Digital und vernetzt - Die Vermessung des Sports kommt in Schwung
Der Sport ist im faktischen Zeitalter angelangt. Big Data, Tracking-Technologien und Videoanalysen lösen Intuition und Bauchgefühl zusehends ab. Sensoren kleben statt auf den Ball spucken ist angesagt. Was die statistische Analyse von Sportdaten tatsächlich bringt, welche Hürden noch bestehen und wie gläsern Sportler künftig sein werden, haben Experten im Gespräch mit APA-Science beleuchtet.
"Geht's raus und spielt's Fußball", riet Franz Beckenbauer anno dazumal seiner Mannschaft. Inzwischen ermöglichen die technischen Entwicklungen etwas fundiertere Handlungsanweisungen. Sensoren am Körper, Positionsdaten und Videoauswertungen machen Leistungskurven, Passquoten und Tempowechsel transparent. Aber auch im Freizeitsport haben eine Vielzahl an digitalen Helferlein Einzug gehalten.
"Ich kann in ein Sportgeschäft gehen und mir Fußballschuhe, Tennisschläger oder Bälle mit Sensoren kaufen - ganz abgesehen von den klassischen Trackern wie Uhren. Da ist die Bandbreite schon sehr groß", erklärte Wolfgang Aigner, Leiter des Instituts für Creative\Media/Technologies an der Fachhochschule (FH) St. Pölten.
Das kann der Obmann des Sportartikelhandels in der Wirtschaftskammer Österreich, Michael Nendwich, nur bestätigen. Im Sportartikelhandel, der in Österreich 2015 rund 2,6 Mrd. Euro umgesetzt hat - davon speziell im Sportfachhandel 1,8 Mrd. Euro - würden zwei Trends hervorstechen: Individualisierung und Digitalisierung. "Laut einer deutschen Studie ist sportliche Leistung sozusagen nur mehr etwas 'wert', wenn sie messbar und sozial teilbar ist", erklärte Nendwich.
Nachholbedarf auf Trainerebene
Noch Nachholbedarf gebe es bei Angeboten auf der Trainerebene. Hier gehe es um Taktik, Leistungsvergleiche und Monitoring in Echtzeit. In diesem Bereich war auch das von der Forschungsförderungsgesellschaft (FFG) geförderte und Ende 2016 abgeschlossene Projekt "WiMoiS" angesiedelt, so Roland Leser vom Institut für Sportwissenschaft der Universität Wien. Hier habe man zusammen mit dem Software Competence Center Hagenberg daran gearbeitet, die Leistung eines Spielers oder einer Mannschaft automatisch zu erkennen und zu bewerten. Zurückgegriffen wurde dabei auf Positionsdaten und Verfahren der Statistik sowie der Künstlichen Intelligenz und auf wissensbasierte Methoden.
Taktische Analysen statt Meterangaben
Positionsdaten seien bisher vor allem dazu benutzt worden, um physische Daten auszuwerten -beispielsweise wie viel ein Spieler gelaufen ist oder wie schnell. Trainer oder Experten bräuchten aber taktische Analysen und dazu müsse man Muster erkennen. "Ziel war, aus den Daten heraus zu bekommen, was am Spielfeld passiert, und das auch bewerten zu können - also ob das gut ist oder schlecht", beschrieb Leser den Ansatz.
"Das Pass-Spiel bei einem Kleinfeldspiel fünf gegen fünf können wir aufgrund der Methode, die wir entwickelt haben, schon sehr gut automatisch bewerten. Der nächste Schritt wäre 11 gegen 11", so Leser. Man brauche für entsprechende Auswertungen allerdings viele Daten. Wenn ein Stürmer auf einen Verteidiger zulaufe, sei dies eine Einzelsituation. Aus Hunderten oder Tausenden dieser Einzelsituationen könne man ein breites Spektrum an Verhaltensweisen ableiten. "Diese Muster bringen wir mit Erfolgsaussichten in Verbindung. Das funktioniert nicht nur für Einzelspieler, sondern auch für Mannschaften, wo man kollektive Muster im Spiel erkennen und bewerten kann", betonte der Experte.
