Die Weisheit der Masse
Sie werten Daten aus, führen Messungen durch oder melden Beobachtungen: Dass Amateure bei wissenschaftlichen Projekten mitarbeiten, ist an sich nichts Neues. Nicht zuletzt aufgrund der Möglichkeiten, die neue Medien und Technologien bieten, wird "Citizen Science" aber immer mehr zu einem Phänomen, das sowohl vom akademischen Wissenschaftsbetrieb als auch vonseiten der Politik anerkannt und aktiv unterstützt wird.
Jahr für Jahr bescheinigt die Eurobarometer-Umfrage den Österreichern eine im EU-Vergleich überdurchschnittlich große Wissenschaftsskepsis. Das mag an der Komplexität und schwierigen Zugänglichkeit vieler Wissenschaftsthemen liegen oder an deren (vermeintlich) mangelndem Alltagsbezug. Ein gänzlich anderes Bild bietet sich dagegen bei Forschungsprojekten, die diese Distanz aufbrechen und Bürgern die Möglichkeit bieten, daran aktiv mitzuarbeiten. Ob dabei Vögel beobachtet, Ausgrabungen unterstützt oder Sterne gezählt werden, der Beitrag von freiwilligen "Bürgerwissenschaftern" für breit angelegte Wissenschaftsinitiativen ist nicht zu unterschätzen - besonders dort, wo größere Datenmengen anfallen.
Dynamischer Forschungsansatz
"Open Science", "Science 2.0" oder "Citizen Science" - genau so wie es noch verschiedene Begriffe für im Prinzip ein und dieselbe Sache gibt, hat sich auch noch keine allein gültige Definition für die Bürgerwissenschaft durchgesetzt: "Das spiegelt die Dynamik dieses Forschungsansatzes an sich wieder. Ganz allgemein versteht man darunter die Einbindung von Nicht-Wissenschaftern in authentische wissenschaftliche Prozesse", erklärte Teresa Holocher-Ertl im Gespräch mit APA-Science. Die Expertin vom Zentrum für Soziale Innovation (ZSI) leitete das 2012 abgeschlossene EU-Projekt "Socientize", das sich intensiv mit Citizen Science beschäftigt hat. Demnach ist "Science 2.0" der breitere Begriff, bei dem es um die Einbindung der Bevölkerung in die Forschung geht, aber auch um neue Technologien in diesem Zusammenhang, während "Citizen Science" einen Subbereich mit unterschiedlichen Ausprägungen beschreibt.
"Offene" Formen des Erkenntnisgewinns in der Forschung gibt es schon lange. Bereits 1714 setzte die englische Regierung auf die "Weisheit der Masse", indem sie einen Preis von 20.000 Pfund für die Entwicklung einer Methode auslobte, wie man den Längengrad auf See bestimmen kann. Das Problem löste schließlich der Uhrmacher und wissenschaftliche Laie John Harrison. Ein bekanntes Beispiel ist auch der sogenannte "Christmas Bird Count", eine jährliche "Volkszählung" von Vögeln im nordamerikanischen Raum, die es seit mittlerweile 114 Jahren gibt. Machten im Jahr 1900 dabei noch 27 Hobby-Ornithologen mit, sind es mittlerweile Zehntausende.
Besonders dort, wo kein Spezialwissen nötig ist, kann die Zahl der Teilnehmer sogar in die Hunderttausende gehen. Die wissenschaftliche Crowdsourcing-Plattform "Zooniverse" kann mit Stand November 2014 auf rund 1,24 Millionen Teilnehmer zurückgreifen. Möglichkeiten zur Partizipation gibt es in fünf Kategorien, von Weltall, Klima, Humanwissenschaften, Natur bis Biologie. Das Teilprojekt "Galaxy Zoo", das im Juli 2007 online gegangen ist, verzeichnete nach eigenen Angaben schon im ersten Jahr des Bestehens 150.000 Freiwillige, die rund fünfzig Millionen Mal dabei geholfen haben, Galaxien auf Fotos zu klassifizieren.
