Die Epoche des Alterns
Die Welt wird älter, was besonders auf Industrieländer wie Österreich zutrifft. Das bringt mannigfaltige Herausforderungen und Chancen für die Arbeitswelt, den Gesundheitsbereich, die Sozialsysteme aber auch Technik und Wissenschaft mit sich.
Doch alt ist nicht gleich alt. Es braucht eine neue Definition des Alterns und des Alters, meint dazu der Demograf Sergei Scherbov, Leiter des World Population Program am International Institute for Applied Systems Analysis (IIASA) in Laxenburg (NÖ). Die Schwelle liege traditionell bei 65 Jahren, jeder darüber gelte als alt. Das berücksichtige jedoch nicht die medizinischen, sozialen und regionalen Entwicklungen der längeren und jüngeren Vergangenheit.
Ein derzeit 65-jähriger Mensch ist nicht zu vergleichen mit einem von vor 50, 100 oder gar 150 Jahren. Er hat in der Regel noch mehr Lebenszeit vor sich, ist gesünder, meist körperlich fitter und die kognitiven Fähigkeiten im höheren Alter sind besser als in der Vergangenheit.
Scherbov plädiert daher dafür, zu berücksichtigen, wie viele Jahre jemand durchschnittlich noch leben wird. "Wenn man Menschen nicht einfach als alt einschätzt, nur weil sie bereits 65 sind, sondern ihre weitere voraussichtliche Lebenszeit berücksichtigt, dann bedeutet ein Anstieg der Lebenserwartung tatsächlich aber eine geringere Alterung", erklärt der Bevölkerungswissenschafter.
Gesellschaft altert doch nicht so schnell
Die IIASA-Forscher schlagen vor, als Ausgangspunkt die Lebenserwartung heranzuziehen. Wird angenommen, eine Person gilt als alt, wenn ihr noch 15 Jahre bis zum durchschnittlichen Lebensende bleiben, so galt in den 1970ern noch der Wert 65 Jahre, heutzutage liegt er eher bei 70 bis 72 Jahren. "Wendet man das zur Einschätzung von Alter an, führt das zu einer langsameren Alterung der Bevölkerung", so Scherbov. Das legt für ihn den Schluss nahe, dass Menschen dann aufgrund ihrer besseren physischen und kognitiven Gesundheit länger im Arbeitsprozess verbleiben könnten. Unterlege man diese Überlegung würden die Prognosen für die Zukunft des Wohlfahrtsstaates nicht ganz so düster ausfallen wie derzeit, meint Scherbov.
Dass das Pensionsalter also hinaufgesetzt werden muss, ist für die Wissenschafter des IIASA aber nicht unbedingt in Stein gemeißelt. In einem Artikel in "Demographic Research" aus dem Jahr 2014 kommen die Forscher zu dem Schluss, dass, wenn es gelingen würde ein bis zwei Prozent mehr Personen in den Arbeitsmarkt zu integrieren, das Pensionsalter um ein Jahr sinken könnte, ohne damit die arbeitende Bevölkerung finanziell stärker zu belasten. Die Politik sollte daher auf Strategien zur Schaffung von Arbeitsplätzen und weniger die Erhöhung des Pensionsantrittsalters setzen, die durchgehend als unpopulär wahrgenommen wird, so Scherbov.
Die politisch Verantwortlichen gefordert sieht auch Ex-Wifo-Chef Helmut Kramer, Vorstand der Österreichischen Plattform für Interdisziplinäre Alternsfragen (ÖPIA). Gleichzeitig ist für ihn eine sukzessive Erhöhung des Pensionsantrittsalters im Gegensatz zur IIASA-Theorie ein notwendiger Schritt.
"Jedenfalls genügt es nicht, der Bevölkerung zu versichern, man habe alles im Griff und die Pensionen sind sicher'. Das ist Unsinn, weil ja nicht dazu gesagt wird, in welcher Höhe, aber auch, weil es nicht nur ausschließlich um die Pensionen geht", meint Kramer gegenüber APA-Science. Vonseiten der Politik würden die Warnungen der Experten zurückgewiesen: "Man möge doch die Bevölkerung nicht unnötig beunruhigen und nicht schlafende Hunde wecken." Die Bevölkerung ist laut Kramer bereits beunruhigt und auf schmerzhafte Abstriche gefasst.
"Feuerwehrmaßnahmen" sind zu wenig
Die Entscheidungsträger beschränken sich seiner Meinung nach wegen der allgemeinen Verunsicherung oft auf kurzfristig orientierte "Feuerwehrmaßnahmen" mit Provisorien oder auf das Hinausschieben von tiefer gehenden Korrekturen. Auf längere Sicht würden unbequeme Reformen und Kursänderungen jedoch unumgänglich sein.
