Recruiting von Null bis Eins
Im Kampf um Fachkräfte und Talente ist HR-Technologie mittlerweile ein quasi unverzichtbares Mittel, um rasch auf die veränderte "Candidate Journey" reagieren zu können.
Es gibt ihn, es gibt ihn nicht. Den idealen - oder zumindest halbwegs passenden - Kandidaten für den Job. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu finden, zu überzeugen und zu halten entwickelt sich immer mehr zu einem Kernthema für Unternehmen und Organisationen. Die demografische Entwicklung, neue Berufsbilder und Geschäftsmodelle sowie eine massiv veränderte Mediennutzung führen zu komplexen Herausforderungen: Wie erreiche ich (potenzielle) Kandidatinnen und Kandidaten? Auf welchen Kanälen? Mit welchen Botschaften?
Nicht leichter wird die Aufgabe durch den Trend zur "New World of Work". Flexiblere Beschäftigungsformen ersetzen Vollzeitjobs. Gearbeitet wird im Coworking Space, von unterwegs oder zuhause. Über Plattformen für Crowdsourcing und Clickworking lassen sich Ressourcen für bestimmte Aufgaben temporär zukaufen. Und die Öffnung der Unternehmen nach außen, etwa über Schnittstellen zu Start-ups, schreitet auch voran.
Dazu kommt ein historisch herausstechendes Ereignis: Zwischen 2021 und 2030 gehen die geburtenstarken Babyboom-Jahrgänge ab 1956 in Pension. In Österreich ist Fachleuten zufolge mittelfristig eine Lücke von 200.000 bis 300.000 Personen zu erwarten. Schon jetzt fehlen der heimischen Wirtschaft laut dem Fachverband für Unternehmensberatung, Buchhaltung und Informationstechnologie (UBIT) rund 10.000 hochqualifizierte IT-Fachkräfte (siehe auch "Informatisches Dilemma als Verteilungs- und Betreuungsfrage"). Für Betriebe und Organisationen heißt es daher, neue Wege in den Bereichen Recruiting, Weiterbildung und Knowhow-Transfer zu gehen.
Latent auf Jobsuche
Ein vielversprechender Ansatz ist, Kandidatinnen und Kandidaten anzusprechen, die nicht aktiv Jobs suchen, sich aber bei einem interessanten Angebot vielleicht für eine Stelle bewerben würden. Rund die Hälfte der Österreicherinnen und Österreicher ist zwar mit der derzeitigen Tätigkeit zufrieden, aber dennoch offen für attraktive Herausforderungen, geht aus der Xing Gehaltsstudie 2019 hervor. Recruiter könnten also stärker darauf setzen, latent jobsuchende Personen anzusprechen. Hilfreich dabei sind Reichweite-Boosts wie Social Media und eine leichtere Zugänglichkeit durch mobile Angebote.
Inzwischen kommen auch Systeme zum Einsatz, die das Verhalten von Personen im Internet analysieren und aufgrund dessen einschätzen können, wie wechselwillig jemand ist. In Europa ist das im Hinblick auf den Datenschutz natürlich brisant. Technologie wird außerdem verstärkt genutzt, um die Beschäftigten zu halten. So kann mit Matching-Lösungen herausgefunden werden, ob eine Person zu ihrer jetzigen Position passt oder schon besser zu anderen Stellen, die am Markt stark nachgefragt sind. Dann ist die Gefahr größer, dass die Mitarbeiterin oder der Mitarbeiter das Unternehmen verlässt.
Werte im Wandel
In vielen Bereichen ist inzwischen auch eine Umkehr der Machtverhältnisse zwischen Arbeitgeber und -nehmer zu beobachten. Unternehmen versuchen, ihre Arbeitsplatzangebote etwa durch flexible Arbeitszeiten, Homeoffice, zusätzliche Urlaubstage und Co. attraktiv zu gestalten. Sie reagieren auf den Wunsch der (potenziellen) Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach einer ausgeglichenen Work-Life-Balance, wie eine Umfrage von WIFI Wien und Marketagent.com zeigt. Auch gute Aus- und Weiterbildungsangebote, dynamische Aufstiegsmöglichkeiten, Unterstützung bei der Ansiedelung und Sabbaticals sind gefragt, bestätigen Unternehmen wie Infineon oder Novartis (siehe "Stimmen der Community" auf Seite 24). Langfristig sollen so nicht nur neue Beschäftigte gewonnen, sondern auch bestehende an das Unternehmen gebunden werden.
Geld bleibt zwar immer ein Thema, die Schwerpunkte verschieben sich laut Fachleuten aber zu Freizeit und Familie sowie den Inhalten der Arbeit. So ist jeder zweite Arbeitnehmer in Österreich bereit, für mehr Sinn im Job ein geringeres Gehalt zu akzeptieren. Jeder Zehnte würde dafür sogar den Arbeitsplatz wechseln. Insbesondere jüngeren Generationen liegt dies am Herzen, zeigt die Xing-Studie.
