Videoboom im Web
Katzen, Schmink- und Modetipps von Teenagern oder Videos von Hoppalas der Familienfeier sind verlässliche Quotenbringer auf Videoplattformen. Aber jetzt entdeckt auch die Wissenschafts-Community das bewegte Bild als ganz neues Transportmedium für ihre Inhalte. Ein Streifzug durch die alles andere als homogene Welt der Wissenschaftsvideos im Web.
Wie schnell ist Lichtgeschwindigkeit? 229.792.458 Meter in der Sekunde - das klingt nach viel. Eine Milliarde Kilometer in der Stunde, auch das hört sich sehr, sehr schnell an. Nur, wie unglaublich langsam und gemächlich Lichtgeschwindigkeit sein kann, zeigt der beeindruckende Clip "Riding Light" des US-Grafikers Alphonse Swinehart. Er stellt in einer Videoanimation die Reise eines Photons quer durchs Sonnensystem nach, in Echtzeit wohlgemerkt. Von der Sonne vorbei an den Planeten, vorbei an Erde und Mars bis zum Jupiter und seinen Monden. Und erst dieser Clip lässt wohl die meisten Seherinnen und Seher zum ersten Mal ein Gefühl dafür bekommen, wie sehr die Naturkonstante "Lichtgeschwindigkeit" in den riesigen Dimensionen des Weltraums schrumpfen kann.
Neue Chance für Wissenschafter
Das Beispiel - oft ausgezeichnet und weltweit millionenfach abgerufen - zeigt exemplarisch eine neue Chance für Wissenschafter: eine völlig neue Möglichkeit der Darstellung von wissenschaftlichen Ergebnissen und Konzepten. Die Welt der Wissenschaftsvideos in den Neuen Medien boomt, ist aber alles andere als einheitlich und geordnet. Und man muss insbesondere einen Blick in die englischsprachigen Länder werfen, um Trends auszumachen.
Ein Megastar auf YouTube ist etwa Derek Muller. Der in Australien geborene Physiker betreibt den Videokanal "Veritasium" und erreicht mit Videos aus der Welt der Physik und allgemeinen wissenschaftlichen Themen fast drei Millionen Abonnentinnen und Abonnenten (immer mehr davon auch aus Österreich), seine Clips wurden bereits rund 275 Millionen Mal abgerufen. Zahlen, mit denen kaum ein großer Wissenschaftsverlag aktuell aufwarten kann.
Auch mit Mathematik kann man im Web berühmt werden. Die Amerikanerin Vi(ctoria) Hart erklärt in ihrem YouTube-Channel in originellen und temporeichen Clips etwa Arithmetik mittels Origami, die Zahl Pi wird beim Kuchenbacken beschrieben, ebenso wie Zusammenhänge zwischen Zwölftonmusik und Mathematik. Die Clips erreichen mehrere Millionen Abrufe, allerdings sollte man sich von der nur auf den ersten Blick recht einfachen Machart der Videos nicht täuschen lassen: Eine Woche Arbeitszeit rechnet Hart im Schnitt pro Produktionsminute. Trotzdem kann sie von den Einnahmen mittlerweile durchaus ganz gut leben, wie sie selbst in ihrem Blog anmerkt.
Im deutschsprachigen Raum sind Wissenschafts-YouTuber noch in der Minderheit, ziehen aber nach: "100SekundenPhysik" erläutert in kurzen Clips Quantenmechanik, Schrödingers Katze oder das "Olberssche Paradoxon". Bei Weitem nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit, mehrere Hunderttausend Abrufe weisen die Clips des YouTube-Kanals auf. Auf unterhaltsame Aufbereitung setzt auch der erfolgreiche Kanal "Clixoom", der Forschungsergebnisse und verblüffende Versuche in kurzen, teilweise sehr aufwändig animierten Clips darstellt.
Quotenrenner Sonnenfinsternis
Dass Themen mit wissenschaftlichem Hintergrund tatsächliche Quotenrenner sein können, erlebte auch die APA. Bei der partiellen Sonnenfinsternis im Frühjahr 2015 entschied sich die Videoredaktion, das Naturereignis via Livestreaming zu übertragen. Rund zwei Stunden filmte eine mit Spezialfiltern ausgestattete Kamera die Sonnenfinsternis vom Public-Viewing-Spot vor dem Naturhistorischen Museum in Wien und übertrug sie im Web. Alle paar Minuten erläuterte der Präsident der Wiener Arbeitsgemeinschaft für Astronomie (WAA), Alexander Pikhard, aus dem Off wissenswerte Fakten rund um das Ereignis. Das Ergebnis überraschte letztlich alle: Der Stream wurde an diesem Freitagvormittag von knapp 40.000 Seherinnen und Sehern gleichzeitig abgerufen, ein extrem hoher Wert, der auch die technische Infrastruktur an ihre Grenzen brachte. Nach wie vor handelt es sich um die quotenstärkste Produktion der APA-Videoredaktion, trotz vieler Nachrichtenhighlights rund um Wahlen, Politik und politische Umstürze in den vergangenen Monaten.
Aber bei all den Chancen in den Neuen Medien gerät die Wissenschafts- Community auch unter Druck. Eine Suche via YouTube zum Thema "Klimawandel" beispielsweise bringt nämlich nicht nur harte Fakten hervor, sondern spült jede Menge obskurer Clips ans Tageslicht. Weltverschwörer, Chemtrail-"Experten" und sogenannte Mainstream-Verweigerer aus allen Disziplinen haben in Plattformen wie YouTube eine perfekte Verbreitungsmöglichkeit für ihre Positionen gefunden. Für Laien gar nicht einfach unterscheidbar von wissenschaftlich fundierten Inhalten und rein von den Abrufzahlen teilweise bedenklich erfolgreich - auch das ist ein Indiz dafür, dass Wissenschaft und Fachverlage in Sachen Videokommunikation und neue Ausspielkanäle bei Weitem noch nicht alle Potenziale ausgeschöpft haben.
Von Marcus Hebein / APA