"Sokrates, reloaded, oder: Kann man Ethik lehren?"
Sich zusammenreden, einander zuhören, Fragen stellen, um dabei zu lernen: Dieses Prinzip ist sehr alt - und sehr unbeliebt, denn welcher Experte lässt seine Wahrheiten gern in Frage stellen? Vor über 2000 Jahren wurde auch Sokrates zum Tode verurteilt, weil er den Menschen, anstatt diese mit den herrschenden Werten zu belehren ("vermitteln"), zuhörte und ihnen bohrende Fragen stellte, die ihre Sichtweisen veränderten.
Nach diesem Vorbild hatte ich für den Studiengang "Gesundheitsmanagement im Tourismus" der FH Joanneum ein Konflikttraining entwickelt, im Rahmen dessen Studierende Rollen von Gemeinderäten übernehmen, um ein gemeinsames, zukunftsfähiges Bad Gleichenberg zu entwickeln. Den Studierenden wird somit nicht eingetrichtert, was richtig oder falsch sei. Vielmehr erarbeiten sie in gemeinsamen, strukturierten Debatten ihre eigenständigen, als nachhaltig erachteten Lösungen, haben Spaß dabei und einen hohen Praxisbezug: Sie lernen, mit vielen Stakeholdern über komplexe Probleme konstruktiv zu verhandeln (und wissen nicht mal, dass sie damit Ethik lernen).
Für dieses Konzept wurde mir statt des Schierlingsbechers - der Gifttrank, mit dem Sokrates hingerichtet wurde - der Österreichische Staatspreis für Hochschuldidaktik serviert. Seither hege ich ernste Zweifel am Sinn dieser Lehrmethode ...
Guter Ethikunterricht ist Resilienztraining. Er zielt auf die Sensibilisierung für den existenziellen Umstand ab, dass die Dinge kompliziert, die Menschen verschieden, und die Probleme komplex sind. Dass Lösungen wie auch Sichtweisen ausprobiert und immer wieder angepasst werden müssen.
Ethikunterricht scheint so notwendig wie kaum zuvor: Korrupte PolitikerInnen, gierige BankerInnen, spekulierende GewerkschafterInnen, gefallene PriesterInnen, mordende Eheleute, brutale SchülerInnen ... täglich überfluten uns erschütternde Zeitungsmeldungen über gravierendes Fehlverhalten unserer MitbürgerInnen und "Eliten". Solche fatalen Blitzlichter auf unserer medienvermittelten Umwelt hinterlassen ein dumpfes Gefühl der wachsenden Unruhe, als ob wir uns im Prozess eines gesellschaftlichen Verfalls befänden, in einem "Niedergang des Abendlandes". Scheinbar bestätigt werden solche wachsenden Befürchtungen durch eine Vielzahl an "offensichtlichen" Krisen, die ringsumher aufflackern wie Buschfeuer: Finanzkrise, Klimakrise, Pensionskrise, Gesundheitskrise, Bildungskrise, Migrations- und Armutskrise - und jetzt auch noch die Ukrainekrise.
Gleichzeitig häufen sich die Rufe nach "Ethik": Die Menschen müssten wieder die "wahren Werte" erlernen, am besten schon ab dem Kindergarten, damit wir unsere Welt nicht zugrunde richten, sondern ... ja, was nur? Zu einer besseren Gesellschaft werden, wie es auch Menschen wie Lenin, Pol Pot und Mao anvisierten und dazu ihre "Werte" den Menschen zwangsweise eintrichterten?
Die Klage über Sittenverfall ist weder neu noch originell. Dass "die heutige Jugend ... von Grund auf verdorben (sei), ... böse, gottlos und faul", sodass es "ihr niemals gelingen (werde), unsere Kultur zu erhalten", ist bereits auf einer babylonischen Tontafel aus dem 2. Jahrtausend v. Chr. zu lesen. Dass die "Jungen" anders ticken, wird jedem Menschen ab einem gewissen Lebensalter unvermeidlich offenbar, weil sich die Welt permanent verändert und die nachfolgenden Generationen sich folglich anders anpassen müssen als ihre Eltern, um die neuen Herausforderungen des Lebens bewältigen zu können. Denn die meisten Kulturtechniken zur Lösung von einstigen Problemen sind obsolet. Wer HeiratskandidatInnen in alter Tradition am Kirtag zu finden versucht, wird einsam bleiben, während die Zahl glücklicher Paare boomt, deren Weg sich auf Internet-Partnerbörsen kreuzte. Wofür brauchen wir also Ethik? Für eine Renaissance des Kirtags zur Bekämpfung des allgemeinen Sittenverfalls oder eher als Knigge-Training fürs erfolgreiche Web-Dating? Sollte darin der Wert des Ethikunterrichts liegen, um die Menschen "besser" zu machen?
