"Von Geschichte lernen, über Geschichte streiten"
Wie können wir von Geschichte lernen? Bis in die Aufklärung hinein lautete die Antwort auf diese Frage für gewöhnlich: durch lehrreiche Beispiele. Unter dem Schlagwort >historia magistra vitae< - Geschichte ist die Lehrmeisterin des Lebens - wurde die Vergangenheit als eine Art Fundgrube von beispielhaften Konflikt- und Entscheidungssituationen behandelt, deren Lehren sich relativ unproblematisch auf vergleichbare Situationen in der Gegenwart übertragen ließen. Es galt, die erfolgreichen Handlungen und Strategien vergangener Akteure zu imitieren, und ihre Fehler zu vermeiden.
Mit der zunehmenden Professionalisierung der Geschichtswissenschaften im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert geriet die Konzeption von Geschichte als einem Sammelsurium von Lehrbeispielen mehr und mehr in Zweifel. Dies schlug sich natürlich auch in der philosophischen Diskussion darüber, wie wir von Geschichte lernen können, nieder.
Wenn etwa Hegel lakonisch meint, dass die Geschichte lediglich lehre, dass "Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt" haben, dann spricht er damit nicht einfach eine pessimistische Einschätzung der menschlichen Lernfähigkeit aus. Hegel stellt vielmehr die Grundvoraussetzungen des Modells "exemplarischer Geschichte" in Frage: Wo wir die Vergangenheit als Vorbild oder abschreckendes Beispiel benutzen, gehen wir implizit davon aus, dass die Handlungsbedingungen in der Gegenwart jenen der Vergangenheit ausreichend ähnlich sind, um eine Übertragung von Gestern auf Heute zu ermöglichen. Geschichte bedeutet aber gerade einen umfassenden Veränderungsprozess, in der sich nicht nur einzelne Handlungsweisen, sondern die Handlungsbedingungen selbst verändern können.
Hegel selbst hat die Menschheitsgeschichte bekannterweise zu einem universalen Lern- und Fortschrittsprozess stilisiert, in dem sich die Vernunft und die Freiheit schrittweise selbst verwirklichen. Dieser umfassende Fortschrittsoptimismus wurde durch die Erfahrungen des ersten Weltkrieges und des Nationalsozialismus grundlegend in Frage gestellt. Aber auch die Tatsache, dass der europäische Kolonialismus stets unter Verweis auf "zivilisatorischen Fortschritt" legitimiert wurde, lässt den Fortschrittsbegriff problematisch erscheinen.
Aber welche Modelle des Lernens von Geschichte stehen uns zur Verfügung, wenn wir umfassenden Fortschrittsnarrativen kritisch gegenüberstehen, aber auch nicht in die naive Verwendung von Einzelbeispielen zurückfallen wollen?
Als Einstiegspunkt bietet sich die Frage an, wie Erinnerung, Erzählung, und Identität miteinander zusammenhängen. Schon für unsere ganz persönliche, individuelle Erinnerung gilt, dass sie nicht nur einzelne und voneinander isolierte Ereignisse aus der Vergangenheit festhält. In unseren Praxen und Ritualen der Erinnerung nutzen wir das Mittel der Erzählung, um die Ereignisse unseres Lebens in umfassende Zusammenhänge von Vorher und Nachher, Ursache und Wirkung, Bedingung und Bedingtes einzuordnen. Manche Ereignisse schätzen wir dabei als besonders bedeutend für unsere persönliche Entwicklung ein. Wir heben prägende Erfahrungen, Kumulations- und Wendepunkte heraus, und behandeln weniger wichtige Situationen als bloßen Hintergrund oder Ornament. Indem wir strukturierte Geschichten über unsere Vergangenheit erzählen, werden wir uns auch darüber klar, wer wir heute sind. Und mitunter geraten wir in Konflikte, wenn wir unliebsame Details, die mit unserem gegenwärtigen Selbstbild nicht zusammenpassen, lieber unterschlagen würden.
Auch wenn es um Erinnerung im kollektiven und gesellschaftlichen Sinn geht, ist die Erzählung von Geschichte stets mit einem Prozess der Erzeugung von Identität verbunden. In pluralistischen Gesellschaften begegnen wir dabei einem vielfältigen Angebot von Geschichtsdeutungen und -erzählungen. Unterschiedliche gesellschaftliche und politische Gruppen formieren sich unter anderem über die Erzählungen, mit denen sie sich und andere historisch verorten. Pluralität bedeutet dabei auch Konflikt: Unterschiedliche Erzählungen gehen mit unterschiedlichen Schlüsselerlebnissen und unterschiedlichen Urteilen darüber, was als relevant und was als irrelevant zu gelten hat, einher. Unterschiedliche Geschichten identifizieren unterschiedliche Traditionen, Kontinuitäten und Bruchlinien.
