Europas Energiesystem als großer sozio-technischer Aushandlungsprozess
Das europäische Energiesystem ist zweifelsohne in Bewegung. Das Steuer liegt jedoch in den Händen vieler - darunter auch zahlreiche Forscher. Einen Einblick auf den aktuellen Stand dieses umfassenden Aushandlungsprozesses zwischen Technologieentwicklung, Politik und nicht zuletzt der Gesellschaft gaben Experten des AIT im Gespräch mit APA-Science. Österreich sehen sie vor allem in den Bereichen "Smart Grids" und "Smart Cities" gut aufgestellt.
Gewissermaßen als Überbau für viele Aktivitäten in der europäischen Energieforschung fungiert die "Roadmap-2050", die eine Reduktion des CO2-Ausstoßes um 80 Prozent gegenüber dem Niveau von 1990 vorsieht. Basierend darauf wurde auch eine Roadmap für den Energiebereich definiert. "Da gibt es unterschiedliche Erkenntnisse, wie beispielsweise, dass es einen "Shift" hin zur Elektrifizierung geben wird, dementsprechend wird die Effizienz ein sehr große Rolle spielen", sagte Brigitte Bach, die am Austrian Institute of Technology (AIT) das Energy Department leitet.
Hier gebe es einerseits starke Statements seitens der EU-Kommission dahingehend, dass Europa zum Vorreiter bei erneuerbaren Energieträgern werden muss. Andererseits werde aber auch viel über die Rolle der Atomkraft nachgedacht oder welche Rolle Gas in der Übergangszeit spielen soll. Viel diskutiert werde etwa auch über die Frage, ob es in Europa Kohlenstoffspeicherung (CCS) brauchen wird. Vor dem Hintergrund dieser großen Fragen versucht die Energieforschung, Technologien auf den Weg zu bringen und herauszufinden, was es seitens des Energiesystems - Stichwort: Netze - für Anforderungen zu erfüllen gilt, so die Expertin, die seit kurzem als Vice-Präsidentin der European Energy Research Alliance (EERA) tätig ist.
In der EERA haben sich über 175 europäische Forschungsorganisationen und Hochschulen, die im Energieforschungs-Bereich tätig sind, zusammengetan. Gewissermaßen einen Rahmen für die wissenschaftlichen Anstrengungen bildet der Strategic Energy Technology (SET)-Plan der EU - ein Förderprogramm für europäische Spitzentechnologie. Ein wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang ist die Abstimmung der verschiedenen Aktivitäten über die Staaten hinweg - auch auf politischer Ebene. Klar sei jedenfalls, dass viele Fragen nicht nur auf nationalstaatlicher Ebene zu lösen sind, sondern einer europäischen Perspektive bedürfen, erklärte Bach, die auch das Advisory Group on Energy - ein Beratungsgremium für die EU-Kommission - leitet.
Die EERA bildet sozusagen ein Dach unter dem dann die europäischen Forscher zusammenarbeiten. Organisiert hat man sich themenabhängig, also in Programmen, wie "Smart Grid", "Smart City" oder Speicherung ("Storage"). Es gehe um das Definieren von Forschungsrichtungen und um Meinungsbildung. "Man ist dann auch eine Art Beratungsgruppe für die Technologiepolitik. Österreich hat sich hier eine sehr gute Rolle erarbeitet", zeigte sich Bach überzeugt. Vor allem auf den Gebieten "Smart Grids" und "Smart Cities" sei die heimische Forschungsszene stark vertreten.