Rein rechnerisch sei mit den bisher gültigen Reformmaßnahmen die Finanzierung des Sozialsystems nämlich keineswegs gesichert. Für Kramer scheint daher als besonders wichtiger und logischer Schritt eine Anpassung der Pensionsansprüche an die steigende Lebenserwartung vertretbar, "weil ja sonst der alternsbedingte Mehraufwand automatisch noch weiter steigen würde."
Generationenkonflikt nicht ganz ausgeschlossen
In der Diskussion über das höhere Pensionsalter wird oft auch gewarnt, dass es zu einem Generationenkonflikt kommen kann. Die Meinungen dahingehend gehen weit auseinander. "Die Gefahr ist zweifellos gegeben, auch wenn dies alle Altersstufen vermeiden wollen und Solidarität zwischen Jung und Alt vorziehen", meint Kramer.
Zwei sehr bedeutende Anlässe könnten laut dem Wissenschafter zu Spannungen führen: Erstens hat sich seit Ausbruch der Krise das Wirtschaftswachstum stark abgeschwächt, was zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit geführt hat. Zweitens muss ein rückläufiger Anteil von Menschen im erwerbsfähigen Alter eine steigende Anzahl von Menschen, die Ansprüche auf Finanzierung des Ruhestands erworben haben, erhalten. Die bisherigen Maßnahmen, die auf ein längeres Verbleiben in der Erwerbsarbeit abzielen, genügen nicht. Aber weitere Schritte zur Steigerung des Arbeitsangebots (höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen, Hinaufsetzen des faktischen Pensionsantritts, "aktiv altern", Immigration) begegnen zunehmendem Widerstand.
Wissensverlust durch den Abgang Älterer
Ein Argument für den längeren Verbleib im Job von älteren Arbeitnehmern ist der Wissensverlust, der bei deren Ausscheiden droht. Kramer bestätigt das: "Manche nehmen viel wertvolle Erfahrung in den Ruhestand mit und verlieren ihre Kompetenz allmählich durch Mangel an nützlichen Aufgaben. Allerdings gibt es auch den Fall, dass jemand nicht mehr up to date ist und so das Unternehmen belastet. Daher muss Weiterbildung lebenslang betrieben werden." Umgekehrt gebe es zweifellos Fälle, wo ein Abgang eins zu eins durch einen Jungen ersetzt werden sollte, dieser aber vorerst nicht zum Zug kommt. Das sei aber volkswirtschaftlich nicht die Regel.
Übersehen werde meist auch, dass durch den Struktur- und Qualifikationswandel an anderer Stelle neue Nachfrage nach qualifizierten Jungen entstehe. "Ob ein höheres tatsächliches Pensionsalter per Saldo Beschäftigung kostet oder Produktivität bringt, hängt von der Dynamik der Gesamtwirtschaft ab. Es gibt Länder, in welchen der Pensionsantritt deutlich später erfolgt, auf der anderen Seite aber die Jugendarbeitslosigkeit sogar geringer ist als in Österreich. Deutschland, die Schweiz, Südtirol, Vorarlberg sind Beispiele", erklärt Kramer.
Ein Hindernis für viele ältere Arbeitnehmer ist ihr im Vergleich zu den Jungen hohes Einkommen. "Im Moment haben weder Arbeitgeber noch Arbeitnehmer ein besonderes Interesse an längerem Verbleib in aktiver Arbeit. Konsequenz: die Lebenseinkommenskurve in Österreich muss in einigen Schritten deutlich abgeflacht werden. Bei unverändertem Lebenseinkommen müsste sie höher beginnen und niedriger enden", fasst der Altersexperte zusammen.
System an der Kippe
Ein Frage stellt sich immer wieder: "Kippt das Sozialsystem, im Speziellen das Pensionssystem irgendwann, und wenn ja, wann?" Für Kramer ist klar: "Es ist keine Kunst, mit quantitativen Szenarien das Scheitern des Sozialsystems vorauszuberechnen. Es kommt nur auf die in die Rechnung einfließenden Annahmen an." Vergleichsweise kleine Variationen dieser Annahmen können das politisch gewünschte Ergebnis haargenau erreichen oder meilenweit von der tatsächlichen Entwicklung abweichen.
