Historikerin: Häuser der Geschichte sind Seismografen der Gegenwart
Die Historikerin Heidemarie Uhl von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) ist Mitglied des internationalen wissenschaftlichen Beirates für das Haus der Geschichte Österreich (hdgö), das am 10. November eröffnet wird. Im Interview mit APA-Science reflektiert sie über Erinnerungsorte und -Räume und zieht eine Zwischenbilanz über das Gedenkjahr 1918/2018.
APA-Science: Was verstehen Sie unter Erinnerungskultur? Wann ist sie sozusagen "gelungen"?
Uhl: Gelungen ist ein schwieriges Wort. Für Historikerinnen und Historiker ist es interessant, wie Gesellschaften jeweils mit ihren Vergangenheiten umgehen. Worauf wird das Spotlight gelegt, was sind die Ereignisse, die sagen: Das ist unsere Geschichte? Was sind Ereignisse, die überhaupt nicht oder kaum ins Geschichtsbewusstsein einfließen? Das ist das Spannende. Und im zweiten Schritt ist es natürlich spannend zu sehen, welche Unterschiede es einerseits innerhalb einer Gesellschaft, aber auch in den europäischen Staaten gibt. 1918 ist da ein gutes Beispiel.
APA-Science: Welche markanten Erinnerungsorte und -räume gibt es in Österreich, und woran macht man das fest?
Uhl: Es gibt unterschiedliche Schichten: Das eine ist das offizielle Bestreben, etwas ins Zentrum zu rücken und andererseits ist es die Resonanz in der Gesellschaft. Da gibt es zum einen die Jubiläumsanlässe. Seit dem 19. Jahrhundert, dem Beginn des Zeitalters der Nationenbildung, ist die Kategorie der nationalen Geschichte dominant. Und dann gibt es die klassischen Medien des Gedächtnisses: Die Schulgeschichtsbücher, die großen Museen, die großen Denkmäler, die Straßennamen.
Es gibt natürlich auch immer wieder Interventionen, die die Orte des Gedächtnisses wieder ganz neu sortieren und die bisher kaum Diskutiertes plötzlich wieder ins Zentrum rücken. Der Klassiker ist die laufende Debatte um die Beurteilung von 1938 oder die Wehrmachtsausstellung, die ja in Deutschland und Österreich das Bild der Wehrmacht komplett verändert hat.
APA-Science: Es kommt also immer auch darauf an, wie man Erinnerungsorte interpretiert...
Uhl: Das verändert sich natürlich auch, zum Beispiel wenn man sich Mauthausen anschaut. Oder überhaupt Gedenkstätten, die haben sich im Zugang total verändert. Insofern ändern sich auch die Fixpunkte des Gedächtnisses mit jeder Generation neu. Denn der Prozess der Aneignung ist auch immer ein Prozess der Veränderung.
APA-Science: Wie am Ulrichsberg? (Das in früheren Zeiten von Tausenden Menschen besuchte als rechtsextrem eingestufte Treffen hat in den vergangenen Jahren an Bedeutung verloren, zuletzt verirrten sich noch 100 bis 200 Besucher dorthin; Anm.)
Uhl: Das Verblassen vom Ulrichsberg ist schon ein interessantes Phänomen - oder überhaupt von der Bedeutung von Kriegerdenkmälern als quasi politisch höchst umstrittene Orte, und wie das dann komplett verblasst.
APA-Science: Was darf nicht fehlen, wenn wir über Erinnerung im zeitgeschichtlichen Kontext sprechen? Da geht es ja beispielsweise nicht nur um physische Orte wie Mauthausen, sondern auch um übergreifende Themen wie die These von Österreich als erstem Opfer der NS-Aggressionspolitik.
Uhl: Natürlich, aber die manifestieren sich auch in Denkmälern. So etwas ist schon ein Indikator - wird etwas geschichtsmächtig oder nicht. Oder verliert es auch an Bedeutung. Es geht um die Kategorien einerseits dessen, was gewissermaßen als Konsens oder aus Konflikt entstandenem Konsens über die Vergangenheit jetzt zum Kanon und zum normativen offiziellen Gedenken wird.