Im "Journal of Hospitality & Tourism Research" wurde jüngst eine Studie über Wertehaltungen und Verhaltensmuster von Tourismusstudierenden veröffentlicht, die in Ethik, sozialer Verantwortung, Nachhaltigkeit und Umweltmanagement unterrichtet worden waren. Als Vergleichsgruppe dienten Tourismusstudierende, deren Curricula keine solchen Fächer umfassten. Das Ergebnis lieferte ... keinerlei Unterschiede! Daraus würde folgen, dass Werteunterricht - nämlich das, was landläufig darunter verstanden wurde - im Hinblick auf die "Erziehung zum guten Menschen" paradoxerweise wert-los sei! Erschütternd, nicht wahr?
Keineswegs, denn der Ruf nach Ethik als Strategie zur Bewältigung der herrschenden Krisen ist bestenfalls ein Symptom der vorherrschenden Orientierungslosigkeit, aber keine Lösung. Denn bevor Ethiker auf Kinder loszulassen sind, stelle ich mir - als Vater zweier Kinder und erst recht als Ethiklehrer - zuerst einige grundlegende Fragen: Was soll Ethik überhaupt sein? Und was genau sollen Werte sein? Und wie sollten diese "richtig vermittelt" werden? Welche vor allem? Jene unserer Elterngeneration, durch deren Denk- und Handlungsweise die heutigen Probleme - frei nach Einstein - überhaupt erst entstanden sind? Und was sollte zu guter Letzt ausgerechnet einen Ethiker qualifizieren, Menschen "besser" zu machen? Sind Ethiker bessere Menschen? Aus welchen Gründen? Weil sie - wie so viele akademische Philosophen - über den Dingen stehen?
Der einzige Unterschied zwischen einem (brauchbaren) Ethiker und einem "Normalsterblichen" liegt in der gründlichen und weitreichenden Reflexion von bestimmten Problemen. Ethiker sind somit reicher an Erfahrung im Scheitern von Gewissheiten: Sie haben erkannt, dass all die guten Lösungsvorschläge entweder in der Praxis kaum greifen oder aber zu neuen Problemen führen. Es gibt keine "richtigen" Lösungen, bestenfalls mehr oder weniger schlechte. Darum qualifizieren sich (brauchbare) Ethiker durch die eine wesentliche Erkenntnis, keinen Schritt näher an der Wahrheit zu sein als schon Sokrates! Dass jedes Wissen nur Ausdruck einer Sichtweise - einer Interpretation - sei. Ethiker sind Problematisierungsexperten.
Darum haben (brauchbare) Ethiker auch erkannt, dass es keine "objektiven" Werte gibt, sondern lediglich mehr oder minder akzeptierte Verhaltensweisen, deren Sinnhaftigkeit und "Güte" von der jeweiligen Situation abhängt. So ist Klimaschutz zweifellos überaus wichtig zur Vermeidung zukünftiger Wetterkatastrophen und Fleischkonsum ein überaus bedeutender Verursacher des Klimawandels. Sollten darum alle Schweine- und Rinderzüchter auf Baumschulen umsatteln und all ihre Mitarbeiter und Geschäftspartner freisetzen?
Die Zeiten sind "einfach" kompliziert geworden. Es gibt keine schlichten Lösungen, keine klaren Werte, kein eindeutiges "Gutes" mehr. Darum ist Ethik in erster Linie die Kunst, scheinbare Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen, um nach eigenen, passend erscheinenden Antworten zu suchen. Ethik ist somit genau das Gegenteil dessen, was sich jene wünschen, die am lautesten nach "Ethikunterricht" rufen: Guter Ethikunterricht vermittelt keine "wahren Werte", sondern ermutigt zum Aufbruch aus der Komfortzone der Selbstgewissheit, um hinter die offensichtliche Lebenswelt zu blicken.