"Die Berechnungen des Pensionsbeirats über die Finanzierung der Pensionen bis 2060, die suggerieren, dass das Pensionsproblem bewältigbar ist, übersehen zwei wichtige Unsicherheiten: Einerseits dürfte der staatliche Sozialaufwand von 2015 bis 2060 nicht gleichmäßig zunehmen, sondern bis in die dreißiger Jahre sogar rascher wachsen, andererseits müssen wir gerade in diesem mittelfristigen Zeitraum mit einer ungewöhnlichen Steigerung der Ansprüche an die öffentlichen Finanzen rechnen. Bis dahin wird der Staatshaushalt neben den Pensionsfinanzen auch noch durch den Mehraufwand für Pflege, Gesundheit, Klima, Sicherheit und durch die Notwendigkeit, die hohe Verschuldung aus der Krisenbekämpfung (einschließlich Hypo-Alpe-Adria) zu bedienen, zusätzlich belastet - und das alles vor dem Hintergrund einer möglicherweise weiterhin schwachen Wirtschaftsentwicklung", rechnet Kramer vor.
Keine Apokalypse
Das ist für ihn kein apokalyptisches Szenario, sondern ein realistisches: "Ich halte es nicht für den Ausdruck von übertriebenem Pessimismus." Die Aufgabe von unabhängigen Experten sei, darauf hinzuweisen, dass es für diese Ballung von Problemen auch recht zielführende Strategien gebe, allerdings nicht ohne fundamentale Überlegungen, wohin sich unsere Gesellschaft entwickeln soll. "Vor der komplexen Herausforderung darf die Politik nicht die Augen verschließen. Sie sollte ebenso erkennen, dass die Lösung der anstehenden Probleme auch Vorteile bringt. So können etwa die Menschen bei besserer Gesundheit längere Zeit ein hochwertigeres Leben führen. Innovationen in Umwelt- und Klimaschutz, die Energieversorgung fördern die Wettbewerbsfähigkeit, damit die Einkommen und die Beschäftigung. Die Qualifikation von geeigneten Immigranten ersetzt knapper werdende Fachkräfte", weist der Forscher auf künftige Chancen hin. Es gehe als nicht nur um zusätzlich Belastungen.
Sein Resümee fällt schließlich hart aus: "Österreich verfügt nicht einmal in Ansätzen über realistische Strategien für die Epoche der Alterung, für die notwendigen Änderungen des Bildungssystems, für die Vermeidung von Generationenkonflikten und erst recht nicht für die Integration von vielleicht 100.000 Flüchtlingen. Die Bundespolitik scheut sachliche Diskussionen und für die Ausarbeitung von fundierten Konzepten hat sie nicht genug Geld."
Pflegeaufwand wird belastender
Neben der Sicherung der Altersversorgung durch das Pensionssystem steigt auch der Mehraufwand - der finanzielle wie auch der physische und psychische - für die Pflege (siehe auch Gastkommentar "Altern ist keine Sache des Einzelnen"). Das bestätigt auch Eva Fleischer, FH-Professorin am Studiengang Soziale Arbeit am MCI Management Center Innsbruck: "Noch immer werden Pflegefälle zu beinahe 80 Prozent von Familienmitgliedern zu Hause betreut - ganz oder in Ergänzung zu entsprechenden Dienstleistungen." Das werde aber bald nicht mehr funktionieren (siehe auch Gastkommentar "Soziale Beziehungen als Rückgrat im Alter").
Das liege daran, dass bekanntlich weniger Kinder zur Welt kommen, dass häufiger Singles durch höhere Scheidungsraten Betreuung benötigen und die fortschreitende Mobilität Familien regional verstreut. So werden Angehörige als Pflegepersonen künftig vermehrt ausfallen. Verschärft werde das weiters durch die steigende Frauenerwerbstätigkeit - Frauen im Berufsalter (zwischen 45 und 64 Jahren) übernehmen immer noch die klare Hauptlast der familiären Pflegearbeit. Diese werden wohl künftig mehr und mehr ausfallen. Dazu trägt laut Fachleuten auch die Pensionsreform bei, die es für berufstätige Frauen ökonomisch unsinnig macht, Angehörige über einen gewissen Zeitraum hinweg zu betreuen: "Diese Zeit fehlt dann bei der Pensionsberechnung", so Fleischer.
Die höhere Lebenserwartung macht verschiedene Szenarien denkbar. Eines lautet: Damit nimmt auch die Zeit der Pflegebedürftigkeit zu mit allen ihren sozialen und ökonomischen Implikationen - warum auch Biogerontologen daran forschen, Menschen länger gesund und selbstständig zu halten (siehe auch "Biogerontologie: Gesund altern statt kränkelnd immer älter"). Das zweite geht davon aus, dass unsere Lebenserwartung bei guter Gesundheit steigt und der Mensch daher nicht länger Pflege braucht.