Zwar sind die Geschichtswissenschaften zu strengen Kriterien von Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit verpflichtet, sie bleiben von den politischen Konflikten um historische Erzählungen aber nicht völlig unberührt. Auch dort, wo es einen unleugbaren Bestand historischer Tatsachen gibt, die nicht in Frage gestellt werden können, bleibt doch die Deutung dieser Tatsachen in sinnvollen Erzählungen ein offener, gegenwartsbezogener und damit auch politischer Prozess. Gerade weil Erzählungen über Geschichte eine zentrale Rolle bei der Herstellung unserer persönlichen, gesellschaftlichen, politischen, und nationalen Identität spielen, bleiben sie umstritten.
Die Einsicht in den Zusammenhang von Erzählung, Identität und Geschichte, hilft uns, die Probleme von exemplarischer Geschichte und Fortschrittsgeschichte noch etwas genauer zu fassen, und dadurch alternative Konzepte des Lernens von Geschichte zu entwickeln.
Das Problem der "exemplarischen Geschichte" ist nicht nur die naive Vorstellung, dass sich Geschichte wiederholt. Ein grundlegenderer Fehler besteht darin, dass sie sich isolierter Einzelbeispiele aus der Vergangenheit bedient. Damit bleiben die Zusammenhänge, die historische Ereignisse miteinander verbinden, unsichtbar. Geschichte wird mit Vergangenheit gleichgesetzt, sodass die historischen Prozesse, die von der Vergangenheit in die Gegenwart führen, gar nicht zum Thema werden können.
Wenn wir aber Zusammenhänge und dynamische Entwicklungen in den Blick nehmen, statt uns auf isolierte Einzelereignisse zu beschränken, dann können wir die Gegenwart als ein Produkt der historischen Entwicklung verstehen. Und wenn wir Geschichte nicht als abgeschlossene, tote Vergangenheit betrachten, sondern als einen Prozess, an dessen Gestaltung wir in der Gegenwart aktiv Teil haben, dann ist es auch leichter, aus dieser Entwicklung gegenwartsrelevante Schlüsse zu ziehen. Eine Erzählung, die Vergangenheit und Gegenwart miteinander sinnvoll verbindet, ist eher dazu in der Lage, einen Orientierungsleitfaden für die Zukunft an die Hand zu geben, als ein isoliertes Beispiel.
Gleichzeitig kann die Auseinandersetzung um Vergangenheit aber nicht stillgestellt und auf eine letztgültige Erzählung festgelegt werden: Die Frage nach Kontinuitäten und Brüchen ist ebenso Gegenstand fortlaufender politischer Auseinandersetzungen, wie die Frage, was wir in unsere gegenwärtige Identität als positive und negative Bezugspunkte aufnehmen wollen und müssen.
Ein zentrales Problem des Fortschrittskonzeptes besteht darin, dass durch die Annahme einer vorgegebenen "Richtung" des historischen Prozesses die Gegenwart aus der politischen Verantwortung genommen wird. Einerseits wird unterschlagen, dass historische Errungenschaften umkämpft bleiben. Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte, aber auch Arbeitsrechte und die Rechte von Frauen können, einmal erreicht, auch wieder zurückgenommen werden. Andererseits lenkt die unreflektierte Rede vom Fortschritt davon ab, dass es eines normativen Standpunktes bedarf, um bestimmte Entwicklungen überhaupt als "Errungenschaften" und "Fortschritte" auszeichnen zu können. Gerade weil die Deutung von Geschichte immer umkämpft ist, kann von Geschichte zu lernen nicht bedeuten, die Verantwortung über gegenwärtige politisch-normative Entscheidungen auf die Vergangenheit abzuwälzen.
Dass sich das "Haus der Geschichte Österreich" als Diskussionsforum versteht, das sich nicht mit der toten Vergangenheit, sondern mit der lebendigen Geschichte befasst, ist folgerichtig. Das Haus stellt sich die Aufgabe "gegenwartsrelevante Fragen an die Vergangenheit" zu stellen, und zwar so, dass nicht nur die Ereignisse der jüngeren Vergangenheit Österreichs seit 1918, sondern auch Deutungskonflikte über die österreichische Geschichte selbst zum Thema gemacht werden.
Anlässe für "gegenwartsrelevante Fragen" an die Geschichte gibt es derzeit genug. Das Wiedererstarken von Nationalismus und Rechtsextremismus in Europa, der (scheinbare) Erfolg autoritärer Staatsprojekte, oder die zunehmende Verschärfung gesellschaftlicher und ökonomischer Konflikte sind allesamt Themen, die sich für die Befragung von historischen Kontinuitäten, Umbrüchen und Entwicklungslinien anbieten.
Ob es gelingt, österreichische Zeitgeschichte so zu erzählen, dass Zusammenhänge mit gegenwärtigen globalen politischen Entwicklungen sichtbar werden, hängt letztlich auch davon ab, wie gut der Balanceakt, den das "Haus für Geschichte" anstrebt, eingelöst werden kann: So muss eine Pluralität von Erzählungen und der gelebte Konflikt um Vergangenheit zugelassen, zugleich aber ein klarer demokratischer Standpunkt in der Gegenwart bezogen werden.