Medizin nach Maß
Das Gesundheitswesen steht vor einem Paradigmenwechsel - so zumindest der Eindruck oder die Erwartungen, sobald von der "personalisierten Medizin" die Rede ist. Ob es sich eher um eine Zukunftsvision oder eine bereits alltagstaugliche medizinische Praxis handelt, darüber herrscht noch wenig Einigkeit - ganz zu schweigen von der genauen Bedeutung des Begriffs. APA-Science hat sich einen Überblick über einen der derzeit prominentesten medizinischen Trends verschafft.
"Die Präzisionsmedizin, also die Entwicklung von maßgeschneiderten Therapien, ist bisher der wichtigste Trend der Medizin im 21. Jahrhundert", erklärte Oswald Wagner, Vizerektor für Klinische Angelegenheiten der Medizinischen Universität Wien, Anfang des Jahres im universitätseigenen Magazin "MedUnique".
In der einen oder anderen Form sind von dieser Strömung bereits heute alle maßgeblichen Bereiche des Gesundheitswesens betroffen, von Ärzten und Apothekern, über die Pharmaindustrie bis zum klinischen Bereich, dem Impfwesen und der Grundlagenforschung. In einer weiter gefassten Definition fallen auch technischere Aspekte wie Wearables, Lab-on-Chip Technologie und Datenverarbeitung (Big Data) darunter.
Richtige Therapie, Dosis und Zeitpunkt
Im Wesentlichen orientiert sich die personalisierte Medizin am Individuum bzw. an kleineren Patientengruppen und berücksichtigt nicht nur das Geschlecht (siehe "Gender und Gesundheit: Geschlecht 'spielt immer eine Rolle'"), sondern auch etwa körperliche Besonderheiten, Lebensumstände, Alter oder Gewicht. "Die richtige Therapie in der richtigen Dosis zum richtigen Zeitpunkt", so lautet eine häufige Umschreibung für das Konzept, das davon weggeht, Medikamente für eine möglichst breite Masse zu entwickeln. Stattdessen sollen dabei unter Berücksichtigung genetischer und anderer molekularmedizinischer Informationen präzisere sowie präventive und therapeutische Interventionsmöglichkeiten für kleinere Gruppen zur Verfügung stehen.
Bei manchen Krebserkrankungen etwa ermöglichen neue diagnostische Methoden wie die molekular-genetische Untersuchung von Tumorgewebe oder Blut wirksamere Behandlungen mit weniger Nebenwirkungen und besseren Überlebenschancen (siehe auch "Genaue Diagnose als effektive Waffe im Kampf gegen Krebs"). Dabei wird nach Biomarkern (siehe auch "Biomarker als Wegweiser für maßgeschneiderte Therapien") gesucht, also besonderen Veränderungen, die die Tumorzellen charakterisieren. Sind diese einmal gefunden, lassen sich die Tumorzellen zielgerichtet an genau diesen veränderten Stellen angreifen.
Möglich gemacht hat diese modernen Ansätze in erster Linie der medizinisch-technische Fortschritt, allen voran die Entschlüsselung des menschlichen Genoms. "Mit der Fähigkeit, Genome zu sequenzieren, gibt es eine moralische Verpflichtung, diese Informationen zu gebrauchen - für dieses Ziel ist jedoch noch viel Forschungsarbeit und gesellschaftliche Auseinandersetzung nötig", erläuterte Giulio Superti-Furga, wissenschaftlicher Direktor des Forschungszentrum für Molekulare Medizin (CeMM) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), gegenüber APA-Science (siehe: "Zellpforten als Schlüssel zur besseren Dosierung").
Open Science-Projekt
Ganz genau scheint man sich innerhalb und außerhalb der medizinischen Community aber noch nicht über die Terminologie und den Bedeutungskontext einig zu sein. Während in der breiten Öffentlichkeit am ehesten der Begriff "personalisierte" Medizin geläufig, aber oft mit dem Ruch einer eingeschränkten, biologischen Deutung behaftet ist, wird im klinischen Alltag die Terminologie "stratifizierte" ("geschichtet") oder "Präzisions"-Medizin bevorzugt.