Telemetrische Sensoren bei der Tour de France
Derzeit konzentrieren sich viele Projekte auf den Fußball (siehe dazu auch "'skills.lab': Wenn analoge Bälle auf virtuelle Tore treffen"). Statistische Analysen werden inzwischen aber auch bei vielen anderen Sportarten eingesetzt. So hat der IT-Spezialist Dimension Data beispielsweise während der Tour de France rund 128 Millionen Datensätze über telemetrische Sensoren unter den Satteln der Radfahrer gesammelt, analysiert und aufbereitet. Dabei wurde beispielsweise herausgefunden, dass die Durchschnittsgeschwindigkeit der Fahrer während der 21 Etappen bei 38,34 km/h lag, der Wind mit bis zu 80 km/h wehte und Julian Alaphilippe bei seinem Sturz mit 51,7 km/h unterwegs und mit einem Seitenwind von 42 km/h konfrontiert war.
Das Softwareunternehmen Qlik wiederum hat eine App zur Europameisterschaft entwickelt, die die Ergebnisse der Turniere seit der ersten EM 1960 sowie Daten zu den teilnehmenden Ländern und Nationalspielern umfasst. Das erlaube Spiele und Mannschaften detailliert zu analysieren, so Qlik. Ein Ergebnis: Lag die Durchschnittsgröße der Nationalspieler im Jahr 1960 noch bei 1,76m, waren es bei der Europameisterschaft 2012 schon 1,82m.
Oft hapert es an der Datenqualität
Als Herausforderungen für statistische Analysen gelten derzeit noch die großen Datenmengen und die Datenqualität. "Da geht es um Dinge wie fehlende Daten, wenn beispielsweise ein Sensor ausfällt, oder Ungenauigkeiten bei den GPS-Daten", erläuterte Aigner. Komplex sei auch die automatische Analyse mit Machine Learning-Algorithmen, um die Aktivitäten automatisch zu erkennen. Außerdem müssten die Daten gut aufbereitet werden, etwa durch eine Visualisierung.
Visualisierungen am Smartphone würden bisher sehr klassisch mittels Karten oder Balkendiagrammen angegangen, so Aigner. Eine Herausforderung sei nun, heterogene Daten vom Schrittzähler über GPS bis zur Pulsfrequenz zusammenzubringen. So müssten hochfrequente Daten wie der Puls mit der langfristigen Entwicklung des Körpergewichts oder "weiche" Daten wie die Einschätzung des Wohlbefindens mit quantitativen Daten vereint werden.
"Neben Visualisierungen gibt es auch das Thema Sonifikation, also wie kann ich Daten hörbar machen, oder die Vibration meines Smartphones als Anzeiger nutzen", verwies Aigner auf weitere Möglichkeiten. Außerdem würden manche Sportgeräte künftig selbst über ein Display verfügen. Die Schuhsohle könnte anzeigen, wie die Belastungsverteilung beim Laufen war. "Es wird nicht mehr unbedingt ein Smartphone oder einen Computer brauchen, um sich Daten anzuschauen. Der Sportler bekommt die Ergebnisse direkt in der Situation signalisiert", erklärte Aigner.
Entfremdung vom eigenen Körper
In den kommenden Jahren werden die Sensoren noch kleiner und leistungsfähiger und können daher umso einfacher beispielsweise in Textilien integriert werden, gab Leser einen Ausblick. Vor allem im Breitensport werde der Trend zur Digitalisierung anhalten, um eine Rückmeldung über Bewegungen und das Verhalten zu bekommen. Die Gefahr sei, dass es zu einer gewissen Entfremdung vom eigenen Körper komme. "Wenn man sich immer stärker darauf verlässt, dass Apps Bescheid geben, wenn man etwas trinken sollte, und man nicht mehr in den eigenen Körper hineinhört, ist das ein besorgniserregender Trend", so Leser gegenüber APA-Science.
Noch ungeklärt scheint, wie mit den Daten der Sportler umzugehen ist. "Das muss hinterfragt werden: Was macht mein Verein oder Trainer mit den Daten? Was ist, wenn ich den Verein wechsle und dem Verein dann vielleicht als Gegenspieler gegenüber stehe? Dürfen dann meine alten Daten verwendet werden, um Schwachstellen herauszufinden?", ortete Aigner viele offene Fragen. "Der Sportler selbst wird sich künftig nicht mehr aussuchen können, ob er da mitmacht. Das geben Verein oder Trainer vor", meinte auch Leser.