Und es gibt andererseits das, was umstritten ist und sich vielleicht auch nie lösen lässt, wie die Frage der Beurteilung des Ständestaates oder der Ständestaat-Diktatur und es gibt drittens, und das wird manchmal übersehen, einfach die Kategorien des Verblassens. Die Denkmalkonflikte der 60er-Jahre sind eigentlich überhaupt nicht mehr präsent.
APA-Science: Was meinen Sie damit?
Uhl: Es gab um einige Denkmäler zentrale Konflikte, zum Beispiel um ein Denkmal in Maria Langeck, wo sich der Kameradschaftsbund 1963 geweigert hat an der Weihe teilzunehmen, weil dort drei im KZ ermordete Priester gewürdigt wurden. Das sind schon verschwundene Gedächtniskämpfe und das macht es spannend, wenn Dinge auch verblassen.
APA-Science: Geraten manche dieser Orte nicht nur in Vergessenheit, sondern werden - aus welchen Gründen auch immer- übersehen bzw. vom kollektiven Gedächtnis ausgeblendet?
Uhl: Vergessen werden, das ist eine Kategorie, die immer da ist. Was wird zunehmend heute vergessen? Welche Denkmäler verblassen? Sind das zum Beispiel Denkmäler für den Widerstand? Man sieht deutlich, dass die Erinnerung an den Widerstand, der nach 1945 mit vielen Aufs und Abs dann doch als Basis der 2. Republik gesehen wurde, heute zunehmend vor dem Opfergedenken verblasst.
Spannend ist, was in einer Gesellschaft neu sichtbar wird. Ein ganz gutes Beispiel sind Kriegerdenkmäler. Das war bis zur Waldheim-Debatte kaum kein Thema. Die Konfliktgeschichte der Errichtung war quasi in dieser Generation vergessen und die waren einfach wie das Marterl selbstverständliches Inventar und Folklore. Mit der Waldheimdebatte und natürlich der Wehrmachtsausstellung standen sie plötzlich im Brennpunkt des Interesses.
APA-Science: Solche Orte und Räume der Erinnerung waren bisher recht uneinheitlich verstreut, jetzt kommt dieser zentrale Erinnerungsort mit dem hdgö. Was erwarten Sie sich davon, wie wird das angenommen werden?
Uhl: Was ich mir erwarte ist die Funktion, die diese Häuser der Geschichte in ganz Europa gewonnen haben in den letzten 20 Jahren. Das ist ja auch ein neues Format. Nämlich ein Format das ganz bewusst die Tradition des Nationalmuseums im Sinn von historisches Museum der Nation anders interpretiert. Was diese Orte sein können und selbstverständlich auch sind, ist so etwas wie ein Seismograf der jeweiligen Gegenwart: Die Themen, die hier aufgegriffen werden; wie wird etwas dargestellt, welche Perspektiven werden entwickelt. Das lässt sich wirklich an diesen Museen ablesen.
Einerseits sind das Orte, wo Geschichte immer ganz aktuell ausverhandelt wird. Es handelt sich ja um Zeitgeschichte mit ihren heißen Themen. Und andererseits sind es auch Orte, die zeigen, wie eine Gesellschaft gewissermaßen zu einem bestimmten Zeitpunkt tickt. Und es zeigt sich, dass solche Museen immer auch eine Charta einer liberalen demokratischen Gesellschaft sind, wo es eine offene Auseinandersetzung mit konfliktreichen Phasen der Vergangenheit gibt, die einfach diese Offenheit auch zeigen. In vielen Ländern funktioniert das dann ja nicht.
APA-Science: Das hdgö hat ja eine sehr lange Vorgeschichte. Welche inhaltlichen Debatten sind für sie dabei hervorgestochen?
Uhl: Das Interessante ist sicher, wie lange man sich in Österreich nicht auf so ein Projekt einigen konnte. Man sieht, Museen sind viel umstritten. Das hat man auch beim Deutschen Historischen Museum in Berlin gesehen, das war eine ungeheuer konfliktreiche Entstehungsgeschichte.
Und was wichtig ist und mir aufgefallen ist: Das hdgö hat schon eine Chance, das ist die Chance der späten Geburt. Heute stellt man nicht mehr so aus wie vor 20 Jahren. Der Ansatz ist viel stärker weg von der reinen Chronologie, auch viel stärker weg von einer rein nationalen Geschichte. Natürlich muss man Nationalgeschichte ausstellen, das ist ja auch der Auftrag, aber immer in einem transnationalen Kontext.