Candidate Journey goes digital
Auch die Candidate Journey im Bewerbungsprozess hat sich deutlich verschoben. Meist wird die Jobsuche auf Google gestartet, von dort aus führt der Weg auf verschiedene Plattformen wie Stepstone oder karriere.at. Anschließend werden auf Bewertungsseiten wie kununu die Arbeitgeber überprüf t und Marktinformationen - etwa über die üblichen Gehälter - eingeholt. Davon hängt die Entscheidung der Kandidatinnen und Kandidaten ab, ob sie sich bewerben oder nicht. Jobsuchende bewegen sich also zwischen den verschiedensten digitalen Plattformen und Kanälen.
Dabei wird es ihnen oft nicht einfach gemacht, wie aktuelle Daten zeigen: Rund 40 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher haben schon einmal einen laufenden Bewerbungsprozess abgebrochen. Bei den heißbegehrten Fachkräften aus IT, EDV und Technik waren es sogar 55 Prozent, ergibt eine Studie von karriere.at und eRecruiter. Fast jeder vierte "Aussteiger" nannte einen zu langen Prozess als einen der Hauptgründe. Gefragt sind demzufolge vor allem eine kurze Reaktionszeit und eine rasche Abwicklung.
Bewerben per One-Click
Deshalb wird es auch immer beliebter, Bewerbungsprozesse über das Handy abzuwickeln. Vor allem die niedrige Hemmschwelle gilt beim mobilen Recruiting als großer Vorteil. Ein Problem ist noch der Medienbruch, wenn zwar am Smartphone nach Jobs gesucht wird, die Bewerbung letztendlich dann aber doch am Computer stattfindet. Auf diesem Weg gehen laut Experten bis zu 90 Prozent der Kandidatinnen und Kandidaten verloren. Abhilfe könnte künftig eine zentrale Stelle schaffen, bei der alle Lebenslaufdaten hinterlegt werden. Das ist derzeit noch nicht in Sicht.
Um die schnelle Abwicklung geht es bei One-Click-Angeboten, die aber durchaus umstritten sind: Zwar lässt sich so die Zahl der Bewerberinnen und Bewerber erhöhen, Motivation und Beschäftigung mit dem Unternehmen und der jeweiligen Stelle sind hier meist aber deutlich geringer.
Am Vormarsch ist auch Social Media Recruiting, weil damit auch nicht aktiv Jobsuchende dort erreicht werden, wo sie viel Zeit verbringen - nämlich auf ihrem Smartphone. Per E-Mail ist die jüngere Generation übrigens teilweise gar nicht mehr erreichbar. Sie kommuniziert inzwischen vor allem über Messenger- Dienste.
Automatisierte Auswertung
Als zartes Pflänzchen gilt in Österreich noch die Bewerbung mittels kurzer Videos. Hier fehlt einerseits der Anschub durch die großen Plattformen und andererseits ist dieser Kanal auch nicht für alle Branchen und Jobs geeignet. Bei Kommunikations- und Dienstleistungs-Berufen kann Bewegtbild durchaus ein vernünftiger Ansatz sein. Die Videos zu sichten und zu beurteilen ist ab einer bestimmten Anzahl aber mühsam. Ein Ausweg, der allerdings Risiken birgt, ist die automatisierte Auswertung nach bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen.
Eher am Anfang steht der Trend zu Talent-Management-Systemen, um sich längerfristig Kandidatenpools aufzubauen und die Karriereverläufe zu verfolgen. Digitale Unterstützung gibt es auch für den wiederkehrenden Personalbedarf, damit die Suche nicht wieder bei Null gestartet werden muss. Neue Entwicklungen gehen in Richtung künstliche Intelligenz (KI) und lernende Systeme, was zu deutlichen Verbesserungen bei Matching-Lösungen führen könnte. Bisher konnten die Erwartungen in diesem Bereich nicht erfüllt werden.
Wie stark sich das Rekrutierungsverhalten der Unternehmen in den vergangenen Jahren verändert hat, zeigt auch die Umfrage vom WIFI Wien. Rund 80 Prozent der Personalverantwortlichen spüren diesen Umbruch und reagieren darauf. 60 Prozent zeigen mehr Präsenz auf Online-Jobportalen und ebenso viele arbeiten stärker am Employer Branding.
Der Wert der Marke
Immer wichtiger im "War for Talents" wird für Unternehmen die Kommunikation nach innen und außen. Dieser Trend zum Employer Branding zeigt sich bereits seit längerem beim Einsatz von Multimedia-Inhalten, um die Firma ins rechte Licht zu rücken. Quasi ein heimisches Urgestein in diesem Bereich ist das bereits 2012 gestartete Unternehmen whatchado. Hier können sich die Betriebe potenziellen neuen Job-Bewerbern präsentieren, indem Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihren Beruf vorstellen. Insgesamt wurden bereits Videointerviews von mehr als 6.000 Personen veröffentlicht.
