Was auf den Tisch kommt ...
Das gemeinsame Mittag- oder Abendessen mit der gleichen Mahlzeit für alle funktioniert kaum mehr in Kleinfamilien, geschweige denn bei mittleren Verwandtentreffen. Allergien, Unverträglichkeiten, Tier- und/oder Klimaschutz, Veganismus, Vegetarismus etc.: Die Ernährung hat sich aus den verschiedensten gesundheitlichen oder gesellschaftlichen Motiven zusehends individualisiert.
Rein monetär gesehen müsste das Thema "Was esse ich?" bei den Österreichern statistisch gesehen kaum auf den Tisch kommen. 1954 musste ein österreichischer Haushalt laut Statistik Austria noch 44,8 Prozent seines Einkommens für Essen und Trinken aufwenden (siehe Grafik). 1964 waren es 34,7 Prozent, 20 Jahre später nur mehr 17,7 Prozent. Dann hat sich die Kurve abgeflacht. Die Konsumerhebung 2009/10 zeigte 12,1 Prozent an. Für die im Herbst erwarteten Zahlen der Analyse 2015/16 kann von einem ähnlichen Wert ausgegangen werden.
Geld ist für die Mehrzahl der Österreicher bei der Ernährung somit kein wirkliches Thema mehr. Die Motive haben sich also verschoben. Ganz weit oben steht dabei die Gesundheit. "Die Österreicher geben weniger Geld für mehr und schlechtere Nahrung aus." Darauf lassen zumindest die vergangenen Ernährungsberichte schließen. Demnach hatte Österreich bei der letzten Ausgabe 2012 ein Gewichtsproblem - wie auch schon zuvor. Bei den Erwachsenen waren demnach etwa 40 Prozent übergewichtig. Der Befund war naheliegend: es wird zu viel Fett, zu viel Salz und zu viel Zucker konsumiert. Im Herbst 2016 erscheint die nächste Ausgabe. Eines konnte Hauptautor Jürgen König vom Department für Ernährungswissenschaften der Uni Wien bereits verraten: "Es hat sich nicht viel geändert." Die Erhebung sei jedoch nicht repräsentativ, da sie auf Freiwilligkeit basiere, gesteht er ein.
Eine übergewichtige Welt hungert trotzdem
Österreich hebt sich damit nicht wirklich vom zentralen Ergebnis des "Global Nutrition Report" des Internationalen Forschungsinstituts für Ernährungspolitik (IFPRI) ab. Kurz gesagt: "Die Welt wird dicker." Gleichzeitig nimmt der weltweite Hunger aber kaum ab. "Wir leben in einer Welt, in der es die neue Normalität ist, fehlerhaft ernährt zu sein", so IFPRI-Vertreter Lawrence Haddad.
44 Prozent der Länder mit verfügbaren Daten zeigen demnach ein "sehr ernstes Maß" sowohl an Unterernährung als auch an Übergewicht und Fettsucht unter Erwachsenen - das sind 57 von 129 untersuchten Ländern. "Die Welt ist vom Kurs abgekommen, diesen Trend zu verlangsamen und umzukehren", heißt es zusammenfassend.
Der traurige Befund lautet: "Fast zwei Milliarden Menschen sind demnach fettleibig. Einer von zwölf leidet unter Diabetes. Fehlernährung ist verantwortlich für fast die Hälfte der Todesfälle von Kindern unter fünf Jahren, heißt es weiter." Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen falscher oder unzureichender Ernährung seien enorm. Elf Prozent der Wirtschaftsleistung würden dadurch in Asien und Afrika verloren gehen. Allein durch Über- oder Unterernährung gehe jedes Jahr weltweit mehr Wirtschaftsleistung verloren als durch die globale Finanzkrise zwischen 2008 und 2010.
Falsche Ernährung, Kommunikationsfehler?