Wohin der Weg gehen soll
Wie werden sich einzelne Technologien in absehbarer Zeit weiterentwickeln, welchen Beitrag können sie zur "Dekarbonisierung" und damit zur viel beschworenen Energiewende leisten? Fragen, die in einem sich ständig verändernden Energiesystem beantwortet werden wollen. Man arbeite also quasi permanent am offenen Herzen. Am Ende hängt wieder sehr viel von Fragen des gesamtgesellschaftlichen Verhaltens und von Akzeptanz zusammen. Bach: "Es gibt ja niemanden, der das europäische Energiesystem einfach so designen könnte. Es ist ein sich sehr stark bewegendes komplexes System." Nicht erst am Ende dieses Prozesses soll auch der Wirtschaftsstandort Europa gestärkt werden, indem man zusätzliche exportfähige Technologien für den Weltmarkt anzubieten hat.
Da die Elektrifizierung zunehmen wird, die Energie-Erzeugung dezentraler sowie vielfältiger und vor allem kleinteiliger wird, braucht es einen bunten Strauß an Maßnahmen. Auch in Österreichs Stärkefeldern sei viel zu tun: Netze müssen "upgegraded" werden, um den neuen Anforderungen gerecht zu werden - als geflügeltes Wort hat sich dafür das Wort "Smart" für "klug" etabliert. Dieses wird seit einigen Jahren auch gleich ganzen Städten vorangestellt - die "Smart City" soll vielfach klug, aber vor allem energietechnisch intelligent sein.
Gerade in diesen Zusammenhängen stecke der Teufel oft im Detail, so Bach. Die meisten Technologien müssten - anders als bei Speichern - weniger vom Fleck weg neu entwickelt werden. Es gehe vielfach um das Zusammenspiel der Lösungen und Komponenten sowie um das Erarbeiten neuer Geschäftsmodelle und Anreizsysteme, um Energie effizient zu verwenden. Nicht zuletzt haben hier die Konsumenten nämlich ein gehöriges Wörtchen mitzureden. In Forschungsprojekten braucht es daher oft auch sozialwissenschaftliche Begleitung und eine enge Einbindung der Nutzer.
Der Mensch im Fokus
"Die Veränderungen sind letztendlich so dramatisch, dass es nicht nur eine technische Sache ist. Man braucht die Menschen, man braucht die Konsumenten. Die Frage wird auch sein: Ist der Mensch in der Lage sein Verhalten zu verändern?", sagte Bach. Spürbar würde der Wandel klarerweise im Bereich des Wohnens und des Verkehrs - also städtebauliche Fragen im weistesten Sinne: "Dabei geht es auch sehr stark um die Organisation der Gesellschaft".
Die Zeiten, in denen das Energiesystem fast ausschließlich von wenigen, großen Anlage gespeist wurde, ist nämlich vorbei, betonte auch Helfried Brunner, thematischer Koordinator für den Forschungsbereich "Power System and Planning Operation" beim AIT: "Man geht im europäischen Kontext von Millionen Akteuren im Stromsystem aus - vom kleinsten Erzeuger bis zum Verbraucher." Diese Komplexität in der Planung und im Betrieb zu managen, sei die große Herausforderung.
Gleichzeitig rollt eine Flut an neuen Daten aus den Netzen heran, die es sinnverständig zu lesen und zu interpretieren gilt, womit sich in Österreich zahlreiche Wissenschafter beschäftigen. Diesbezüglich zeige sich ein klarer Forschungstrend: Die Konzentration liegt mittlerweile mehr auf der Betrachtung des gesamten Systems als auf der Entwicklung einzelner Technologien.
Kleinteiliger wird auch der Markt, an dem dann theoretisch jeder Haushalt mit beispielsweise einer PV-Anlage als Kleinsterzeuger und damit Stromverkäufer teilnehmen könnte. Spätestens hier werde es jedoch kompliziert. Für Bach ist daher eher zu erwarten, dass sich zuerst größere Betriebe (Gewerbe, Kleinindustrie etc.) am neuen "neuen Markt" beteiligen. Brunners Einschätzung nach sind allerdings momentan die Energieversorger sehr daran interessiert, das System für ihre Kunden zu vereinfachen, und dann quasi mit ihnen gesammelt auf den Markt gehen.
Von Nikolaus Täuber / APA-Science