Ob statistische Analysen von Sportdaten tatsächlich zum Game Changer werden oder lediglich ein gewisses Feintuning ermöglichen, ist umstritten. Bei manchen Sportdaten wie beim Baseball seien zwar größere Effekte festgestellt worden, beim Fußball habe es aber noch keinen Durchbruch gegeben, so Leser. Er vermutet, dass ein bestimmter Grad an Komplexität entscheidend für den Erfolg sein könnte. "Sensorik, Datenanalyse und Visualisierung sind ein großes Feld, das es noch zu beackern gilt. Es gibt interessante Ansätze, aber da ist sicher noch nicht das Ende erreicht", prognostizierte Aigner.
Studiengang "Sports Equipment Technology"
Ständig weiter entwickelt wird auch die Ausrüstung. Ein praxisnahes Studium zur technologisch-wissenschaftlichen Unterstützung des Sports bietet die Fachhochschule (FH) Technikum Wien. Aus dem Studiengang "Sports Equipment Technology" sind seit seiner Gründung 2002 bis jetzt 232 Master-Absolventen hervorgegangen. "Wir haben weltweit mit Abstand am meisten Absolventen in dem Bereich", erklärte der Gründer und Leiter des Studiengangs, Anton Sabo, gegenüber APA-Science.
Der Studiengang stützt sich auf die beiden Schwerpunkte Material- und Produkttechnologie und messtechnisch unterstützte Bewegungsanalyse. Die derzeit 57 Master-Studierenden entsprechen quasi ebenso vielen parallel laufenden Forschungsprojekten mit Firmen. Aufträge kommen aus allen möglichen Sportarten, von Bogensport über Golf bis Rudern und Tischtennis. "Wir machen alles, mittlerweile haben wir bestimmt 300 bis 400 Forschungsprojekte abgeschlossen", schätzt Sabo.
In den Laboren des Studiengangs befinden sich die unterschiedlichsten Versuchsanordnungen und Prüftische, für Skischuhe, Fahrräder und Scheibenbremsen, Golfschläger usw. Dazu kommen innovative Messmethoden wie die Posturographie. Dabei werden über eine Druckmessplatte Gewichtsverlagerungen, Schwerpunkt, Schwingungsverhalten des Körpers und die Lastverteilung über den Füßen ermittelt und aufgezeichnet. Die gewonnenen Daten gelten als Indikatoren für Balance, Stabilität und Symmetrie.
Die Methode kommt ursprünglich aus der Neuropathologie und analysiert Bewegungsmuster von Schlaganfall- oder Parkinson-Patienten. Die Messungen können variiert werden, etwa einmal mit offenen und geschlossenen Augen. So erhalten die Forscher viele Parameter, aus denen man Bewegungsstrategien ableiten kann. Im Prinzip mache es keinen Unterschied, ob das für einen Schlaganfallpatienten oder einen Spitzensportler gemacht wird, so Sabo.
Biomechanische Bewegungsanalysen
Zusätzlich werden die Sportler mit biomechanischen Bewegungsanalysen vermessen, die extrem vielfältig ausfallen können. Zu berücksichtigen sind Gelenkswinkel, Beschleunigungen und Kräfte, um die Trajektorie (Raumkurve) von einzelnen Punkten zu berechnen. So können zum Beispiel Tischtennisspieler, aber auch Golfspieler ihre Schwünge optimieren.
Aktuelle Dissertationen behandeln eine breite Themenpalette: Die Projekte reichen von einem neuen Verfahren zur Herstellung von Laufschuhen ("One Piece Running Shoesole Manufacturing") per Rapid Prototyping, über "Therapeutisches Klettern" zum zielgerichteten Training von Rücken, Wirbelsäule oder Nacken bis zur biomechanischen Analyse von Karbon-Prothesen, wie sie der frühere südafrikanische Spitzensportler Oscar Pistorius verwendet hat. Dabei will man feststellen, mit welcher Geometrie des Körpers man welche Art und Länge solcher Sprungfedern einsetzen darf, ohne durch die zusätzliche Federung Vorteile gegenüber Sportlern ohne Prothesen zu erzielen.
Optimierung im Windkanal
Eine andere Möglichkeit, Mensch und Material noch einen Feinschliff zu verleihen, sind aerodynamische Tests. Das ganze Jahr über kommen Sportler zu diesem Zweck ans Institut für Strömungslehre und Wärmeübertragung der Technischen Universität (TU) Graz. Daraufhin erhalten sie von den Experten vor Ort wertvolle Hinweise, wie Trainingszeiten und Wettkampfergebnisse weiter verbessert werden können.