Beteiligungs- und "kollegiale" Projekte
Bei der Partizipation von Laien lassen sich zumindest grob verschiedene Ausprägungen und Abstufungen unterscheiden. "Bei Beteiligungsprojekten helfen Bürger weitgehend bei der Datensammlung. Die Initiatoren sind aber Berufswissenschafter und die Bürger übernehmen eine bestimmte, abgegrenzte Aufgabe", sagt Holocher-Ertl. Dies könne sich auf reine Sammlung von Daten beschränken, bei anderen Projekten wie Galaxy Zoo inkludiert das auch die Unterstützung bei der Analyse von Bildern: "Das ist eines der größten und auch Vorzeigeprojekte in diesem Bereich, und hat damit Attribute eines typischen Beteiligungsprojektes."
Wenn Bürger dagegen aus Eigeninitiative zu Forschern werden, könne man das "kollegiale Projekte" nennen, bezieht sich Holocher-Ertl etwa auf die Natural History Associations im anglo-amerikanischen Raum, bei denen sich Bürger selbstständig organisieren um ihre eigene Kultur, Geschichte und dergleichen zu untersuchen. Hier liege der Fokus stark auf der Untersuchung einer Forschungsfrage, wobei die Bürger die Wissensproduzenten sind. "Sie betreuen den wissenschaftlichen Prozess, stellen selbst die Forschungsfragen, sammeln dazu die Daten, machen die Analyse - und die Berufsforscher sind dann ausschließlich bei der Validierung dieses Wissens involviert", so Holocher-Ertl.
Eine andere Gruppe von Citizen Science-Projekten gehe von der Beantwortung einer Forschungsfrage als Auslöser überhaupt weg. Das sei etwa der Fall, "wenn Bottom-up-Initiativen oder Grassroots-Bewegungen Forschung heranziehen um für Ihre Interventionen noch eine wissenschaftliche Basis zu haben, wenn die Forschung Kontrollaufgaben übernimmt oder dabei hilft diese Intervention noch effizienter zu gestalten". So geschehen etwa im Gefolge der von BP verursachten Ölpest im Golf von Mexiko 2010, als mangels offizieller Daten zum Ausmaß der Verschmutzung Bürger gemeinsam mit Forschern dazu Bilder wie auch Messungen sammelten: "Hier agiert die Forschung zur Unterstützung gesellschaftlicher Anliegen", so Holocher-Ertl.
Mehr als Naturbeobachtung
Projekte, an denen sich Bürger wissenschaftlich beteiligen, fallen sehr oft in den Bereich der Naturbeobachtung im weitesten Sinne. Peter Finke, ehemaliger Professor für Wissenschafts-, Sprach- und Kulturtheorie an der Universität Bielefeld und nunmehr unter anderem Buchautor zum Thema Citizen Science sieht in dieser "überzogenen Konzentration auf biologische und naturbezogene Fragestellungen" einen Fehler. Diese Überbetonung liege einerseits am tatsächlichen Druck durch die schwindende Biodiversität, andererseits aber auch an der Erkenntnis von "Profibiologen", dass sie ohne die engagierten Bürger auf verlorenem Posten stehen würden. Umgekehrt warnt Finke in seinem Gastkommentar davor, nur noch "Citizen Science light" wahrzunehmen, also von Profis organisierte Bürgerbeteiligung an Forschung, die letztlich hauptsächlich die Profis selbst interessiert. Denn dabei bleibe die große wissenschaftstheoretische Bedeutung anderer Herangehensweisen an Fragen, "die die Menschen wirklich interessieren", unerkannt.
Spaten, Sterne und Vögel
Über mangelndes Interesse der Bevölkerung können sich die österreichischen Archäologen nicht beschweren. Knapp zwei Drittel der Österreicher wollen bei archäologischen Forschungen mitmachen, hat eine in Kooperation zwischen der Universität Wien und der Prifysgol Bangor University (Wales) erschienene Studie ergeben. Diese Mitarbeit ist im Wesentlichen durchaus willkommen, wie etwa die Stadtarchäologie Wien mit Verweis auf die seit 1995 "unverzichtbar" gewordenen freiwilligen Helferinnen und Helfer auf ihrer Webseite schreibt: "Das archäologische Erbe Wiens hat die Unterstützung eines breiten Publikums dringend nötig."
