist die überzogene Konzentration auf biologische und naturbezogene Fragestellungen. Hier liegt zwar ein faktischer Schwerpunkt, aber Problemfelder unserer historischen, sozialen, kulturellen, ökonomischen und politischen Umwelt werden ebenfalls von vielen interessierten Personen als Betätigungsfelder gewählt. Dass jene Überbetonung eines Themenfeldes stattfindet, liegt einerseits am Druck der Probleme unserer schwindenden Biodiversität, andererseits daran, dass die Profibiologen eher gemerkt haben als ihre Kollegen aus ganz anderen, aber ebenfalls hochgradig problemhaltigen Fachbereichen, dass sie ohne die engagierten Bürger ganz auf verlorenem Posten stehen würden.
Der Hauptfehler ist, nur noch "Citizen Science light" wahrzunehmen: von Profis organisierte Bürgerbeteiligung an Forschung, die sie - die Profis - interessiert. Die große wissenschaftstheoretische Bedeutung anderer Herangehensweisen an Fragen, die die Menschen wirklich interessieren, bleibt unerkannt.
BESONDERHEITEN UND UNTERSCHIEDE DER BEIDEN FORMEN DER WISSENSCHAFT
Viele denken, Citizen Science sei etwas Neues; sie verwechseln den für uns neuen Begriff mit der Sache. Die ist alt, es gibt sie mindestens seit der Aufklärung. Es gibt heute einige neue Aspekte, etwa durch die Vieles verändernde Rolle des Internets, aber im Kern ist die Bürgerwissenschaft nichts Neues.
Ein entscheidender Unterschied zur akademischen Wissenschaft liegt in dem Faktum, dass in der Bürgerwissenschaft weit eher fachübergreifende, "transdisziplinäre" Perspektiven akzeptiert und als geradezu selbstverständlich zugrunde gelegt werden, während in der überwiegend noch immer streng einzelfachlich organisierten Berufswissenschaft der Universitäten allenfalls interdisziplinäre Forschung als gelegentlicher Reparaturmechanismus der eher willkürlichen Fachausschnitte hingenommen wird. Die Bürgerwissenschaft kann man daher viel eher als in zusammenhängenden Wissensfeldern arbeitende Aktivität von Menschen beschreiben, die ein von ihnen in ihrem Lebensumfeld praktisch erlebter Problemdruck antreibt - Forscheraktivisten, die etwas verändern wollen und dazu neues, aktuelles Wissen benötigen. Deshalb sind fast alle Projekte, die Citizen Science eng an bestimmte fachliche Perspektiven binden, von Profis ausgedachte Projekte und entgegen mancher Darstellung nicht die typischsten, am meisten für wirkliche Bürgerforschung charakteristischen Vorhaben.
Dem entspricht, dass die Nähe hier eine in der akademischen Berufswissenschaft, die auf Wissensfortschritt in internationalem Rahmen setzt, völlig unbekannte neue Bedeutung gewinnt: als Konzentration auf den lokalen und regionalen Raum, in dem man sich besser auskennt als die Profis, die diesem Umstand kaum Bedeutung zumessen. Wenn beispielsweise eine Gruppe von Anwohnern sich zusammenfindet, um die Geschichte der interessanten Straße zu schreiben, in der sie wohnen, zeigt dies die Wahl eines die Menschen vor Ort interessierenden Themas, für das kein Profihistoriker Zeit hätte.
FREIHEIT DER WISSENSCHAFT:
Die oft beschworene Freiheit der Wissenschaft ist tatsächlich für sie, für unabhängige, vom Forscher selbstbestimmte Forschung ein sehr wichtiges Ideal. Sie ist deshalb in demokratischen Verfassungen zu Recht geschützt. Wie aber sieht es in der Realität aus?