"Videos in Stellenanzeigen erwecken die Arbeitsplatzkultur zum Leben", so Scott Gutz, Chef des Online-Karriereportals Monster. Anlass war der Start einer App für das Smartphone, mit der Personalverantwortliche und Recruiter sehr schnell Videos für ihre Stellenanzeigen aufnehmen, bearbeiten und veröffentlichen können. So sollen die Vorteile der Stelle, die Unternehmenspersönlichkeit und das Arbeitsumfeld vermittelt werden.
Angriff der Internetriesen
Geht es nach Google, soll die gesamte Jobsuche auf eine Plattform konzentriert werden: "Google for Jobs". Vor kurzem ging das Unternehmen mit seiner Stellenanzeigen- Suche in Deutschland an den Start. Über Suchbegriffe wie "Jobs in meiner Nähe" oder "Softwareentwickler Stellenanzeigen" listet Google im oberen Bereich der Ergebnisse entsprechende Vorschauen auf die Stellenausschreibungen der Partner - von Job-Portalen bis Verlagshäusern - auf. Mit Hilfe von Filtereinstellungen kann die Suche individuell etwa nach Voll- oder Teilzeitjobs, der Wunschstadt oder der gesuchten Branche angepasst werden.
Entwicklern stellt Google eine Anleitung zur Verfügung, wie sie ihre Anzeigen auf ihren eigenen Seiten in die Google-Suche integrieren können. Verleger verweisen bereits auf die Gefahr von Markt-Missbrauch. Letztendlich könnten herkömmliche Jobplattformen dadurch langfristig an Bedeutung verlieren. Dann würde alles über die Suchportale laufen und die Technologie immer stärker in die Unternehmen wandern. HR-Tech wäre dann endgültig unverzichtbar.
Von Stefan Thaler / APA-Science
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"Digitale Talente" sind Mangelware
Gerade einmal sechs Prozent der heimischen Erwerbstätigen gelten als digitale Talente, verfügen also über Expertise in Bereichen wie künstliche Intelligenz (KI), Machine Learning, Datamining, Entwicklung mobiler Apps, Programmieren oder digitales Marketing. Das ergibt zumindest die Studie "Decoding Digital Talent" des Beratungsunternehmens Boston Consulting Group (BCG). Rund 27.000 Digitalexperten und -expertinnen in 180 Ländern wurden dafür in Kooperation mit der Jobbörse StepStone.at und The Network befragt. Mehr als 20 Prozent digitale Talente sind derzeit nur in Schwellenländern wie etwa Indien, Brasilien, Türkei, Iran oder Marokko, aber auch in Italien zu finden.
"Gezielte Ausbildungsprogramme an Schulen und Universitäten sind notwendig, um diese Lücke zu schließen", so BCG-Österreich-Chef Lukas Haider. Daneben sollten Arbeitsgenehmigungen für hochqualifizierte ausländische Arbeitskräfte erleichtert und Expatriates aktiv angeworben werden. Immerhin sei Österreich unter den Top Ten der beliebtesten Arbeitsorte für hochqualifizierte Digitalkräfte aus der EU. Im weltweiten Ranking liege man auf Platz 13. Am begehrtesten sind die USA, gefolgt von Deutschland, Kanada und Australien. Von den heimischen Digitalexperten und -expertinnen sind übrigens zwei Drittel bereit, im Ausland - vor allem dem benachbarten - zu arbeiten.
HR-Tech in Österreich
Zahlreiche heimische Unternehmen haben sich im Bereich HR-Tech bereits einen Namen gemacht. Vor allem Nischen wurden von diversen Jungunternehmen gut besetzt. Schon im Jahr 2017 kaufte beispielsweise das Karriere-Netzwerk Xing das Wiener Start-up Prescreen, das mit innovativen Systemen für das Bewerbermanagement hervorstach, für beachtliche 17 Millionen Euro. Auch riefen Role Models wie kununu (Mitarbeiter bewerten Arbeitgeber) oder whatchado (eine Video-Job-Plattform) Nachahmer - im positiven Sinn - auf den Plan.
Seitdem hat sich viel getan: So wurde der HR Tech Hub Vienna ins Leben gerufen, um die Stadt Wien als zentralen HR-Tech-Hotspot zu etablieren. Die sechs Gründungsmitglieder sind Firstbird (digitales Mitarbeiter-Empfehlungsprogramm), Gustav (Marktplatz für Zeitarbeitskräfte), hokify (mobile Job-Plattform), myVeeta (digitales Talentenetzwerk), Prescreen und whatchado.