Die Reaktionen der Fachwelt auf diese Entwicklung sind aber insgesamt höchst unterschiedlich, konstatiert Jutta Leskovar vom Oberösterreichischen Landesmuseum in Linz. Konflikte löse hier vor allem die sogenannte "Sondengängerszene" aus, die an archäologischen Fundstellen häufig Schaden anrichten würde - bis hin zum Verlust des Objekts. Aus diesem Grund sei hier auch der Begriff "Hobbyarchäologe" zu vermeiden. Verschiedene Initiativen würden seit Jahren versuchen, diese Kluft zu überbrücken.
Selbstverständlich gebe es zahlreiche interessierte Laien außerhalb dieser Sondengängerszene, die sich mit ihrem "enormen Detailwissen" oft in dankenswerter Weise um die Archäologie bemühen würden. Um den Betreuungsbedarf und das Potenzial von dieser Art von Bürgerbeteiligung an archäologischer Arbeit besser koordinieren zu können, "bemühen sich aktuell Kolleg(inn)en von Bundesdenkmalamt, Universität Innsbruck, Akademie der Wissenschaften, Regionalarchäologie Niederösterreich, Bangor University (UK) und Oberösterreichischem Landesmuseum um die Etablierung eines Vereins, dessen Ziel es ist, interessierte Laien an archäologischen Projekten zu beteiligen", so Leskovar.
"Lobby für die Wissenschaft von den Sternen"
Was das allgemeine Interesse der Bevölkerung betrifft, präsentiert sich die Lage bei den Astronomen durchaus ähnlich. Für Alexander Pikhard, Präsident und Mitbegründer der Wiener Arbeitsgemeinschaft für Astronomie (WAA), steht dieses Interesse aber in starker Diskrepanz zum Stellenwert der Astronomie, die im Bildungssystem nur als "Randnotiz" auftrete. Woher, fragt Pikhard, soll der interessierte Forschernachwuchs ohne entsprechende Bildungsanreize kommen? "Zwischen einer breiten, interessierten Öffentlichkeit und den Bedürfnissen der Forschung klafft eine große Lücke", schreibt Pikhard in seinem Gastkommentar. Dieses Manko könnten zum Teil ehrenamtliche astronomische Organisationen wie die WAA wettmachen, indem Menschen mit Freude an der Astronomie diese im Kreis ihrer Freunde, Verwandten und Bekannten weitergeben: "Sie werden zur Lobby für die Wissenschaft von den Sternen."
Wie beim Christmas Bird Count spielen auch in Österreich Hobbyornithologen eine tragende Rolle beim "Vogelbeobachten mit Mehrwert", wie Norbert Teufelbauer, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Vogelschutzorganisation Birdlife, die Beziehung zwischen Vogelkunde und ehrenamtlichen Helfern beschreibt. Der Mehrwert entstehe auf beiden Seiten: "Für die Wissenschaft werden Daten gesammelt, die ohne große Geldmittel sonst nicht aufzutreiben wären, und für den ehrenamtlichen Zähler bleibt das Gefühl, mit einer gerne gemachten Freizeitbeschäftigung gleichzeitig etwas sinnvolles getan zu haben, nämlich zur Erforschung und damit auch zum Schutz der Vögel beigetragen zu haben."
Noch hauptsächlich Einzelinititiativen
Noch sind heimische Forschungsprojekte mit dediziertem "Citizen Science"-Hintergrund insgesamt eher spärlich gesät. Die Plattform "www.citizen-science.at" ist eine der bekanntesten Initiativen, die derzeit acht Projekte beinhaltet, von "Roadkill" bis "Geo-Wiki". Ein weiteres Beispiel ist die erst kürzlich lancierte Modellinitiative zur Bürgerbeteiligung im Bereich der Gesundheitswissenschaften der Ludwig Boltzmann Gesellschaft (LBG). Im Rahmen des Projekts sollen Forschungsfragen zu psychischen Erkrankungen formuliert werden. 2016 folgt ein Ausbildungsprogramm, das Forschern "Open Innovation"-Methoden nahebringt. Was den Ansatz von gängigen bürgerwissenschaftlichen Ansätzen unterscheidet, sei der Anspruch, dass Forschungsfragen und -agenden mit definiert und bestimmt werden können.