Gesundes Altern korreliert mit sozialem Status
"Eines hat sich jedoch bereits gezeigt: Die Dauer der Pflegebedürftigkeit hat sich in den vergangenen Jahrzehnten erhöht. Fünf, sechs Jahre sind jetzt schon normal", so Fleischer. Das hänge aber stark mit dem sozioökonomischen Hintergrund zusammen. Da müsse man dann in verschiedenen Gruppen gezielt hinschauen. "Nicht alle gehen fit in Pension. Da gibt es schon berufs- und schichtspezifisch markante Differenzen", erklärt die Wissenschafterin. So würden sehr häufig Personen aus niederen Einkommensgruppen mit körperlich belastenden Berufen mit eingeschränkter Gesundheit den Ruhestand antreten. Demgegenüber stehen Personen, die gut verdient haben und "mit 80 noch eine Weltreise machen".
Die, die auf mehr Ressourcen zugreifen können, würden zudem eher entsprechende Dienstleistungen zukaufen, "und tun dies auch in der Regel". Die soziale Lücke klaffe also zusehends auseinander. Außerdem seien die Systeme (Selbstbehalt, Kosten für diverse Dienste...) in den verschiedenen Bundesländern sehr unterschiedlich. Das treffe meist die unteren sozioökonomischen Gruppen, die sich manches nicht leisten können und vieles weiter selbst erledigen müssen. "Dadurch kommen informell Pflegende schneller an ihre eigenen physischen und psychischen Grenzen. Und bekanntlich haben Pflegepersonen ein erhöhtes Risiko, selbst ein Pflegefall zu werden", sagt Fleischer. Beratung durch Soziale Arbeit könnte hier vorbeugend wirken.
Mehr Bewusstsein schaffen
Für Fleischer muss stark daran gearbeitet werden, dass in der Erwerbsarbeit ein Bewusstsein dafür geschaffen wird, dass es nicht nur in der Kindererziehung, sondern auch in der Pflege ein Vereinbarkeitsproblem gibt. Die Pflegekarenz ist ihrer Meinung nach ein erster guter Ansatz, aber drei Monate seine viel zu kurz, um angesichts steigender Pflegebedürftigkeitszeiten effektiv zu betreuen.
In Betrieben müssten flexiblere Möglichkeiten geschaffen werden - Stichwort Heim- und Telearbeit. "Außerdem sollte unbedingt viel stärker in Sachleistungen investiert werden. Das Pflegegeld reicht einfach nicht", so Fleischer. Der Pflegebedarf sollte mehr darauf abstellen, was der Betroffene tatsächlich braucht. Genau die Dienste bekommen sie dann schließlich. Ebenso plädiert die Expertin dafür, den ambulanten Bereich auszubauen und über neue Wohnformen wie kleinere Einheiten oder Wohngemeinschaften intensiver nachzudenken (siehe auch Gastkommentar "Wie Jung und Alt zusammen passen"). Nicht für jede Tätigkeit der Pflege braucht man außerdem medizinisches Fachwissen. "Das ist nicht rund um die Uhr notwendig. Es sollte also ermöglicht werden, dass - zum Beispiel - auch Hauswirtschaftskräfte Dienste übernehmen dürfen, allerdings zu Bedingungen, die den österreichischen Standards des Arbeitnehmerschutzes entsprechen", meint Fleischer.
Es braucht mehr Angebote
Der Ausbau der Dienste für Pflegebedürftige sei prinzipiell wünschenswert. Das würde zudem zusätzliche Arbeitsplätze schaffen und sei nicht nur "rausgeschmissenes" Geld. Es hätte so auch einen volkswirtschaftlichen Wert und eine vermehrte Altersarmut könne vermieden werden. In der unbezahlten Pflegearbeit steckt laut verschiedenen Berechnungen ein volkswirtschaftliches Volumen von etwa sechs Prozent des BIPs (500 Millionen Arbeitsstunden). Die indirekten Kosten bewegen sich zwischen zwei und drei Milliarden Euro durch entgangene Einkommen, Produktivität und auch Lohnsteuer.
Geändert gehört ihrer Meinung nach außerdem die Trennung zwischen Pflegebedürftigkeit und Krankheit: "Warum wird ein Pflegebedürftiger noch zusätzlich bestraft, wenn er krank wird und den zusätzlich Pflegeaufwand alleine finanziell stemmen muss? Das ist unbefriedigend. Es besteht dringender Handlungsbedarf."
Von Hermann Mörwald / APA-Science