Genauer eruieren wollte das und weitere grundlegende Fragen der Verein "Open Science" im Rahmen des Projekts "Personalisierte Medizin für und mit BürgerInnen" im Auftrag des Wissenschaftsministeriums (BMWFW). Im Kern standen dabei kritische Dialoge mit Experten und Bürgern, die helfen sollten zu klären, was unter "personalisierter Medizin" verstanden wird und was man sich davon erwarten kann.
"Überrascht hat mich in den Diskussionen mit den Expertinnen und Experten vor allem, dass es kein einheitliches Verständnis des Begriffs gab. Wie es ein Experte treffend formulierte: 'Jeder versteht ein bisserl was anderes drunter'", erklärte Claudia Schwarz-Plaschg, die das im Vorjahr beendete Projekt geleitet hat, gegenüber APA-Science. In medizinischen Fachkreisen stehe der Begriff mehrheitlich für die Anwendung der Genomforschung in der Medizin. Ziel einer personalisierten - oder besser stratifizierten - Medizin sei es vor allem, Patienten aufgrund molekularer Merkmale in Subgruppen einzuteilen, um so passgenauere Therapien zu ermöglichen.
Ärzte: "Immer schon personalisiert"
Diesem engen Verständnis stünden vor allem Allgemeinmediziner und Bürger skeptisch gegenüber, so Schwarz-Plaschg: "Ärzte wittern darin eine Abwertung ihrer bisherigen Behandlungsweise, die ihrer Meinung nach immer schon 'personalisiert' auf die jeweiligen Patienten zugeschnitten war. Erste Assoziationen in den Dialogen mit Bürgerinnen und Bürgern waren oft, dass es sich bei personalisierter Medizin um ganzheitliche Medizin und eine persönliche Betreuung durch den Arzt/die Ärztin handelt. Aus Laiensicht gilt es daher in der Debatte um die personalisierte Medizin, diese Aspekte nicht zu vernachlässigen."
Die meisten existierenden Anwendungen der personalisierten Medizin erkannten die Teilnehmer in der stratifizierten Krebsmedizin, die auch allgemein als Vorreiterin gilt (siehe "Krebsforscher Gerald Prager: 'Haben bereits jetzt vielfach Präzisionsmedizin'"). Ein bekanntes Beispiel ist etwa die Behandlung einer Art von Brustkrebs, bei der der Wachstumsfaktor-Rezeptor HER2 vermehrt an der Oberfläche der Krebszellen auftritt. Bereits heute zur Anwendung kommen individualisierte Ansätze darüber hinaus aber in einem weiten Feld von Lungenkrebs und Leukämie über die Transplantationsmedizin bis zur Behandlung von Autoimmun- und Infektionskrankheiten wie Hepatitis C oder HIV/AIDS. Geforscht wird auch an der personalisierten Behandlung und Prävention von Volkskrankheiten wie Osteoporose, Herz-Kreislauferkrankungen und Diabetes.
Warnung vor zu hohen Erwartungen
Die Erfahrungen aus dem Projekt würden aber auch zeigen, dass der Begriff "personalisierte Medizin" viele Hoffnungen und Erwartungen weckt - von neuen Behandlungen, maßgeschneiderter Prävention, bis zu Kosteneinsparungen im Gesundheitssystem -, die wahrscheinlich in dieser Form nicht eingelöst werden könnten. Schwarz-Plaschg plädiert daher dafür, mit den Erwartungen, die von dem Begriff "personalisiert" ausstrahlen, sorgfältig umzugehen, sonst könnte es zu einem Verlust an Glaubwürdigkeit in der Gesellschaft kommen. Personalisierte Medizin im molekularbiologischen Verständnis komme heute erst wenigen Menschen zu Gute.