Tatsächlich ist die Freiheit der beruflich betriebenen akademischen Wissenschaft nur noch in Resten vorhanden. Die für jedermann offensichtlichste Beeinträchtigung ergibt sich aus administrativen Erfordernissen, da heutige Universitäten komplexe Institutionen sind, die ohne große Verwaltungsabteilungen nicht mehr zu managen sind. Wissenschaft ist heute faktisch die Einheit von Forschung, Lehre und Verwaltung. Machthierarchien, Dokumentationspflichten, verbindliche Studien- und Lehrordnungen sowie umfangreiche Gremienarbeit schränken die Freiheit des einzelnen Wissenschaftlers erheblich ein. Ausgerechnet die Politik, die sie (beispielsweise durch Hochschulgesetze) vor der Aushöhlung schützen sollte, begrenzt sie durch eben diese Gesetze, aber auch durch andere Maßnahmen (Verlangen, dass alle europäischen Hochschulen nach dem Bologna-Prinzip umorganisiert werden sollten, Vorbehalt der Professorenernennung durch einen Wissenschaftsminister, globale Finanzsteuerung der gewünschten und weniger gewünschten Disziplinen) in erheblicher Weise. Noch stärker als die Politik greift freilich heute die Wirtschaft in die Freiheit der Wissenschaft ein, indem sie ihre Privatmittel sehr deutlich nach Erwartungen der ökonomischen Relevanz vergibt und als markanteste Maßnahme sogar eigene Hochschulen und Universitäten gründet. Den starken Einfluss des ökonomischen Denkens spiegelt auch die Tatsache, dass die Bildungsökonomen die einflussreichsten Organisationsberater an den Universitäten der letzten Jahrzehnte waren.
Die Bürgerwissenschaft ist von all diesen Entwicklungen weitestgehend unberührt geblieben. Sie ist die Form der Wissenschaft, die heute noch uneingeschränkt als frei bezeichnet werden kann. Hier fehlt eine institutionelle Organisationsebene: Hat ein Wissenschaftsminister nichts zu sagen, ist der Einfluss der Wirtschaft gleich Null, da die Forschung aus freien Stücken aus bloßem Interesse und ehrenamtlich betrieben wird. Dies muss nicht so bleiben, aber als Status quo und als lehrreiches Gegenbild ist es bemerkens- und verteidigenswert.
ZUR SITUATION IN ÖSTERREICH:
Soweit ich die Lage überblicke, gibt es auch in Österreich faktisch seit langem eine sehr kraftvolle Citizen Science Bewegung. Doch auch hier gibt es das Problem (das wir in Deutschland massiv haben), dass die akademische Wissenschaft glaubt, den Wissenschaftsbegriff gepachtet zu haben und die Grenzen von Citizen Science bestimmen zu können. Dies führt dann dazu, dass nur noch anerkannt wird, was ich Citizen Science light nenne: die Einführung eines famosen neuen Typs wissenschaftlicher Mitarbeiter, des "kostenlosen wissenschaftlichen Mitarbeiters". Ehrenamtlichkeit ist aber nicht dasselbe wie Kostenlosigkeit.
Es ist deshalb ehrlicher und sinnvoller davon auszugehen, dass wir heute zwei Erscheinungsformen von Wissenschaft haben, die beruflich in Institutionen betriebene Wissenschaft und die nicht- oder nebenberuflich, ehrenamtlich betriebene Wissenschaft, die mitten in der Zivilgesellschaft stattfindet. Wir müssen natürlich daran arbeiten, dass beides miteinander kommuniziert, aber nicht so, dass allein die Profis die Themen und Grenzen hierfür vorgeben. In einer Demokratie kann es keine geschlossenen Gesellschaften geben, das war schon Poppers Lehre aus "The Open Society and its Enemies". Insofern ist die gegenwärtige Situation mit einer auch in Österreich zu neuer Kraft aufblühenden Bürgerwissenschaft spannend und wichtig auch für unser Zusammenleben in der Demokratie und - nicht zuletzt - die Zukunft der akademischen Wissenschaft. Für diese freilich weniger unter ihrer Führung, als durch den Veränderungsdruck, der von Citizen Science proper auf sie ausgeht.