Das dritte ist: Heutiges Ausstellen ist reflexiv Ausstellen. Also nicht mehr so quasi "Das ist die Geschichte und jetzt eignet euch das gefälligst an", sondern immer zu sagen: "Das ist eine Ausstellung über Geschichte". Und das haben die Kuratorinnen und Kuratoren gemacht, darüber kann man auch kritisch reflektieren. Das wird sicher der Fall sein.
APA-Science: Wie wird es nach der Eröffnungsausstellung mit dem hdgö weitergehen?
Uhl: Ich würde mir wünschen, dass das hdgö im europäischen Standard mitspielt. Dass es nicht etwas ist, wo man sagen muss: "Wasch mich, aber mach mich nicht nass." Es soll ein Haus werden, das in der Liga der europäischen Häuser der Geschichte - von der Dotation her und der Ausstellungsfläche - mitspielen kann und muss.
Im internationalen Beirat sind die großen Häuser vertreten, und jetzt auch im wissenschaftlichen Beirat, der ja neu besetzt wurde. Es geht darum, dass Österreich auch im Sinne eines europäischen Kommunikationsraums in diesem Netzwerk von Häusern der Geschichte gut vertreten ist.
APA-Science: Gibt es da auch schon konkrete Vernetzungstendenzen?
Uhl: Es gibt schon gute Vernetzungen und angedachte Kooperationen zum Beispiel mit dem Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn. Das hat ja auch Dependancen in Berlin und Leipzig, und da gibt es schon Überlegungen, etwas gemeinsam zu machen. Diese internationale Vernetzung und natürlich auch die Vernetzung in die Bundesländer ist ganz wichtig.
APA-Science: Was macht das Gedenkjahr 2018 so speziell? Wie fällt ihre Zwischenbilanz aus?
Uhl: Was das Gedenkjahr speziell macht ist, dass man den Wert des Jahres 1918 einfach neu schätzen lernt. Gerade weil dieses Gedenkjahr zum ersten Mal auch im europäischen Kontext wahrgenommen wird. Also, dass da wirklich ein glücklicher Moment, eine praktisch unblutige parlamentarische Revolution gelungen ist. Gerade wenn man nach Ungarn oder Deutschland schaut, da hat es gewaltsame Auseinandersetzungen gegeben.
Es wird in diesen Ländern das Jahr 1918 auch nicht so begangen wie in Österreich, weil eben die Republikgründung keine so eine stabile Struktur hatte, wie sie in Österreich gelungen ist. Das Neue ist, dass vor allem die Demokratie im Vordergrund steht, und nicht mehr nur dieses patriotische "Hier wurde Österreich begründet". Das hat außerdem mit Europäisierung zu tun. In Zeiten ihrer Gefährdung ist die Wertschätzung der Demokratie und dessen was 1918 gelungen ist, eine starke und zum ersten Mal so richtig der Fall. Gerade in diesem Rahmen ist zu sehen, wie die Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust zum Grundinventar des österreichischen Gedächtnisses geworden ist.
ZUR PERSON:
Heidemarie Uhl ist Historikerin am IKT Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte an der ÖAW in Wien und Lehrbeauftragte an den Universitäten Wien und Graz. Gastprofessuren hatte sie an der Hebrew University Jerusalem, der Universität Strasbourg, der AUB Andrassy University Budapest und an der Stanford University. Sie ist u.a. Mitglied der Austrian Delegation to the IHRA International Holocaust Remembrance Alliance und Mitglied (stv. Vorsitzende) des Internationalen wissenschaftlichen Beirats des Hauses der Geschichte Österreich, stv. Vorsitzende der Militärhistorischen Denkmalkommission am Verteidigungsministerium, Vorsitzende des Beirats zur Errichtung von Gedenk- und Erinnerungszeichen der Stadt Wien (MA 7) und Mitglied der Fachkommission der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Memory Studies - Gedächtniskultur und Geschichtspolitik mit Schwerpunkt Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg, Holocaust; Österreichische Zeitgeschichte im europäischen Kontext sowie Kultur und Identität in Zentraleuropa um 1900.
(Das Gespräch führte Mario Wasserfaller / APA-Science)