Kritisch hinterfragt wurden in dem "Open Science"-Projekt auch die gesundheitsökonomischen Aspekte, etwa wie das Solidarsystem die höheren Kosten von personalisierten Medikamenten und Therapien tragen wird können. Als weitere Herausforderung wurde der Umgang mit genetischen und anderen personenbezogenen Daten identifiziert, die für die Entwicklung und Anwendung von personalisierter Medizin nötig sind (siehe "'One size fits all?' Ethische Fragen zur maßgeschneiderten Medizin"). "Die rege Anteilnahme an den 'BürgerInnen-Dialogen' hat mir gezeigt, dass es machbar und sinnvoll ist, die Öffentlichkeit in die kritische Diskussion um neue biomedizinische Entwicklungen einzubinden", zieht Schwarz-Plaschg, die mittlerweile selbst nicht mehr bei Open Science tätig ist, eine positive Bilanz aus dem Projekt. Das Thema personalisierte Medizin beschäftigt den Verein derzeit weiterhin in dem interdisziplinären EU-Projekt "Genetics Clinic of the Future".
"Präzisionsmedizin" bevorzugt
Aus Sicht eines Mediziners ist der Begriff "Präzisionsmedizin" ohnehin zu bevorzugen, wie Christoph Binder, Gruppenleiter am CeMM und Atheroskleroseforscher an der MedUni Wien im Gespräch mit APA-Science erklärte: "Die personalisierte Medizin in dem Sinn kann es nicht geben, weil jede therapeutische Intervention natürlich auch einer gewissen Evaluierung bedarf. Wenn ich ein Medikament entwickle, muss ich ja eine Gruppe von Menschen damit testen, damit ich statistisch relevante Aussagen habe, ob dieses Medikament wirkt. Ich kann in einer Gruppe mit einer gewissen genetischen Prädisposition ein bestimmtes Medikament geben und zeigen, dass es in dieser Gruppe besser wirkt als in der anderen - oder nur in dieser Gruppe. Aber wenn ich jemandem sage, Sie haben eine einzigartige Genvariante und ein bestimmter Wirkstoff wirkt nur bei Ihnen, ist das wissenschaftlich unfundiert."
Mit den immer billigeren und schnelleren Möglichkeiten zur Genomsequenzierung werde es immer leichter, nach bestimmten Mutationen oder Genvarianten zu suchen und diese nachzuweisen. "Ich glaube, Präzisionsmedizin kann in der Zukunft auch in der Prävention eine sehr wichtige Rolle spielen. Es ist zum Beispiel nun einmal so, dass manche Leute, auch wenn sie wenig essen, leichter zunehmen als andere", so der Professor am Institut für Labormedizin. Obwohl man hier noch in frühen Forschungsstadien stecke, könne das Wissen um genetische Prädispositionen wie zum Beispiel für ein bestimmtes Essverhalten oder für das Risiko Diabetes zu entwickeln, eine angepasste, individuelle Prävention für den Patienten möglich machen. So könnte man etwa einem Patienten aufgrund seiner Prädisposition raten, das "böse" Cholesterin stärker zu senken als es die allgemeinen Richtwerte vorgeben, um ihn vor einem Herzinfarkt zu schützen.
Binder versucht in seinen Forschungen unter anderem Herz-Kreislauferkrankungen besser zu verstehen. Hierbei gibt es einige genetische Risikofaktoren, die für die Atherosklerose eine wichtige Rolle spielen, weil sie vor allem in den Cholesterinstoffwechsel eingreifen. "Wir glauben, dass es auch individuelle Unterschiede gibt, warum manche Patienten leichter eine chronische Entzündung bei Cholesterinablagerungen in den Gefäßen entwickeln als andere. Und wenn wir die verstehen, können wir mögliche Therapien entwickeln, damit wir diese Entzündungen besser hemmen oder verhindern oder das Auflösen der Entzündung beschleunigen", so der Experte.
