"Lasst uns spielen!"
Fußball ist der populärste Sport Europas und gleichzeitig die am meisten geteilte soziale Praxis: Mit ca. 62 Millionen Spielern, 224.000 Vereinen, 53 Nationalmannschaften und mehreren hundert Millionen Anhängern, Zuschauern und Fans ist Fußball für mehr als die Hälfte der Europäer aller Altersgruppen ein wichtiger Teil der Alltagskultur - und damit ist Fußball auch ein ideales Spielfeld für Wissenschaftler, die sich mit der Kulturanalyse des Alltags beschäftigen.
Großereignisse, wie die EURO 2012 in Polen und der Ukraine, bieten dabei besonders schöne Gelegenheiten für die Forschung. Nicht von ungefähr erinnern EMs und WMs an Karneval. Selbstredend lässt dieser Vergleich sogleich an bunte Verkleidungen, ausgelassenes Singen und viel, viel Alkohol denken, doch die Analogie besteht auch in einem weiteren Sinn. Soziale Praktiken, Strukturen und Dynamiken lassen sich besonders dann genau beobachten, wenn sie herausgefordert werden. Karneval ist die Zeit des scheinbar ungeregelten Ausnahmezustands, Machthierarchien werden umgekehrt, Autoritäten können verspottet werden.
Auch im Großereignis Fußball finden wir: Die Verkleidung, das Spiel mit den Identitäten, klar nach außen getragene Loyalitäten und Abneigungen. Wann sonst ist es erlaubt, sich aus vollem Hals selbst zu zelebrieren, die gegnerische Mannschaft mit platten Stereotypen zu belegen – die sowohl positiv als auch negativ sein können – oder als Mann einfach hemmungslos zu weinen?
Geltende Regeln werden außer Kraft gesetzt, aber auch „karnevalistische“ Großveranstaltungen verlaufen entlang spezifischer Rituale, die die Teilnehmer der gemeinsamen Teilhabe versichern, und die auch die Grenzen des Sag- und Machbaren festlegen. Selbstredend sind diese Grenzen nicht feststehend und starr, sondern dynamisch und werden immer wieder aufs Neue verhandelt.
Das rituelle Feiern der eigenen Nation gehört dabei für viele Fans unbedingt dazu. Der rot-weiße Schal, die schwarz-rot-goldene Plastikblumenkette, gemeinsam intoniertes Liedgut, sie schaffen ein Gefühl der Zugehörigkeit – und sei es nur für 90 Minuten. Was allerdings passiert, wenn die eigene Mannschaft nicht im Spiel ist oder gar früh aus dem Turnier ausscheidet, und welche Loyalitäten und Abneigungen dann entstehen, das ist ein für Kulturwissenschaftler höchst aufschlussreiches Feld.
Wer wen anfeuert, und auch wie gefeiert wird, das sind beileibe keine rein individuellen und autonomen Entscheidungen. Mediale Repräsentationen und Erzählungen spielen eine wichtige Rolle, ebenso wie Werbe- und Verkaufsinteressen, die die Lesarten des Fußballs stark mitbestimmen. Stadien oder Fanzonen sind stark kommerzialisierte Räume, deren Ausgestaltung von FIFA und UEFA, aber auch von Konzernen festgelegt wird. Eine Teilhabe am sozialen Ereignis erfolgt nur um den Preis der Akzeptanz der vorgegebenen Regeln.
Das Verbot eigene Getränke mitzunehmen, überrascht mittlerweile niemanden mehr. Werbung, die auf Bannern, Flyern, Programmheften und Bildschirmen die Fans umgibt, weist ihnen ebenso den Weg zum „richtigen“ Konsum wie die vorgegebene Biermarke. Gerade dort, wo Raum stark eingeschränkt ist, entstehen neue Räume, die ausdrücklich fernab von Kommerz und Reglementierung dazu einladen, gemeinschaftlich Fußball zu schauen. Dazu gehören Kneipen und Bars ebenso wie selbstorganisiertes Schauen im Stadtteil.
Fußballerische Großereignisse verdeutlichen, dass es beim Fußball bei weitem nicht nur um Fußball geht. Sie haben handfeste ökonomische, politische und soziale Implikationen. Spannungen und Asymmetrien in und zwischen sozialen Gruppen treten deutlich zutage.
Während sich die westliche Presse vor der EURO 2012 vorwiegend sorgte, inwieweit man als Fan in den Osten reisen könne, ohne seines Autos, seiner Kreditkarte und seines Wohlergehens verlustig zu gehen, polarisierte sich die Berichterstattung zunehmend. Polen entwickelte sich zum „good guy“, die Ukraine dagegen zum „bad guy“: Die Berichterstattung über die Ukraine wurde fast vollständig von der Debatte um Julia Timoschenko (die inhaftierte ukrainische Ex-Regierungschefin; Anm.) und einem eventuellen Boykott überschattet. Dass Timoschenko innenpolitisch auch unter Präsident Viktor Janukowitschs Gegnern nicht nur Freunde hat, wurde weitgehend geflissentlich übersehen.
Polen dagegen, vor kurzem noch Gegenstand abwertender „Polenwitze“, wird plötzlich zum Wirtschaftswunderland erklärt. Dass sich hier ein breites gesellschaftliches Bündnis unter dem Motto „Brot statt Spiele“ (Chleba zamiast Igrzysk) zur Kritik an den öffentlichen Ausgaben für die EURO und den damit verbundenen Kürzungen im sozialen Bereich und einer auf lange Jahre hinaus erfolgten Verschuldung formierte, fand im Westen nur wenig Beachtung.
Aber auch das gehört zu Fußball-Großereignissen: Die Gewinner und die Verlierer sind nicht allein auf dem Spielfeld, den Fanmeilen und den Zuschauerrängen. Die Gewinner und die Verlierer sitzen auch in politischen Ämtern, Hotelketten, Baufirmen, Kiosken, Kindergärten, Schulen und Sozialämtern.