Auf den ersten Blick scheint es unverständlich, warum zu viele Österreicher zu viele Kilos mit sich herumschleppen, denn "die Ernährungsempfehlungen sind einfach, sehr konstant und haben sich in den vergangenen Jahren kaum geändert", erklärt Ingrid Kiefer, Leiterin Risikokommunikation bei der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES), gegenüber APA-Science: "Die lebensmittelbasierten Empfehlungen stehen seit Jahren und ändern sich kaum". Die einzige Ausnahme ist laut der Wissenschafterin der Fischkonsum. Da wurde nachgebessert, um der Nachhaltigkeit und der Ökologie mehr Raum zu geben.
Die Botschaften sind also einfach, sie an den Mann zu kriegen scheinbar jedoch weniger. "Die allgemeinen Empfehlungen beinhalten verständlicherweise keine Heilsversprechen. Viele Ernährungs- und Foodtrends implizieren jedoch genau das (siehe: "'Sündensteuer' und 'Nährwerttempel': Staatliche Eingriffe sind umstritten"). Darauf reagieren die Menschen häufig stärker als etwa auf die simple Aufforderung, mehr Obst zu essen", erklärt Kiefer.
Trend der vergangenen Jahre war in der Regel, in die Nahrungsmittel mehr als nur den reinen Nährwert hineinzuverpacken. Das nimmt jetzt laut Kiefer wieder ab. Es gehe jetzt wieder mehr hin zur Klarheit, lautet ihr Attest. Viele der derzeitigen Trends und Moden orientieren sich außerdem zusehends an gesellschaftlichen Gegebenheiten und Fragestellungen (Nachhaltigkeit, Ökologie, Gesundheit, Umwelt-, Tierschutz usw.): "Seht, wie ich mich ernähre" wird vermehrt zu einem gesellschaftlichen Statement.
Neue Ernährungsstile brauchen angepasste Empfehlungen
So haben sich zum Beispiel viele Veganer oder auch Vegetarier für ihre Ernährung u.a. aus Tierschutzgründen entschieden. Ernährung ist damit auch Distinktionsmerkmal und dient als Identifikationsbasis. "Das wird sich in den nächsten Jahren weiter verstärken", glaubt Kiefer. Auch deswegen, weil die Lebensmittelwirtschaft Veganer, Vegetarier und Co. als Zielgruppe längst ausgemacht hat. Das Angebot wird breiter, der Zugang zu den entsprechenden Lebensmitteln leichter. Das spiegelt sich in sämtlichen Supermärkten wider. Kiefer: "Diese Schiene werden wir nicht so schnell verlassen."
Damit ist auch die Wissenschaft und die Ernährungskommunikation gefordert. Es dürfe zu keiner Stigmatisierung dieser Ernährungsprioritäten kommen. "Die Empfehlungen müssen die neuen Ernährungsbedürfnisse berücksichtigen und Alternativen aufzeigen, damit es zu keinen Mangelerscheinungen kommt", erläutert die Ernährungswissenschafterin.
Insgesamt habe sich die Wahrnehmung vieler Konsumenten geändert, so gebe es mehr Risikobewusstsein beispielsweise bezüglich Inhaltsstoffen. Das zeige sich unter anderem daran, dass "clean eating" - möglichst unverarbeitete Produkte zum Selbstzubereiten - vermehrt in der Diskussion auftauche. "Da müssen sich vor allem die Convenience-Anbieter neues einfallen lassen, obwohl es wirtschaftlich noch nicht bei ihnen angekommen ist", meint Kiefer
Kommunikation auf die Ansprechpartner abstimmen
Dass die einfache Empfehlung nicht überall effektiv ankommt, zeigt sich auch an dem Fakt, dass sich unterschiedliche soziodemografischen Gruppe unterschiedlich ernähren. Erhebungen haben gezeigt, dass weniger bildungsaffine Personen ernährungsphysiologisch schlechter essen. "Das ist eine Zielgruppe, die in der Ernährungskommunikation und -prävention ganz bewusst und direkt angesprochen werden muss", so Kiefer. Das verlange aber neue Wege der Kommunikation. "Mehr Bilder oder Videos: Die werden noch eher angeschaut als Texte, die schnell als zu lang und komplex wahrgenommen werden", schlägt die AGES-Mitarbeiterin vor.