Besuch bekommt Walter Meile, der am Institut für die aerodynamische Forschung zuständig ist, vor allem aus dem alpinen Wintersport. Zu den regelmäßigen "Gästen" zählen die österreichischen Rodel- oder Bobmannschaften, aber auch die russischen Bob-Herrennationalmannschaften griffen vor den Olympischen Winterspielen in Sotschi (2014) auf die Grazer Expertise zurück. Nicht zuletzt holten sich die österreichischen Handbiker Thomas Frühwirth und Walter Ablinger, die 2016 bei den Paralympics Silbermedaillen gewannen, stromlinienförmige Ratschläge aus dem Windkanal.
"In der Regel nehmen die Sportler eine übliche Standardhaltung ein und ausgehend von diesen Grundwerten verändern wir dann diese Haltung aufgrund unserer Erfahrungswerte und schauen, ob es tendenziell besser wird", so der Experte im Gespräch mit APA-Science über das Standard-Prozedere in der österreichweit einzigartigen Einrichtung. Gemessen werden immer Gerät und Sportler gemeinsam, die dabei mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 145 km/h konfrontiert werden können - "das ist für Bobfahrer in etwa die Geschwindigkeit, die sie bei diversen Rennen maximal erreichen".
Software verkürzt Entwicklungszeit
Viele der Prototypen, die auf diese Art getestet werden, entstammen bereits Computer-Simulationen. "Physische Prototypen werden reduziert und bei der Entwicklungszeit können bis zu 35 Prozent eingespart werden", beschreibt Martin Koczmann von Siemens die wesentlichen Vorteile von Product Lifecycle Management (PLM-) Software. Damit könne man einen "digitalen Zwilling" des Produkts erstellen - "ein mehrstufiges Modell, das die Realität widerspiegelt und fortlaufend im Produktlebenszyklus weiterentwickelt wird, um die Produkteigenschaften vom Konzept bis zur eigentlichen Nutzung präzise zu simulieren."
Gerade im schnelllebigen Umfeld wie der Sportbranche müssten Unternehmen kontinuierlich innovativ sein, da sich die Verbraucherpräferenzen und -anforderungen in Bezug auf Bekleidung, Schuhe, Accessoires ständig ändern würden, so Koczmann. Etwa habe ein bekannter Hersteller von Sportschuhen die Schuhleistungen durch den "großflächigen Einsatz" von Computer-Aided Engineering (CAE) verbessern können. Simuliert werden können Leistungsmerkmale der Schuhe wie Dämpfung, Stabilität, Flexibilität, Passgenauigkeit, Haltbarkeit, Griffigkeit, Gewicht und Lüftung.
Technologie-Nutzung in den Kinderschuhen
Trotz vieler positiver und erfolgreicher Beispiele steckt der wissenschaftlich unterstützte Einsatz von Technologie im österreichischen Spitzensport nach wie vor in den Kinderschuhen, sagt Anton Sabo. Hauptsächlich sei das ein Systemfehler. Trainer seien in dieser Hinsicht unzureichend ausgebildet und Verbände wüssten zu wenig von den Möglichkeiten.
Ändern könnte sich das zum Beispiel, wenn Absolventen des FH-Studiengangs direkt bei den Verbänden tätig werden könnten. Erst vor kurzem hat der FH-Professor u.a. gemeinsam mit dem Leistungsdiagnostiker Hans Holdhaus vom Institut für medizinische und sportwissenschaftliche Beratung (IMSB) einen Antrag bei Sportminister Hans Peter Doskozil gestellt, in dem für einen höheren Stellenwert der Technologieentwicklung im Sport plädiert wird.
Zentraler Kritikpunkt ist, dass entsprechende Fördergelder optimiert eingesetzt werden sollten. Projektanträge sollten laut Sabo in Zukunft nicht die Sportverbände einreichen müssen, sondern "es sollte ein bestimmtes Budget direkt für die Technologie im Sport vorhanden sein". Die Expertise des FH-Studiengangs und des Forschungsinstitutes "müsste über das Sportministerium an alle Sportverbände ausreichend kommuniziert werden", so Sabo: "Bisherige Gelder für diesen Bereich wurden nicht immer ausgeschöpft."
Von Stefan Thaler und Mario Wasserfaller / APA-Science