"...bis auf seinen Akzent"
Zugegeben, das ist der erste "echte" Text, den ich jemals auf Deutsch zu schreiben versuche, abseits natürlich von jenen peinlichen E-Mails, die ich ab und zu an meinen Vermieter oder verschiedene österreichische Beamte schicke. Und das, obwohl ich von den zwölf Jahren, in denen ich jetzt außerhalb meiner Heimat wohne, fast neun im deutschsprachigen Raum verbracht habe. Erstaunlich, oder?
Ich bitte um Entschuldigung, ich sollte mich zuerst vorstellen - mein Name ist Misha und ich bin, wie Physiker es anekdotenhaft ausdrücken würden, ein "sphärischer Wissenschafter im Vakuum". Wie so viele von uns Akademikern stamme ich nicht aus dem Land, in dem ich als Professor angestellt bin. In der Tat ist Österreich schon meine vierte "Heimat", oder eher das vierte Land, das zu einer Heimat werden könnte (zumindest hoffe ich naiv darauf).
Alles begann damit, dass ich nach dem Universitätsabschluss aus Südrussland nach Berlin umgezogen bin, wo eine Stelle als Doktorand beim Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft schon auf mich wartete. Damals war ich 22 Jahre alt. "Wenn man emigriert, verliert man alles - bis auf seinen Akzent." Die Worte meines Doktorvaters, selbst Einwanderer. Die Spielregeln, die jedem Akademiker bekannt sind, lauten so: Bis man eine feste Stelle an einer Universität bekommt, muss man eine Reihe von befristeten Arbeitsverträgen in verschiedenen Ländern (und oft auf verschiedenen Kontinenten) durchgehen. Man darf nicht vergessen, das ist fast immer eine notwendige, aber fast nie eine hinreichende Bedingung. Am Ende wird nur ein sehr kleiner Teil der ehemaligen Doktoranden - wahrscheinlich noch weniger als ein Prozent - jemals zu Professoren befördert.
Langer Rede, kurzer Sinn, nach meiner Promotion in Deutschland und drei Jahren als Postdoc an der Harvard-Universität an der amerikanischen Ostküste beschloss ich, nach Europa zurückzukehren. Nun wohne ich seit 2014 in Wien und bin Assistant Professor am Institute of Science and Technology Austria (IST Austria) in Klosterneuburg.
Hierbei handelt es sich um ein ganz neues Institut (2019 feiern wir unseren 10. Geburtstag), errichtet mit der Grundidee, das Beste der europäischen sowie nordamerikanischen Forschungssysteme zu vereinen. Solch ein ehrgeiziger Plan hat mich sofort neugierig gemacht, weil ich mir nach meinen Erfahrungen als Doktorand in Europa und als Postdoc in den USA die Vor- und Nachteile beider Wissenschaftssysteme deutlich vorzustellen vermochte. Außerdem ist der Schwerpunkt des IST Austria von Neugier getriebene Wissenschaft, was mir als theoretischer Physiker sehr gefallen hat.
Am IST Austria leite ich eine kleine Arbeitsgruppe, die aus bis zu zehn Doktoranden und Postdoktoranden besteht. Die Forschungsthemen, die mich am meisten begeistern, liegen an der Schnittstelle zwischen Physik der kondensierten Materie und der physikalischen Chemie. Vor allem beschäftigen wir uns mit Quantensystemen, die aus vielen Partikeln bestehen ("viel" heißt in diesem Bereich der Physik "Eins gefolgt von ungefähr 23 Nullen"). Unsere Aufgabe als Theoretiker besteht darin, mathematische Modelle zu entwickeln, die die experimentell beobachtete Bewegung solcher Systeme möglichst genau beschreiben, und dadurch ihre Funktionsweise erklären können. Persönlich finde ich am spannendsten, mit Hilfe eines theoretischen Modells Parallelen zwischen unterschiedlichen Forschungsbereichen (z.B. Physik und Chemie) zu ziehen. Solche Parallelen sind oft unvorhersehbar, aber meiner Meinung nach essenziell für unser Verständnis der Natur.
Was mich an der Forschung als Beruf so sehr fasziniert, ist die Möglichkeit, meine eigenen Fragen zu stellen und zu beantworten, sowie die häufigen Reisen weltweit und die Begegnungen mit interessanten und talentierten Kollegen. So war zum Beispiel die Zeit, die ich im Gebiet von Boston und Cambridge (Massachusetts) verbracht habe, nicht nur für meine vielseitige Entwicklung als Wissenschafter, sondern auch für mein persönliches Wachstum von höchster Wichtigkeit. Im Durchschnitt kann man sich im Vergleich zu anderen Berufen als Wissenschafter viel mehr Unabhängigkeit leisten ("Was ist der Unterschied zwischen einem österreichischen Professor und dem Papst? Der Papst hat einen Chef!"). Manche sagen, eine wissenschaftliche Karriere sei besonders für jene Leute attraktiv, die - wie ich - nie wirklich ganz erwachsen geworden sind und frei schalten und walten wollen. Mag sein.
Andererseits ist die gegenwärtige Wissenschaft stark umkämpft, und viele Forscher opfern ihre Freizeit sowie das gesunde Verhältnis zu ihren Familien und Freunden, um den (in keinem Fall sicheren) Erfolg zu erreichen. Außerdem hängt in der akademischen Welt sehr viel vom Glück ab, und in der Regel können sich Wissenschafter das Land, in das sie umziehen werden, nicht aussuchen. So hatte ich zum Beispiel damals im Frühling 2013 zwei Bewerbungsgespräche: hier beim IST Austria und noch eines in Los Angeles. Solche Unbestimmtheit wirkt sich oft negativ auf die Familie, die Freundschaften und dadurch manchmal sogar auf die psychische Gesundheit der Wissenschafter selbst aus. Doch Forschung als Tätigkeit macht viel Spaß, und persönliche Beziehungen können durch moderne Technologien (wie Chats und Videokonferenzen) enorm erleichtert werden.
Abschließend ist (und dies gehört zu weder Vor- noch Nachteilen, es ist halt so) egal in welchem Land man arbeitet, die derzeitige wissenschaftliche Arbeitssprache immer Englisch. Ich glaube, dass ich bereits bis zum Ende meiner Doktorarbeit insgesamt mehr auf Englisch geschrieben und mehr Vorträge auf Englisch gehalten habe, als auf Russisch in meinem ganzen Leben. Manche Wissenschafter (mich eingeschlossen) sprechen auch zu Hause Englisch, sogar wenn keiner der Partner Englisch-Muttersprachler ist. Obwohl wir also in Österreich wohnen, stoßen viele von uns auf das Problem, die deutsche Sprache zu erlernen und zu beherrschen, natürlich außerhalb solcher österreichischen Redewendungen wie "Bringen's ma bitte eine Melange mit Schlag" (und, natürlich, "Ein Schnitzi ohne Tunke, bitte!", was während Reisen nach Deutschland überlebenswichtig sein kann). Es klingt ein bisschen besser, wenn man sich Weltbürger oder "Expat" anstatt "Mensch mit Migrationshintergrund" oder "Migrant" nennt, aber so oder so gestaltet sich Integration aufgrund von Sprach- und sonstigen Barrieren immer schwierig. Meinerseits kann ich ab morgen allen mit Stolz erzählen, dass meine Deutschkenntnisse nicht mehr nur aus meiner Leidenschaft zum deutschen Hip-Hop stammen, sondern nun auch aus dem Verfassen solcher Gastkommentare.