"Sportwissenschaft - Zeit für die Überwindung des Dranges zur Selbstrechtfertigung?"
Als noch relativ junger Wissenschaftszweig kämpft das Fach Sportwissenschaft mit seinen vielen, teilweise recht heterogenen Teildisziplinen - häufig stark geprägt von Mutterwissenschaften wie Physik, Medizin, Pädagogik, Psychologie etc. - intensiv um Anerkennung sowohl innerhalb der wissenschaftlichen Communities als auch in der Öffentlichkeit. In diesem Gastkommentar sollen die Fragen beantwortet werden, warum sich der Zwang, sich zu beweisen, eigentlich schon selbst erledigt hat, warum aber nicht alle Protagonisten des Feldes dies schon erkannt haben.
Die Anzahl sportwissenschaftlicher Fachbeiträge hat sich seit 1985 von Dekade zu Dekade in etwa verdoppelt und steht aktuell für das Jahr 2016 bei 45.578 Neuerscheinungen in Fachzeitschriften, die in PubMed (US National Library of Medicine/National Institutes of Health) unter Verwendung der Suchbegriffe 'sport or exercise or physical activity' gelistet sind. Dieser enorme Anstieg an Publikationen ist einerseits als Wachstumsindikator des Fachgebietes Sportwissenschaft zu werten, lässt sich aber auch als Widerspiegelung des erhöhten Wissensbedarfes bezüglich sportwissenschaftlicher Erkenntnisse in unserer Gesellschaft interpretieren.
Der Input, den Sportwissenschaft in die diversen Fachdisziplinen der Gesundheitswissenschaften wie Psychologie oder Medizin leistet, ist unverkennbar sehr hoch. Bewegungsinterventionen als Therapiebausteine zur Behandlung bzw. das Erreichen von Bewegungszielen zur Prophylaxe verschiedenster psychischer und somatischer Störungsbilder haben in jüngerer Vergangenheit derartig an Bedeutung gewonnen, dass sich kein Zweig innerhalb der Gesundheitswissenschaften bzw. kein praktisch-therapeutisches Anwendungsfeld diesen Erkenntnissen verschließen kann. Dies heißt mit anderen Worten, dass der frühere monodirektionale Zugang aus den Mutterwissenschaften, der bedeutete, dass aus dem Grundlagenfach wichtige Erkenntnisse in die Sportwissenschaft einflossen, mittlerweile einen klaren "Umkehrschub" erlebt, indem es einen starken Rückfluss von wissenschaftlichen Erkenntnissen aus der Sportwissenschaft, insbesondere in die Gesundheitswissenschaften, gibt.
Warum der Drang, sich zu beweisen, bei Sportwissenschafterinnen und Sportwissenschaftern dennoch zu beobachten ist, hat neben dem Aspekt, dass etablierte menschliche Verhaltensgewohnheiten gerne beibehalten werden, meines Erachtens vielfach damit zu tun, dass viele Forscherinnen und Forscher des Faches ihre Selbsteinschätzung und Identität vom Vergleich mit den verwandten Wissenschaftsdisziplinen (Medizin/Sportmedizin; Physik/Biomechanik etc.) abhängig machen und somit ein logischer Fehler begangen wird, da bezüglich der Reichweite der Fächer, der Geschichte und Tradition und auch der Ressourcen im Sinne der Anzahl aktiver Personen und der finanziellen Rahmenbedingungen einfach markante Unterschiede bestehen.
Mein Optimierungsvorschlag ist eine verstärkte Rückbesinnung der sportwissenschaftlichen Teildisziplinen auf das gemeinsame Ganze, nämlich 'Sportwissenschaft'. Der integrative Aspekt der Sportwissenschaft wurde bislang zwar in der universitären Lehre im Rahmen von sportwissenschaftlichen Studiengängen, nicht jedoch in der universitären Forschung ausreichend betont. Dies drückt sich insbesondere darin aus, dass die Sportwissenschaft über erstaunlich wenige Zeitschriften verfügt, die das Fach in seiner vollen Bandbreite abbilden. Da bis vor kurzem nur drei englischsprachige und in den "Citation Reports" des "Web of Science" gelistete Zeitschriften identifiziert werden konnten, die die gesamte Breite des Faches darstellen, wurde von den schweizerischen und österreichischen sportwissenschaftlichen Gesellschaften im Vorjahr ein neues Zeitschriftenformat gestartet.
Current Issues in Sport Science (CISS; http://ciss-journal.org) ist ein Online-Journal, das englischsprachig und mit einem modernen Bekenntnis zu Open Access das gesamte Spektrum der Sportwissenschaft abdeckt. Dass dieses - eigentlich vielversprechende - Projekt eher langsam auf Touren kommt, hat neben Faktoren, die in der Reichweite von Publikationen (Impact/Listing) und damit verbundenen universitären Evaluierungsstrukturen zu suchen sind, vermutlich auch mit einer reduzierten Fachidentität zu tun, die Vertreter des Faches häufig eine Anbindung in der Bezugsdisziplin oder 'Mutterwissenschaft' suchen lässt. Ein interessanter Zusatzaspekt, der eventuell damit in Beziehung steht, ist, dass die sportwissenschaftlichen Subdisziplinen bislang nicht aufgehört haben, sich über eigene Forschungsergebnisse in ihrer Existenz zu rechtfertigen, was längerfristig die Gefahr einer Stagnation birgt. Insbesondere die Wahrscheinlichkeit einer selektiert positiven Auswahl veröffentlichter Forschungsergebnisse, im Sinne eines 'Publikationsbias', ist hier zu nennen.
Da die Ergebnisse und die gesellschaftliche Anerkennung des Faches Sportwissenschaft als sehr zufriedenstellend bewertet werden können, wäre die Zeit reif für eine Abkehr von der Selbstrechtfertigung hin zu einem kritischen, einschließlich selbstkritischen, Diskurs innerhalb der sportwissenschaftlichen Fachdisziplinen mit dem Entwicklungsziel einer gemeinsamen Identität. Dieser Schritt kann jedoch nur von den Protagonisten des Faches erfolgen.