"Soziale Beziehungen als Rückgrat im Alter"
Wir werden in Zukunft mehr ältere Menschen haben. In 40 Jahren wird es doppelt so viele 60-Jährige wie Neugeborene geben. Aber die ältere Generation war noch nie so gesund und so gut ausgebildet wie heute. Die Lebenserwartung für neu geborene Mädchen liegt heute bei rund 83 Jahren, für Buben bei mehr als 77 Jahren. Das sind nicht nur zusätzliche Jahre, sondern wirklich gewonnene Jahre, weil es aktive Jahre sind: Wer heute 60 wird, ist biologisch im Schnitt fünf bis sechs Jahre jünger als ein 60-Jähriger vor 30 Jahren.
Die demografische Alterung ist nicht nur ein Resultat der Baby-Boom-Generation, es handelt sich hier um einen globalen Trend. Dank des Rückgangs der Säuglings- und Kindersterblichkeit sowie der Fortschritte in der Geriatrie haben die Menschen in den industrialisierten Ländern im Durchschnitt 25 Lebensjahre hinzugewonnen. Dies entspricht annähernd der über die vergangenen 5.000 Jahre zugenommenen Lebenserwartung. Es sind sowohl biologische als auch Umweltfaktoren, die unsere Langlebigkeit bestimmen. Zu den Umweltfaktoren gehören etwa ein entsprechender Lebensstandard, Ernährung und Hygiene. Zwar war es auch in früheren Epochen möglich, dass Menschen ein hohes und sehr hohes Alter erreichten, aber erst im späten 20. Jahrhundert wurde das hohe Alter zu einer erwartbaren Norm für eine Mehrheit der Bevölkerung. Arthur Imhof beschreibt diese Entwicklung als eine von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit.
Welche Auswirkungen hat eine so "alternde Welt"? Die öffentliche Diskussion ist sehr häufig weniger durch eine sachliche Auseinandersetzung bestimmt als durch Argumente, die auf eine Altersangst hinweisen. Da ist erstens die Angst, dass die bestehenden Gesundheitssysteme die wachsende Zahl an pflegebedürftigen Älteren nicht verkraften (Stichwort: Kompression der Morbidität). Zweitens wird als Folge der ungünstigen Relation von Erwerbstätigen und Pensionierten ein ökonomischer Kollaps erwartet. Als Folge wird ein Generationenkonflikt zwischen der erwerbstätigen Bevölkerung und den Betagten vermutet (Stichwort: Längere Lebensarbeitszeit + Lebensbegleitendes Lernen). Eine dritte Gefahr wird im Strukturwandel der Familie gesehen. Vermutet werden schwächere emotionale Familienbeziehungen und damit eine Unterversorgung der älteren Familienmitglieder (Stichwort: Solidarität).-Schließlich würde die Überalterung der Gesellschaft zu wirtschaftlicher Stagnation führen (Stichwort: Produktivität im Gesundheits- und Sozialsektor).
Wohlbefinden im Alter ist deutlich von der Qualität der Sozialbeziehungen abhängig. Bis in die 1960er-Jahre wurde von einer Abschwächung der sozialen Integration älterer Menschen ausgegangen. Die Disengagement-These wies darauf hin, dass die Gesellschaft den alternden Menschen zunehmend von Rollen entbinde und der alternde Mensch selbst motiviert sei, soziale Rollen aufzugeben. Gemeint war damit der Wegfall berufsbezogener Beziehungen, der allmähliche Verlust von Verwandten, Freunden und Bekannten. Demgegenüber haben Modelle, die unter dem Titel "Aktivitätstheorie" bzw. "Kontinuitätsthese" bekannt geworden sind, erklärt, dass im Alter eine weitgehende Beibehaltung sozialer und familialer Beziehungen gegeben sei. Eventuelle altersbedingte Verluste sozialer Rollen würden durch die Übernahme neuer Rollen kompensiert.