Aber wie erreicht man mit Aufklärungsarbeit so viele Menschen wie möglich? Sie muss schon bei den Kindern beginnen, ist einer der Kernsätze der vergangenen Jahre. "Man muss sie dort abholen, wo sie sind: im Kindergarten, in der Schule (siehe: "Gesundheitsförderliche Ernährung als Herausforderung"), meint Kiefer. In der Erhebung "Future Foods", wo Wissenschafter gemeinsam mit Bürgern Empfehlungen und Forderungen an eine künftige Ernährungs- und Nahrungsmittelpolitik erarbeitet haben, war der zentrale Wunsch der einer verstärkten Aufklärung und Bildungsarbeit in Kindergärten und Schulen (siehe: "Führerschein für die Schulpause").
Ernährungsbildung kann für Kiefer nicht früh genug beginnen, denn bereits in der Schwangerschaft werden die Geschmackspräferenzen des Kindes vorgeprägt. Da Schwangere hierzulande ständig Kontakt zu Ärzten haben, kommt den Medizinern eine wichtige Rolle in der Ernährungsaufklärung zu. Außerdem seien die betroffenen Frauen in dieser Zeit sehr offen für Ernährungsfragen. Da könne man sehr viel machen. Die AGES hat gemeinsam mit dem Gesundheitsministerium und dem Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger das Projekt "Richtig essen von Anfang an" lanciert, das beratend genau auf dieses Zeitfenster abzielt.
Risikokommunikation: Suche nach den richtigen Worten
Kiefer gesteht zu, dass es bezüglich Ernährung oft nicht einfach ist, wissenschaftliche Daten zu vermitteln. Der wissenschaftliche Diskurs wird ihr zu oft und zu viel in den Massenmedien abgehandelt. Als Beispiel nennt sie das jüngere Thema "Arsen im Reis", das durch sämtliche medialen Kanäle geschleift wurde - oft sehr einseitig. "Was ist in so einem Fall unsere Aufgabe?", so Kiefer, "Arsen ist ein Gift - kein Thema. Wir sehen uns dann an, wie viel Arsen eigentlich wirklich im Reis ist. Dann wird anhand von Verzehr-Statistiken geschaut, ob es eine Hochrisiko-Gruppe gibt? Da stellte sich schließlich heraus, dass die derzeitige Situation für Erwachsene kein Problem ist, für Babys hingegen schon." Man stellt also Dosis und Exposition gegenüber und ermittelt, für wen wird es wann gefährlich.
"Es gibt kein 'Schwarz-Weiß'. Kein Lebensmittel, kein Inhaltsstoff ist nur gut oder nur böse. Es läuft darauf hinaus, dass jedes Nahrungsmittel positive wie auch negative Eigenschaften hat. Gesund oder nicht gesund hängt immer vom Gesamtpaket "Ernährung und Lebensstil" ab", ergänzt Jürgen König von der Universität Wien.
"Die Banane zum Beispiel hat ein höheres kariogenes Risiko als Schokolade. Trotzdem wird man nicht vom Verzehr von Bananen abraten, dazu bieten sie zu viele Vorteile. Letztlich muss man als Ernährungsberater herunterbrechen, was wissenschaftliche Ergebnisse für den Endkunden bedeuten. Bei Kaffee, um den ja immer wieder wissenschaftlich gestritten wird, heißt das schließlich, zwei- bis drei Tassen sind unbedenklich, nicht zu heiß trinken und Vorsicht für Menschen, die Probleme mit Koffein haben. Das muss allgemein verständlich und vom Konsumenten leicht umzusetzen sein. Der Ernährungsberater ist somit der Vermittler zwischen Wissenschaft und dem Konsumenten", fasst Kiefer nochmals zusammen.
