1918/2018: 100 x Österreich: A wie Ambivalenz bis Z wie Zukunftsangst
Von A wie Ambivalenz bis Z wie Zukunftsangst reicht das Themenspektrum eines über 400-seitigen Essaybands, den das Haus der Geschichte Österreich (hdgö) wenige Wochen vor der Eröffnung unter dem Titel "100 x Österreich" vorlegt. Zu Wort kommen Autoren wie Historiker, zwischen A und Z finden sich Themen wie Eurofighter und Fristenregelung, Kasnudel und Proporz oder Stammtisch und Waldheimat.
So widmet sich etwa die Schriftstellerin Bettina Balaka dem "Frauen(wahl)recht", während Maja Haderlap sich dem Thema "Grenze" annähert. Paulus Hochgatterer schreibt über "Heimkinder", Andrea Grill über "Kaffee". Anna Kim sinniert über das "Sternsingen", Sophie Reyer über das "Vergessen". "Wien um 1900" beschreibt Wolfgang Maderthaner, Anna Weidenholzer widmet sich den "Wunschkennzeichen". Und so entsteht ein trotz seiner Fülle sehr kurzweilige, oft nachdenkliches, zuweilen auch humorvolles Österreich-Bild zum anstehenden Republiksjubiläum.
"Der Burgenländer ist der Ostfriese Österreichs", stellt der aus dem östlichsten Bundesland stammende Autor Clemens Berger fest und rekapituliert in wenigen Worten die Entwicklung des Landes vom "Armenhaus Österreichs" zur florierenden Weinregion. Bei allen wiedergegebenen Burgenländerwitzen ist es jedoch der Ernst, der aus Bergers Worten spricht: "Ein etwas anderer Burgenländerwitz wäre: Welche Sprache beherrscht der Burgenländer am besten? Die einen sprechen Deutsch, die anderen Ungarisch, wieder andere Kroatisch, manche Romanes, aber niemand mehr Jiddisch."
Essay über Conchitas Rolle
Auch Conchita findet Eingang in "100 x Österreich": Katharina Wiedlack widmet sich der österreichischen Drag-Diva in Verbindung mit "Europas Bekenntnis zu Fortschritt und Demokratie": "Eine Interpretation, der die zunehmende Rechtsdrift in zahlreichen, besonders westeuropäischen Nationen stark widerspricht." Verhandelt wird auch Conchitas Stellung als "Botschafterin" der weltweiten LGBTIQ-Community, aber auch deren "Vereinnahmung durch den österreichischen Kapitalismus", was Conchitas Werbeauftritte für die Bank Austria zeigen würden. "Unter dem Titel 'Wo ich einkaufe, ist mir nicht Wurst' stand ihr bärtiges Antlitz nun nicht mehr für Toleranz für LGBTIQs, sondern für die Stärkung der lokalen Wirtschaft und Konsum", so Wiedlack.
Eva Blimlinger, Rektorin der Akademie der Bildenden Künste und stellvertretende Vorsitzende des Kunstrückgabebeirats, widmet sich in ihrem Essay "Die goldene Adele und der Durchlauferhitzer" dem langen Prozess Österreichs, von den Nationalsozialisten geraubte Kunstgegenstände ihren rechtmäßigen Besitzern bzw. deren Erben zurückzugeben. Nach einem Rückblick auf die sehr schleppenden, bürokratischen Anfänge nach 1945 führt sie weiter bis zur Einsetzung der Historikerkommission im Jahr 1998. Den größten Raum nimmt in dem Essay der "Fall der Fälle" - die Restitution von Klimts "Adele Bloch-Bauer I" - ein, zugleich verweist Blimlinger auf all jene Fälle, die fernab der Öffentlichkeit über die Bühne gingen.
Blicke in Vergangenheit und Zukunft
hdgö-Direktorin Monika Sommer blickt in ihrem Vorwort auf ihre eigenen Annäherungen an das Projekt "Haus der Geschichte" zurück und erinnert sich an den 1. März 1998, als sie im Zuge eines Aufnahmegesprächs für die Ausbildung zur "KuratorIn im Museums- und Ausstellungswesen" mit einem Plädoyer für die Verbindung des (damals geplanten) Museums im Internet und des realen Museums im Palais Epstein überzeugte. Weitere Erinnerungen führen sie zu ihrem ersten Arbeitstag als hdgö-Direktorin und der Präsentation der Soundinstallation am Heldenplatz anlässlich von 80 Jahren "Anschluss". Sie schließt mit einem Blick in die Zukunft, in dem sie sich erneut klar positioniert: "Und wer weiß, vielleicht bekennt sich die Politik ja zu ihrem Haus der Geschichte Österreich und schenkt sich anlässlich des Jubiläums der Ausrufung der Republik vor hundert Jahren einen Neubau in zentraler Lage? Das Land hätte es sich verdient."
Kulturminister Gernot Blümel (ÖVP) bezieht sich in seinem Vorwort allerdings nicht auf das hdgö, sondern würdigt "die besondere Stellung (des Bandes) im Reigen der zahlreichen Veröffentlichungen zum Jubiläum des 'Staates, den keiner wollte'". Der 100. Geburtstag der Republik werde "mit vielen Veranstaltungen, Ausstellungen und Publikationen" gefeiert. Weiters freut sich der Minister, dass dieser ungewollte Staat mittlerweile EU-Mitglied ist und gerade rechtzeitig zum Republiksjubiläum bereits zum dritten Mal den Vorsitz im EU-Rat übernommen hat. "Die Bewusstmachung und Bewussthaltung jener immer wieder auftauchenden Gefahren für Demokratie und Rechtsstaat sind unerlässlich für den erfolgreichen Aufbruch Österreichs in das zweite Jahrhundert seines Bestehens." Für den vorliegenden Band hätte er sich ein 101. Kapitel mit dem Titel "Zukunftshoffnung" gewünscht.
Service: "100 x Österreich. Neue Essays aus Literatur und Wissenschaft", herausgegeben von Monika Sommer, Heidemarie Uhl und Klaus Zeyringer. Kremayr & Scheriau, 424 Seiten, 29,90 Euro.