Mit "Genom Austria" haben soeben auch das CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Akademie der Wissenschaften und die Medizinische Universität Wien ein gemeinsames Citizen Science-Projekt gestartet. Dabei werden 20 Freiwillige gesucht, die ihr komplettes Genom sequenzieren und ins "Netz" stellen lassen und in weiterer Folge mehr an persönlichen Informationen, Herkunft, Abstammung und potenzielle Gesundheitsrisiken erfahren sollen.
Versuch der Standardisierung
Angesichts der ständig im Fluss befindlichen verschiedenen Ansätze der Bürgerwissenschaft ist ein theoretischer Überbau kein leichtes Unterfangen. Versuche, die dahinter liegenden Prozesse zu identifizieren und zu standardisieren, gibt es aber bereits. Auch im Projekt Socientize war es eines der Ziele, den Mechanismen von Bürgerbeteiligung in Forschungsprojekten auf den Grund zu gehen. Das von der EU-Kommission geförderte Vorhaben hatte laut Projektleiterin Holocher-Ertl zwei Aufgaben: "Auf der einen Seite selbst Citizen-Science-Experimente durchzuführen und dadurch eine technische Lösung dafür zu entwickeln, die auch anderen Experimenten angeboten werden kann." Das andere Ziel war ein Weißbuch, das auf Basis der gesammelten Erfahrungen publiziert wurde.
Die Motivation von Bürgern, zu partizipieren, ist laut Holocher-Ertl zwar unterschiedlich, wenn auch in Befragungen sehr oft durchgeklungen sei, neben dem Eigeninteresse einfach bei Themen mit gesellschaftlicher Relevanz mitmachen zu wollen. Thematisch gebe es für die Bürgerwissenschaft vor allem dort noch Potenzial, wo naturwissenschaftliche mit sozialwissenschaftlichen Phänomenen verknüpft werden und dadurch eine Brückenschlagfunktion einnehmen, "etwa wenn man untersuchen will, wie sich die Entwicklung der Flora und Fauna durch die Gestaltung der Lebensräume der Menschen verändert."
Herausforderungen und Barrieren
Neben Fragen der Qualität von Daten, die von Bürgern generiert werden, liege eine weitere Herausforderung darin, wie man diese in das wissenschaftliche Umfeld re-integriert. "Es gibt dazu noch relativ wenige Prozesse die sagen, wie dieses Wissen, das nur von Bürgern produziert wird, quasi anerkannt wird", so Holocher-Ertl. Auch Fragen des geistigen Eigentums seien noch weitgehend ungeklärt: "Wenn Bürger involviert werden, gehört das Wissen eigentlich allen. Da braucht es neue Regelungen." Dies betreffe wiederum die Bewertung von wissenschaftlichen Karrieren. Während in Österreich der soziale Impakt noch nicht wirklich relevant sei, gebe es in England schon so etwas wie einen derartigen Indikator, der Institute dahingehend bewerte, inwieweit sie in der Gesellschaft einen gewissen Effekt erzielen.
Teil des Forschungsaktionsplans
Auf EU-Ebene beschäftigt man sich bereits intensiv mit dem Ansatz, im Forschungsprogramm Horizon 2020 ist die Involvierung der "Citizens" unter dem Motto "Wissenschaft für die und mit der Gesellschaft" ein Querschnittsthema. Langsam aber sicher gibt es auch in Österreich Bestrebungen, dem dynamischen Feld Citizen Science eine gewisse Struktur zu geben. Das Wissenschaftsministerium (BMWFW) plant derzeit weitere Initiativen in diesem Bereich. Im Rahmen des Forschungsaktionsplans soll dem Thema eines von sechs Schwerpunktfeldern gewidmet sein und auch in den kommenden Leistungsvereinbarungen mit den Universitäten, sowie mit der ÖAW gefördert werden. "Ziel ist eine verstärkte Involvierung der Gesellschaft in die Themen Wissenschaft und Innovation. Parallel dazu soll auch die Ausweitung von Citizen Science an österreichischen Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen vorangetrieben werden", hieß es auf Anfrage von APA-Science aus dem Ministerium.
Von Mario Wasserfaller / APA-Science