Zeit der Blockbuster vorbei
Ein deutlicher Trend zur Individualisierung und Differenzierung in Forschung und Entwicklung ist auch in der Pharmaindustrie gegeben. "Die Zeit der Blockbuster-Präparate ist vorbei", erklärt Pharmig-Präsident Jan-Oliver Huber in seinem Gastkommentar. Es gelte vielmehr, "hoch differenzierte Medikamente mit einem klar definierten Nutzen für den Patienten zu entwickeln, Ansprechraten auf Medikamente zu erhöhen und deren Nebenwirkungen zu minimieren". Das sei mit weiter steigenden Kosten verbunden - schon bisher habe die Entwicklung eines Arzneimittels im Schnitt bis zu zwölf Jahre gedauert und mit Kosten von bis zu 1,5 Mrd. Euro zu Buche geschlagen.
Pharmaunternehmen räumen der personalisierten Medizin zunehmend Platz in ihrer Agenda ein, so Huber, der eine Studie des Tufts Center for the Study of Drug Development aus dem Vorjahr zitiert: Demnach sind 42 Prozent aller in der Entwicklung steckenden Arzneimittel für die personalisierte Therapie, in der Onkologie liege mit 73 Prozent das größte Potenzial. In den letzten fünf Jahren hätten biopharmazeutische Unternehmen ihr Investment in Forschung und Entwicklung in diesem Bereich verdoppelt, ein weiterer Anstieg um 33 Prozent werde auch in den kommenden fünf Jahren erwartet. Im gleichen Zeitraum wird auch mit einem Anstieg der Anzahl der personalisierten Arzneimittel von 69 Prozent gerechnet.
Zentrum für Präzisionsmedizin
Dass das Thema wohl mehr als eine theoretische Zukunftsvision ist, zeigt sich auch an den Planungen für eine entsprechende institutionelle Verankerung in der Bundeshauptstadt. Bis 2030 wollen Bund und Gemeinde 2,2 Milliarden Euro in das AKH investieren. Das Geld fließt in laufende Investitionen, den klinischen Mehraufwand und in Bau- und Infrastrukturprojekte. Eines der Bauprojekte ist der "MedUni Campus AKH", der bis 2025 am Spitalsgelände entstehen und drei neue Forschungszentren umfassen soll: ein Zentrum für translationale Medizin, eines für Technologie und eines für personalisierte Medizin.
Am letzteren "Center for Precision Medicine" sollen auf einer Nutzfläche von 13.600 Quadratmetern ca. 400 Mitarbeiter auf modernste gemeinsame Infrastruktur zurückgreifen können. Dazu zählen laut MedUni unter anderem leistungsstärkere Computer, die enorme Datenmengen analysieren und verwalten können, verschiedene projektbezogene Forschungslaboratorien, ein "Genome Center" mit modernsten Next-Generation-Sequencing-Geräten, sowie Einrichtungen für andere Schlüsseltechnologien. wie Durchflusszytometrie (Auflösung komplexer Zellpopulationen) und Proteomik (Analyse von Proteinen mittels Massenspektrometrie).
Besonders wichtig ist dabei auch der Aufbau einer eigenen Biobank. Dort wird biologisches Probenmaterial wie Blut, Gewebe oder Harn aufgearbeitet und gelagert und soll dann allen präklinischen und klinischen Abteilungen auf einer Fläche von 1.500 Quadratmetern zur Verfügung stehen. Auch Christoph Binder, der mitverantwortlich für die Planung der Bauvorhaben zeichnet, misst der Biobank zentralen Stellenwert zu: "Dass wir hier Gewebe auch lagern und aufbereiten können wird essenziell für eine gute Präzisionsmedizin, weil uns das die Möglichkeit gibt, sowohl häufige aber auch sehr seltene Erkrankungen in sinnvollen Dimensionen zu beforschen und tatsächlich in eine translationale Schiene zu überführen."
Von Mario Wasserfaller / APA-Science