"Altern ist keine Sache des Einzelnen"
Die sogenannte alternde Gesellschaft veranlasst zahlreiche Kommentator_innen apokalyptische Katastrophenszenarios an die Wand zu malen. Gewarnt wird, zum Beispiel, vor der "tickenden Zeitbombe", die mit einem "Heer" von zu erhaltenden Pensionist_innen sowie einer nicht zu bewältigenden Anzahl von Pflegebedürftigen einhergehen soll. Ob und inwiefern eine älter werdende Gesellschaft ein Problem darstellt, ist allerdings nicht naturgegeben, sondern hängt von gesellschaftlichen Entscheidungen zum kollektiven Zusammenleben ab.
Aufgrund eines gesünderen Lebens und Arbeitens, niedrigerer Sterblichkeit in jüngeren Jahren, sowie medizinischen und technologischen Fortschritts ist die Lebenserwartung in Europa (und nicht nur hier) in den letzten Jahrzehnten stark gestiegen. Verbunden mit einer niedrigeren Geburtenrate, die durch Immigration nur teilweise ausgeglichen wird, bedeutet dies, dass unsere Gesellschaft im Durchschnitt älter wird. Viele der vergleichsweise geburtenstarken Jahrgänge der 1950er und 1960er Jahre (die sogenannten Babyboomer) werden in den kommenden 20 Jahren ein Alter erreichen, in dem die Wahrscheinlichkeit Pflege und Betreuung zu benötigen, signifikant steigt. Ob und inwiefern dies allerdings zu Engpässen in der Organisation und Bereitstellung von Pflege führt, und ob die genannten Katastrophenszenarien eintreffen, ist eine zutiefst soziale Frage, auf die mit gesamtgesellschaftlichen Diskussionen und Entscheidungen reagiert werden muss.
Was es bedeutet alt zu sein, ist keine Frage, die anhand der Anzahl der bereits gelebten Jahre zufriedenstellend beantwortet werden kann. Dem erlebten Alter wird vielmehr durch gesellschaftliche Strukturen, wie dem Bildungssystem oder dem Arbeitsmarkt, oder durch diskursive Prozesse, zum Beispiel in der Werbung, in der Kunst oder in den Medien, Bedeutung verliehen. Auch und gerade durch diese Prozesse wird das höhere Alter häufig mit körperlichen und geistigen Problemen assoziiert und mit einhergehender Abhängigkeit von Mitmenschen diskursiv verbunden. Alte Männer und Frauen werden als verletzliche, passive, leidende und abhängige Menschen dargestellt, für die Pflege und Betreuung organisiert und arrangiert werden muss. So wird eine Dichotomie von Passivität und Abhängigkeit auf der einen Seite und der aktiven, jüngeren Bevölkerung auf der anderen Seite konstruiert, was weitreichende Konsequenzen für die Konzeption von Pflege und Betreuung haben kann. Die Verknüpfung von Alter, Abhängigkeit und Passivität führt dann dazu, dass ein zukünftiger Anstieg des durchschnittlichen Lebensalters mit beinahe unlösbaren Aufgaben für die Allgemeinheit assoziiert wird, da in dieser Logik die jüngere Bevölkerung Pflege und Betreuung bereitstellen muss.
Auch das in den Medien und der Populärkultur gerne verwendete Bild der "aktiven Alten" verändert diese Zuschreibungen nur bedingt. Durch die Unterscheidung von aktiv und passiv, von unabhängig handelnden und abhängig pflegebedürftigen alten Menschen werden negative Assoziationen reproduziert. Die auch in der Gerontologie häufig anzutreffende Unterscheidung zwischen dem "Dritten" und dem "Vierten" Alter - ersteres beschreibt die Phase des aktiven Teilnehmens am gesellschaftlichen Leben und letzteres die von Leiden und Pflegebedürftigkeit geprägte letzte Lebensphase - konstruiert die Vorstellung, dass Pflege und Betreuung von einer bestimmten für eine bestimmte Altersgruppe organisiert werden muss. Bedürftigkeit und Abhängigkeit von Mitmenschen sind allerdings keine Kategorien, die ausschließlich auf eine definierte Bevölkerungsgruppe ("die Alten") zutreffen. Vielmehr sind wir alle abhängig voneinander, nur die Art der Abhängigkeit variiert mit den unterschiedlichen Perioden des Lebens.
Durch die Einbettung in eine individualistisch organisierte Arbeitswelt und damit verbundenen Ansprüchen wird allerdings ständig die Unabhängigkeit und Autonomie des Einzelnen gefordert. Ist man abhängig von anderen gilt man als schwach und bemitleidenswert und spielt im täglichen gesellschaftlichen Wettbewerb nur eine marginalisierte Rolle. Während bei Kindern (zumindest ab einem gewissen Alter) und akut Kranken (im Bereich der institutionellen Kurzzeitpflege) zumindest gesellschaftliche Vorkehrungen für die Betreuung und Unterstützung geschaffen wurden, ist Pflegebedürftigkeit im Alter noch immer eine weitgehend individuelle Herausforderung, die vor allem im familiären Verband gelöst wird. Institutionen, denen die finanziellen und personellen Mittel fehlen, können nur einen Bruchteil der erforderlichen Pflege- und Betreuungsleistungen abdecken. Aktuelle gesetzliche Regelungen wie die legale Möglichkeit der Beschäftigung von meist migrantischen 24-Stunden-Kräften zeigen deutlich, dass die Frage von Pflege und Betreuung im Alter eine individuelle (und damit im Familienbereich gelöste) Herausforderung bleiben soll.
Wenn allerdings gegenseitige Abhängigkeiten und Verletzlichkeiten als verbindende menschliche Eigenschaften gesehen und anerkannt werden, wäre eine viel stärkere Integration von Pflege und Betreuung die logische Folge. Vorausschauende Politik müsste demnach eine Integration von derzeit getrennten gesellschaftlichen Bereichen fördern. Dies könnte in einer Unterstützung kollektiver Lösungen, wie generationenübergreifender Wohnformen, einer viel stärkeren Integration von professioneller Pflege und informeller Betreuung durch Angehörige, Freunde, Nachbarn oder Freiwillige und der Infragestellung einer individualistischen, ausschließlich im Sinne des Marktes operierenden Arbeitswelt münden. Die politische und soziale Herausforderung besteht demnach weniger im Umgang mit dem Alter, sondern vielmehr im Umgang mit menschlichen Eigenschaften: unsere Verletzlichkeiten, unsere Bedürfnisse und unsere gegenseitigen Abhängigkeiten. Wenn sowohl die Abhängigkeit von anderen, also auch die Betreuung und Pflege von Abhängigen als natürliche Begleiter des Lebens begriffen werden, und die Dichotomien von unabhängigen Aktiven und abhängigen Passiven aufgebrochen wird, kann Pflege und Betreuung in alle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens integriert werden. Die alternde Gesellschaft stellt dann kein Katastrophenszenario, sondern eine sich weiter entwickelnde Gesellschaft dar.