Leistbares, gutes Essen
Für Haushalte am unteren Ende der Einkommensskala müsse ein leistbares, gesundes Angebot zur Verfügung gestellt werden, erklärt Kiefer zum Punkt soziodemografisch unterschiedliche Ernährungsstile: "Die gesunde Nahrung muss die kostengünstigste werden." König sieht das differenziert. "Soft-Drinks sind in der Regel teurer als Wasser, Fast-Food kostet mehr selber kochen. Jeder - unabhängig vom Haushaltseinkommen - kann sich gesund ernähren, wenn er nur will." Es gehe weniger um die Leistbarkeit, sondern mehr um die Bequemlichkeit, den Faktor Zeit und letztlich auch den Willen.
Gesunde Ernährung sei durchaus für jedermann erschwinglich, verweist König auf eine Feldstudie der Universität Wien. Demnach kostet der Lebensmitteleinkauf nach Österreichischer Ernährungspyramide (ÖEP) rund 18,3 Prozent des monatlichen Haushaltseinkommens. Berücksichtigt wurde dabei der "Bezug einer bedarfsorientierten Mindestsicherung von 827,83 Euro" und ein optimaler Einkauf bei Diskontern.
Würde man sich an die Empfehlungen zum Beispiel für den Verzehr von Fleisch halten, würden die Kosten durch die geringere Menge fallen, argumentiert König weiter. Seltener genossen, könne man dann auch auf teureres höherwertiges Fleisch zurückgreifen. Prinzipiell würde Fleisch massiv teurer werden, versuche man, sämtliche - gerechtfertigte - Forderungen an das Produkt wie etwa artgerechte, ökologische Haltung, Nachhaltigkeit, aber auch Regionalität zu erfüllen. "Das Preis würde sich dann wahrscheinlich mehr als verdoppeln", so König.
Zum beschränkenden Faktor Zeit meint der Wissenschafter: "Letztlich ist es eine Frage der Prioritätensetzung. Wie viel Zeit investiere ich in die Beschäftigung mit dem Essen vom Einkauf bis zur Zubereitung. Die Ernährungskommunikation kann nur Anleitungen geben, umsetzen muss es letztlich der Einzelne."
Trotz aller Anleitung zeigen Ernährungs- und Gesundheitsberichte ein ums andere Mal, dass die Österreicher sich ungesund ernähren plus zu wenig Bewegung. Da stellt sich die Frage, ob und wie steuernd (Verbote, Gebote, Steuern, Incentives, freiwillige Initiativen, Ampelsysteme und andere Kennzeichnungssysteme etc.) eingegriffen werden soll. Die Mehrzahl der neutralen Beobachter (siehe: "Süße Frage", "Essverhalten: Subtile Korrekturen lenken Schiff kaum um") macht in den Diskussionen zumeist eine Pattsituation aus.
Alte Forderungen in neuen Zeiten
Zurück zum Projekt "Future Foods": Dabei sticht hervor, dass viele der Punkte, die herausgearbeitet wurden, schon in den 1970ern- und 1980ern formuliert wurden: Regionalität, mehr Ökologie bezüglich Transport und Verpackungen, Arten- und Sortenvielfalt im Angebot etc. (siehe: "Intensivere Landwirtschaft soll die Welt ernähren"). Diese Forderungen von dem damals schon "Umweltbewegten" sind längst in der Mitte angekommen, wie das Projekt einmal mehr zeigt.
Dass diese Motive die Kunden weiterhin bewegen, legen den Schluss nahe, dass diesbezüglich vonseiten der Politik, aber auch den Produzenten immer noch zu wenig bewegt wurde. "Das gilt zumindest für die Wahrnehmung unserer Studienteilnehmer. Diese Punkte waren für sie ein Riesenthema. Das unterstreicht, dass die Stakeholder weiter an diesen Themen dranbleiben müssen", so Projektleiterin Kiefer. "Aber das war ja auch das Ziel des Projekts, Empfehlungen Stoßrichtungen und Forderungen an die Politik, die Wirtschaft aber auch die Wissenschaft zu formulieren."
Von Hermann Mörwald / APA-Science