Soziale Beziehungen bilden jedenfalls das Rückgrat für gesellschaftliche Integration, für die Lösung von Aufgaben, für kulturelle und Freizeitaktivitäten. Befriedigende Kontakte zu anderen Menschen heben das Selbstwertgefühl besonders dann, wenn die Kontakte oder Beziehungen geeignet sind, die Selbstständigkeit und Wirksamkeit der älteren Menschen zu fördern. Gute soziale Einbindung und soziale Wirksamkeit älterer Menschen kann insbesondere dort erreicht werden, wo die bestehenden sozialen Beziehungen durch emotionale Nähe, Intimität, Vertrauen und Gegenseitigkeit gekennzeichnet sind. Menschen, die zu Personen besonderen Vertrauens Zugang haben, leben länger. Von anderen "gebraucht" bzw. geachtet und anerkannt zu werden, ist ein ganz entscheidender Antrieb im späten Leben.
Die Lebensqualität im Alter ist weiters sehr deutlich vom Gesundheitszustand beeinflusst. Ein Charakteristikum der Erkrankungen im Alter ist die Multimorbidität (gleichzeitiges Vorhandensein mehrerer zu behandelnder Krankheiten): Bei über 70-Jährigen können drei bis neun Krankheiten gleichzeitig erwartet werden. Das Auftreten von typischen geriatrischen Syndromen wird vor dem Hintergrund von Multimorbidität als "Frailty" bezeichnet und bedeutet Gebrechlichkeit, Hinfälligkeit und Pflegeabhängigkeit. Trotz dieses medizinischen Faktums der Multimorbidität und dem demografischen Faktum der längeren Lebenserwartung können nicht unmittelbar negative Auswirkungen auf die Pflege und Betreuung im Alter abgeleitet werden. Das liegt einerseits daran, dass sich ältere Menschen trotz diagnostizierter Krankheiten im Alltag nicht durchgehend eingeschränkt fühlen und andererseits daran, dass nach wie vor ein hohes innerfamiliales Solidaritätspotenzial gegeben ist. Rund zwei Drittel aller 60- und Mehrjährigen werden im Falle längerer Krankheit von Angehörigen betreut, der Rest wird etwa zu gleichen Teilen von sozialen Diensten bzw. nach eigenen Angaben von niemandem betreut. Nicht-verwandte Betreuungspersonen (Freunde/Bekannte) spielen eine geringe Rolle. Aufgrund der demografischen Entwicklung wird die rein quantitative Verfügbarkeit von familialen Betreuungspersonen mittleren Alters aber in Zukunft absinken.
Auf der individuellen Ebene ist die Selbstbestimmung die zentrale Herausforderung sozialer Wohlfahrt im Alter. Diese Frage ist eng mit der Würde des Alters verbunden. Hier ergeben sich besondere Herausforderungen hinsichtlich des 4. Lebensalters. Während die Freiheit des Handelns und des Willens im 3. Lebensalter gut möglich ist, ist diese Situation im 4. Lebensalter wesentlich schwieriger. Sie ist schwieriger, wenn kognitive und körperliche Einschränkungen gegeben sind, die Schutz und Unterstützung verlangen. Hier braucht es eine neue Sorgekultur, die auch die Selbstbestimmung neu definiert. Eine Sorgekultur für Menschen, die auf andere zur Herstellung und Sicherung ihrer Würde angewiesen sind, braucht ein ausbalanciertes Würdekonzept. Wird hier nur von der Autonomie des Individuums ausgegangen, kann das zu einer Überforderung führen und letztlich zu Selbstschädigungen. Ein ausbalanciertes Würdekonzept lässt die autonome Entscheidung als Ausdruck individueller Stärke zu, aber ermöglicht es auch, sich in die Verantwortung anderer zu begeben, und zwar mit der Zuversicht, man sorge sich in Respekt vor mir um mich.